„Hey, aufwachen!“ Ein Tritt in die Seite beförderte mich von dem Dämmerschlaf in die Wirklichkeit. Der Schmerz entfachte meine Nerven, sodass ich mich aufrappelte und müde durch zusammengekniffene Augen das Tageslicht entdeckte. Über mir hielten sich zwei Sonnenbrillenträger die Strahlen der Sonne vom Leib, während ich den Knaben über mir erkannte und neben mir Siggi stand. Augenblicklich fuhr ich herum und nahm Abstand, während ich stöhnend meine müden Knochen anschrie, endlich wach zu werden. Auf eine Tortour wie letzte Nacht hatte ich keine Lust.
Neben mir hielt sich Vaya still im Hintergrund. Ich verstand es, also nahm ich ihr ihre Stille nicht übel. Sie hatte so oder so mit weiterem noch genug zu kämpfen, da wäre ich ihr mit dem Problem der beiden Topasnutzer nur ein Dorn im Auge.
„Ich steh ja schon auf, aber halte mir den Typen vom Hals“, murmelte ich und unterdrückte ein Gähnen, während ich auf Siggi zeigte. Dieser gluckste zufrieden und knackte mit den Fingerknöcheln.
„Ich bin dein Teufel!“
Deiner Anzahl an Nerven im Gehirn gleicht der Vielfalt an Bäumen in der Wüste. Komm mir einmal zu nahe und ich zeige dir, wie teuflisch ich sein kann.
Ich unterdrückte den Drang, ihm dieser Aussage an den Kopf zu werfen. Vermutlich verstand er sie genausowenig.
„Komm mit!“
Überraschenderweise wurden mir keine Fesseln angelegt. Voraus lief Fahid, der pfeifend aus der Halle trat. Einen Blick über meine Schultern und ich erkannte die Braunhaarige in der Ecke ihrer Zelle zusammengesunken. Sie wagte es, den Kopf zu heben. Das Gold starrte glanzlos zu mir, während sich das hässliche Schwefelgelb in den Vordergrund drang. Betrübt und vollkommen fertig verkroch sie sich tiefer in die Schatten, während Siggi mich berührte und nach vorn schubste. Fast fiel ich hin und dachte, wieder schlafen zu müssen, doch dies blieb mir offenbar erspart.
„Wo bringt ihr mich hin?“
Diese Frage wurde unbeantwortet gelassen.
Hinter der Ruine, die sich als Gefängnis oder Zellentrakt entpuppte, standen willkürlich Bäume unterschiedlicher Art stramm im Boden. Einige dicke Tannen neben dünnen Pappeln und Weiden, die sich über einen Fluss gebogen hatten, sprühten den Frieden aus, den nur eine Morgensonne über dem Wald ausstrahlen konnte. Vögel zwitscherten angenehm umher und trällerten ihr Lied, während der Trampelpfad einige hundert Meter weiter mich an den Fluss vorbei über eine einfache Holzbrücke zu einem kleinen Dorf geleitete.
Siggi brummte hinter mir etwas und zupfte an einem herunterhängenden Ast zwei Blätter ab. Er zerrieb sich in der bloßen Faust, warum auch immer, während Fahid am Ende der Brücke stehen blieb und den Arm ausstreckte.
„Willkommen bei der Revolte.“ Sein freundlicher Ton schien gespielt, doch mit zusammengebissenem Kiefer sah er mich durch die Brillengläser an. Die Augen leicht geweitet und die Augenbrauen in der Höhe, verlangte er wohl von mir ebenfalls aufgezwungene Manieren, doch ich sah ihn stumm an und grinste überheblich.
„Hast du einen Anschiss bekommen oder wieso bist du plötzlich so scheißfreundlich?“ Fahid mahlte mit den Zähnen, winkte ab und führte mich durch die provisorische Zeltstadt.
Wie in einem Kriegsheer ging es drunter und drüber. Hier und da rannten unterschiedliche Menschen umher, die sich wohl willkürlich zusammengetan hatten. Ich konnte die Anzahl der Personen nicht schätzen, die an uns sowohl interessiert als auch neugierig, aber auch desinteressiert und in Gedanken gesunken vorbeimarschierten. Wohl dachten sie, ich bin ein Überläufer und brachten mich, wohin sie einen auch immer brachten, wenn ein Neuankömmling im Lager war.
Die Zelte waren überirdische Tippis, aber auch rechteckige Bauten, die stabil in unterschiedlichen Größen zunächst um eine Feuerstelle herum, und schließlich dahinter willkürlich ausgebaut worden waren. Als hätte ein Kind spontan Bauklötze zusammen und auseinandergesteckt und daraus Häuser gebaut, sah man vereinzelt Holzbauten, die ein wenig schlecht als recht, mein Handwerkerherz zum Weinen brachten. Nicht einmal Annika hätte das zu Stande gebracht. Annika.
In eines dieser kreativ erbauten Holzhäuser wurde ich hineingebeten. Wie ich gedacht hatte, führte ein Gang zu einigen Zimmern, während der Wohnbereich offen zusammen mit der Küchenzeile eine eigene gesamte Wohnung darstellte.
„Du bist ab jetzt unser Gast im Tal. Heute Abend kommt unser Boss vorbei und unterhält sich mit dir. Fliehst du, finden wir dich und das ganze fängt von vorn an.“ Fahid wollte gerade gehen, als ich ihn an der Schulter packte.
„Wo ist James?“ Ich ahnte nichts gutes, als das Lächeln des Knaben ebenso überheblich wurde wie meines zuvor.
„Er ist in unserer Obhut. Das braucht dich nicht zu kümmern.“
Meine Kehle wurde trocken und mein Magen rumorte wie Kräuter in einem Mörser. „Geht´s ihm gut?“
„Er lebt noch.“ Dann schlug man mir die Tür vor der Nase zu, drehte das Schloss um und ließ mich allein.
Bevor ich an irgendetwas dachte wie Flucht, duschte ich ausgiebig. Nicht so modern wie meine eigene in meiner Wohnung, aber dennoch ausreichend wusch ich den Dreck von der Haut, rubbelte die wunden Stellen mit einer Salbe ein, die man mir hingestellt hatte und goss mir warmes Wasser in eine Tasse. Provisorischen Kaffee fand ich in einem Küchenschrank und frische Zitronen lagen daneben. Als ich die Packung des Instantkaffees las, kam mir fast das Getränk wieder hoch.
„Wie bin ich in Kanada gelandet?“
Am Abend saß ich mit einem englischen Buch über die kanadische Historie auf dem Sessel entgegen Blickrichtung Tür und wartete ab, bis mein Besuch kam. Ich fühlte mich ausgeruht, erfrischt und wappnete mich gegen die Person, während ich den Kaffee schlürfte und friedvoll die Zeilen las.
Das Schloss knackte, eine Person trat ein. Hinter dem Rücken hörte leise Schritte, doch kein Laut entwich ihr.
Doch ich wusste, wer hinter mir auf meine Reaktion wartete.
Mit eine Elends Geduld nahm ich noch einen Schluck aus der Tasse, legte das Buch zur Seite und stand auf. Ohne mich umzudrehen, nahm ich die freie Hand in meine Hosentasche. Schließlich fand ich meine Manieren wieder, drehte mich um und lächelte freundlich.
„Schön dich zu sehen, Annika.“