„Annika?“, wagte ich es erneut, bis ich das Atmen in dem Hörer wahrnahm. „Bist du da?“ Natürlich war sie noch dran, sonst hätte man das typische Laut vernehmen können, wenn einer auflegte. Sie verstummte nur, wusste wohl nicht, wie sie antworten sollte. Auf die direkte Tour funktionierte es nie bei ihr. Also holte ich tief Luft, signalisierte ihr damit, dass ich mich nicht aufregte und ihr Zeit gab, sich zu erklären.
„Wie geht´s dir?“ Eine wirklich dämlichere Frage konnte mir auch nicht einfallen. Ich hatte einen harten Morgen hinter mir und fragte meine Freundin, wie es ihr ging. Eigentlich sollte sie mich nach meinem Befinden fragen.
„Gut, es ist nur…“, sie rang nach Worten. „Ich muss für ne Weile weg.“ Ich lauschte dem Klang, doch vernahm weder Trauer noch Angst. Eher Wut. Doch auf was war sie wütend.
„Ja das habe ich gesehen. Beziehungsweise gelesen.“ Immer noch versuchte ich, die beiden Sätze zu enträtseln.
Muss schnell weg, dauert eine Weile.
Warte nicht auf mich.
„Ja, das dauert eine Weile.“
„Ja, das habe ich auch vernommen“, zog ich die Worte absichtlich in die Länge, um ihr mehr Zeit zu geben? Doch eine Erklärung blieb aus. Mehrere Minuten schwiegen wir uns an, bis ich wieder das Wort ergriff. „Warum?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“ Der bestimmte Tonfall überraschte mich. Sie machte einen auf dickköpfig. Erneutes fragen würde mir nichts bringen. „Okay, aber kannst du mir wenigstens sagen wohin? Oder für wie lange? Ich mache mir Sorgen und...“
Annika keuchte wild, schrie einmal kurz auf und ich umklammerte das Handy und schüttelte es, als würde ihr ihre Schultern berühren. „Alles okay?“, rief ich. Doch mehrere Sekunden herrschte Stille.
Dann klopfte es seltsamerweise am anderen Ende, als würde eine Tür aufgemacht werden. Wo war sie nur?
„Ja, alles safe“, flüsterte sie in den Hörer. „Ich muss Schluss machen.“
„Mit mir?“ Mein Herz setzte aus.
„Keine Diskussionen!“ Dann keuchte sie erneut. „Bis dann!“ Sie hatte aufgelegt.
Und ich? Lag mehrere Minuten stumm auf meinem Bett und wartete. Starrte auf die Decke oder das schwarze Display. Doch weder eine Nachricht noch ein Anruf noch irgendein Lebenszeichen von ihr. Fieberhaft überlegte ich, was sein könnte. Ihre Eltern lebten in Bayern, in irgendeinem kleinen Kaff, das ich nicht kannte. Ich kannte ihre Mutter nicht, ihren Vater ebenso wenig und ihre Geschwister…hatte sie überhaupt Geschwister?
Müde rieb ich mir übers Gesicht, trat benommen in die Dusche und stellte das Wasser auf heiß. Denken, ich musste denken!
Ich wusste, Annika hatte Stress auf der Arbeit. Als Managerin war sie oft in Deutschland unterwegs, während ich noch Maschinenbau studierte. Doch die kommende Woche hatte sie Urlaub. Das konnte ich mit Sicherheit sagen. Sie hatte weder richtige Arbeitskollegen noch direkte Vorgesetzte. Moment, war sie überhaupt Managerin?
Mit ein wenig zu viel Schwung kam meine heiße Stirn auf die kalten Fliesen auf, doch der Schmerz tat gut. Er betäubte den Wirbelsturm, der sich in mir auftat. Was hatte Anni nur, dass sie mir nicht sagen konnte, was los war? Schließlich waren die letzten drei Jahre ohne irgendwelche Vorfälle gewesen. Vor allem ohne Geheimnisse. Sicher, eine Freundin wusste nicht jedes Detail über das Männerleben. Aber wieso sollte sie mich anlügen?
