Nach dem Unterricht brachte Elio mich zu Rosi. Ich versuchte mir die Strecke so genau wie es ging einzuprägen, aber nach der dritten Wendeltreppe hatte ich wieder komplett die Orientierung verloren. Wahrscheinlich würde ich bis an mein Lebensende immer hinter Elio herlaufen können. Doch plötzlich waren wir wieder in einem mir bekannten Gang. Ich glaube, dass am Ende dieses Ganges Rosies Zimmer sein müsste. Und ich hatte recht. Gleich darauf klopfte Elio an die dunkle Holztüre von Rosies Zimmer. Ich betrachtete die dunkle Holztüre. Erst jetzt fielen mir die vielen Schnitzereien in der dunklen Tür auf. Das passte so gut zu Rosi!
„Kommt doch bitte einfach rein ihr Lieben", hörten wir gleich darauf Rosies warme Stimme. Elio öffnete die Türe.
„Ach ihr seid es“, sagte Rosi und kam zwischen den Kleiderständern hervor. Auf dem Arm hatte sie einen ganzen Stapel Kleider. Da fiel ihr Blick auf meinen Rock.
„Ach, Gütiger Gott, Saskia! Was ist den mit deinem Rock passiert, Schätzchen?", fragte die rundliche Elfe entsetzt. Ich sah an mir herab. Auweia! Der Riss und die vielen Flecken waren mir gar nicht aufgefallen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal nicht unbedingt einen weißen Rock zum Unterricht anziehen. Aus dem Augenwinkel vernahm ich wieder einmal Elios Grinsen. Ich schoss ihm einen wütenden Blick zu. Das war alles nur wegen ihm passiert!
„Naja, beim Unterricht gab es ein paar… Komplikationen“, bei dem letzten Wort sah ich Elio nochmals böse an. Doch das fand der natürlich sehr witzig. Was hatte ich mir auch erwartet?
„Ach herrje. Aber keine Sorge, Liebes, das bekomme ich wieder hin", meinte Rosie nur. Daran zweifelte ich keine Sekunde!
„Saskia hat nachher noch das wichtige Mittagessen. Deswegen sind wir hier", warf Elio ein, bevor sich Rosie noch mehr über den ruinierten Rock Gedanken machen konnte.
„Ja ja, das Mittagessen! Komm Saskia, dafür habe ich schon was vorbereitet. Nein nein, Elio! Du bleibst draußen", und mit diesen Worten schloss Rosie die Türe, bevor Elio auch nur einen Schritt hereinkommen konnte. Dann stellte Rosie mich in die Mitte des Raumes und verschwand zwischen den vielen Kleiderstangen. Ich hörte hin und wieder etwas Rascheln. Kurze Zeit später kam Rosi mit zwei Kleidern zurück.
„Hach, das wird herrlich an dir aussehen!“, rief sie entzückt aus. Dann drückte sie mir eines der Kleider in die Arme und schubste mich in Richtung Umkleide.
„Den Rock bringst du mir nachher bitte. Dann wollen wir mal sehen, ob ich den noch retten kann", rief mir Rosi zu. Ich mochte Rosie wirklich sehr. Sie war so eine herzensgute Elfe. Sie würde ich sicherlich vermissen, wenn ich abhauen würde. Doch dann sah ich wieder Mom vor meinem inneren Auge, wie sie traurig auf unserem Sofa zuhause saß und haltlos weinte. Das verpasste mir einen Stich ins Herz. Ich musste zu ihr zurück. Auch trotz spitzen Ohren und Geweih! Langsam begann ich mir das Oberteil und den Rock auszuziehen. Dann betrachtete ich das Kleid, das mir Rosie gegeben hatte. Es war aus zarten rosafarbenen Rosenblättern gemacht worden. Das Kleid roch sogar nach Rosen. Schnell schlüpfte ich hinein. Das war das erste Kleidungsstück seit meiner Ankunft hier, das mir bis über die Knie ging. Das Kleid hatte keine Träger, aber dafür Rüschen an den Armen. Ich trat aus der Umkleide hervor, um mich Rosie zu präsentieren.
„Bei den Heiligen Punkten des Marienkäfers! Du siehst prachtvoll aus!", verkündete Rosie verzückt. Ich lächelte. Das mit den Punkten des Marienkäfers musste eine Redewendung der Elfen sein.
„Danke. Du schneiderst eben die schönsten Kleider", meinte ich an Rosie gewandt. Die rundlichen Wangen der lieben Elfe nahmen ein zartes Rot an und sie schien sich sichtlich über das Lob zu freuen.
„Danke Liebes. Aber nun müssen wir dir noch deine Haare machen. Komm doch bitte mal nach hier drüben und setze dich auf den Stuhl", meinte Rosie und wuselte zurück zwischen die vielen Kleiderstangen. Ich tat, wie mir geheißen wurde und setzte mich auf den Stuhl vor einem Tisch. Vermutlich sollte es ein Schminktisch sein. Hinter mir raschelte Rosie zwischen den Kleiderstangen herum. Was machte sie denn? Ich hatte doch schon ein Kleid an. Aber naja. Sie würde schon wissen, was sie tat. Ich betrachtete mich in dem Spiegel, der über dem Tisch angebracht worden war. An mein neues Aussehen hatte ich mich noch nicht gewöhnt. An die größeren Augen konnte ich mich gewöhnen, aber das Geweih, das über Nacht beinahe einen ganzen Zentimeter gewachsen war, war wirklich gewöhnungsbedürftig! Da kam Rosie wieder.
„Na dann lass mich mal sehen, was wir heute aus deinen Haaren machen“, meinte sie und machte sich an die Arbeit. Irgendwie machte sie ein paar Wellen in mein Haar. Dann steckte sie ein paar meiner vordersten Haarsträhnen nach hinten. Ich betrachtete Rosies Werk staunend. Sie hatte ein wahres Wunder gewirkt! Da holte sie noch etwas aus ihrer Rocktasche heraus.
„Ich habe noch etwas gemacht“, meinte sie nur lächelnd und legte mir einen Kranz aus Blumen, passend zu meinem Kleid, auf den Kopf. Sie befestigte ihn noch und betrachtete mich dann. Ich staunte. Ich sah aus, als wäre ich direkt einem Märchenbuch entsprungen.
„Ich habe noch nie eine so wunderschöne Elfe gesehen!“, sagte Rosie lächelnd.
„Danke!“, hauchte ich. Dann drehte ich mich zu Rosie um und umarmte sie.
„Danke für alles!“