Doch egal wie ich es drehte und wendete, ich kam nur zu einem Schluss. In dem Telefonat war sie verfolgt worden. Oder hatte sich versteckt, oder irgendetwas anderes. Fast, als müsste sie für kurze Zeit untertauchen. Das Bild der Mafiabosse kam mir in den Sinn und ich schüttelte den Kopf, nahm die Shampooflasche und rieb mir den Kopf ein. Selbst die Massage hielt meine stechenden Kopfschmerzen nicht mehr zurück.
Meine Naivität spielte mir vor, dass sie einen Grund hatte, den ich noch nicht kannte. Alles würde sich irgendwann erklären und wir würden gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten.
Bullshit!
Mein Verstand war wirklich ausgeknockt, während der Magen langsam immer lauter knurrte.
Ich steckte mir die nassen Haare hoch, zog saubere und lockere Kleidung an und fühlte mich so mies wie das Wetter draußen. Völlig neben der Spur grabschte ich nach der Tüte, riss sie ohne jegliches Mitgefühl auf. Die Brötchen landeten mit Schwung auf dem Teller, während ich im Kühlschrank nach Butter suchte. Nein, sie war leer. Auch keine Marmelade oder sonstigen Aufstriche. Ich fand nur deftige Leberwurst, die Annika liebte. Annika.
Tief atmete ich ein, nahm die halboffene Packung raus und roch daran. Der stechende Geruch ließ mich husten, bis ich mit langgestrecktem Arm auf die trockenen Brötchen und der Packung abwechselnd hin und her schaute.
Was solls..
Fünfzehn Minuten später biss ich in das leicht bestriche Brötchen. Es dauerte eine Weile, bis meine Geschmackknospen sich auf den eigenen Geschmack von grober Leberwurst eingestellt hatten. Umso mehr hatte ich Zeit, die Glasfronst draußen zu beobachten. Die Welt ging draußen unter, so sehr prasselte der Starkregen gegen das Glas. Meine Augen fokussierten sich auf einzelne Tröpfchen, dahinter, nur verschwommen, wurde der Himmel immer dunkler, bis sich meine Gedanken allmählich wieder leerten. Oder zu voll waren, um neue hereinzulassen.
Mein Magen knurrte und doch legte ich das Essen beiseite. Der Appetit war mir vergangen.
Stunden saß ich noch stumm auf dem Stuhl und betrachtete den Regen draußen, die aufkommende Sonne und wieder die Regenwolken und wie beides gegeneinander kämpfte. Hin und wieder holte ich Wasser, schob an meinem neben mir liegenden Handys einige Kurzvideos hin und her und sah sie mir an. Doch weder Katzenbabys noch Videos, die mit einem „THE GREATEST FAIL OF THE WEEK“ betitelt waren, verhalfen mir, meine Stimmung zu heben. Schließlich dachte ich schon, mein Kopf fiel vornüber, als das Vibrieren mich aus der Trance riss. Ohne zu sehen, wer dran war, riss ich es an mich.
„Annika?“ Der Stuhl fiel hinter mir zu Boden, während mein Herz erneut einen Sprung machte.
„Nee, Rambo...“, sagte eine tiefe Stimme. Enttäuschung, wie ich sie noch nie erlebt hatte, füllte mich augenblicklich aus.
„Was?“, schnauzte ich.
„Sorry man, dachte ich ruf dich mal an und frag nach. Immerhin war doch der Autounfall heute? Das war bei dir. Wollt´ nur mal klar stellen, ob bei dir alles lotti karotti ist.“ Er schien die Hände in die Höhe zu nehmen und auf Verteidigung zu gehen. Doch Rambo wäre wirklich nicht Rambo, würde er mir meine Ruhe lassen. Doch wer sagte, dass ich die auch jetzt nötig hatte.
„Und Anni ist nicht bei mir.“
„Ich würde dir auch den Hals umdrehen, wenn sie es wäre.“
Ohne meine Warnung ernst zu nehmen, lachte Rambo laut auf. „Cool, wir sehen uns in ´ner Stunde im Gym. Bis bald. Und nimm deine Sportsachen mit!“