Den nächsten Tag verbrachte ich bis zu meiner Unterrichtsstunde bei Hansi ganz normal. Erst kam Rosie und brachte mir meine Anziehsachen. Dann frühstückte ich mit Mom und Dad. Danach hatte ich Unterricht in Tanzen, Bogenschießen und Klettern. Zum Mittagessen gab es etwas, was wie gefüllte Blattröllchen aussah und dann hatte ich Kräuter, Baum und Blumenkunde. Nach dieser Stunde hatte ich endlich Freizeit, was bedeutete, dass ich mit Elio zu seiner Familie gehen würde. Aufgeregt trat ich aus dem Klassenzimmer.
„Wann gehen wir?“, fragte ich Elio.
„Wenn du möchtest, jetzt sofort", erwiderte er nur grinsend.
„Na dann, worauf warten wir noch?", meinte ich und lief los.
„Äh, Saskia, das ist die falsche Richtung. Zur Eingangshalle geht es hier entlang", sagte Elio. Mir stieg die Röte ins Gesicht. Das Schloss war einfach zu riesig, um sich die Wege zu merken. Ich machte kehrt und lief hinter Elio her. Er führte mich zur Eingangshalle und dann hinaus ins Elfendorf. Ich war zwar schon ein paarmal durch das Dorf geritten, aber ich hatte mir es noch nie wirklich angesehen. Alle Häuser hatten helle Fassaden und Strohdächer. Oftmals waren die Türen und Fensterläden in rosa, rot oder weiß gestrichen und unter beinahe jedem Fenster hingen Blumenkästen. Vor uns tat sich ein längerer breiter Weg auf, was wahrscheinlich so etwas wie die Hauptstraße war. Überall waren Elfen. Große, kleine, dicke, dünne und alle Hautfarben waren vertreten. Ich sah eine Gruppe von Elfenmädchen, wahrscheinlich waren sie in meinem Alter, die ein paar Tüten aus Blättern in der Hand hielten, so als ob sie gerade einkaufen waren.
„Habt ihr hier etwa auch Kleidergeschäfte?", fragte ich Elio. Der fing nur an zu lachen.
„Natürlich haben wir hier auch Kleidergeschäfte. Wie sollten wir auch sonst an Kleidung kommen?", fragte er noch immer lachend. Peinlich berührt wendete ich mich wieder von ihm ab. Klar hatten sie auch Kleidergeschäfte. Aber es war irgendwie so komisch zu sehen, dass sich das Leben der Elfen gar nicht so viel von dem Leben der Menschen unterschied. Der größte Unterschied lag darin, dass die Elfen im Einklang mit der Natur lebten.
„Also sollen wir weitergehen oder hast du schon Wurzeln geschlagen?“, meinte Elio dann. Widerwillig setzte ich mich in Bewegung. Doch kaum ein paar Meter weiter erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Über der Eingangstür eines Häuschens hing ein Schild, das so etwas wie Kuchen abbildete.
„Was ist das?“, wollte ich von Elio wissen und deutete auf das Schild.
„Ach, das ist nur Theos Nascherei, in der er alles mögliche an Süßkram verkauft", erklärte mir Elio. Er schien mir anzusehen, wie gerne ich in den Laden hineingehen würde.
„Na gut, wir gehen hinein, aber das machen wir nur bei diesem Geschäft, okay?"
Ich begann zu grinsen und freute mich wie ein kleines Kind. Aber das war alles so unglaublich für mich. Ich musste auf jeden Fall in den nächsten Tagen einmal einen Nachmittag lang einfach nur durch das Dorf bummeln und alles entdecken, was es zu entdecken gab! Elio und ich betraten den Krämerladen und ich war sofort entzückt von… einfach allem! Es war ein sehr helles Geschäft, obwohl alles aus dunklem Holz gemacht worden war. Die Nascherei bestand aus einem eher kleineren Raum. An der gegenüberliegenden Wand von uns stand ein Tresen, den sehr viele Büchsen und Dosen mit Süßkram zierten. Hinter dem Tresen war ein etwas fülligerer Elf mit runden roten Wangen.
„Guten Tag, Elio. Was kann ich für dich tun?", fragte der freundliche Elf.
„Hallo Theo, bitte zwei von den Nektarstangen", sagte Elio zu dem Elf.
„Gerne. Wie heißt denn deine Begleitung? Ich kenne sie gar nicht", murmelte Theo während er etwas, das ähnlich wie Zuckerstangen aussah, in eine Tüte aus Blättern packte.
„Das ist Saskia", sagte Elio nur. Theo reichte ihm das Bündel aus Blättern und beäugte mich. Schnell gab Elio ihm etwas, was ich nicht erkennen konnte und verabschiedete sich von Theo. Dann schob er mich hastig aus der Nascherei hinaus.
„Komm, gehen wir weiter", sagte Elio. Ich nickte und gemeinsam liefen wir weiter. An jeder Ecke sah ich etwas anderes, was mich faszinierte. Dieses Dorf war irgendwie eine Mischung aus einer mittelalterlichen Stadt und einem Dorf oder einer Vorstadt aus der Menschenwelt. Ich sah einen Laden, der Blumengestecke verkaufte. Gleich daneben hatte ein Schmied sein Häuschen. Und an der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte ein Sattler.
„Für was brauchen wir Sättel?", wollte ich von Elio wissen. Natürlich ritten die Elfen auf Tieren. Ich hatte schon selbst auf dem Rücken eines Fuchses gesessen, aber da hatte ich keinen Sattel gesehen.
„Die Sättel werden hauptsächlich bei kleineren Tieren verwendet. Oder bei Tieren, die sehr schnell klettern oder fliegen können wie beispielsweise Eichhörnchen oder Vögel. Wir könnten auch sehr gut ohne Sattel auf Vögeln fliegen, aber mit Sattel ist es einfach sicherer. Außerdem macht der Sattler auch Kutschgeschirre für Mäuse, Ratten oder andere kleine Nager", erklärte Elio mir breitwillig und ging weiter. Ich wäre so gerne in jedes einzelne Geschäft hineingegangen, aber dazu hatten wir nicht genug Zeit. Also folgte ich Elio. Bald verließen wir die geschäftige Hauptstraße und bogen in eine kleine Gasse ab. Von dort ging es dann nochmals ein kleines Stück weiter, bis wir auf einen anderen, etwas breiteren Weg trafen.
„Dort drüben wohnen meine Großeltern", sagte Elio und deutete auf ein niedliches Häuschen etwas weiter weg von uns.
„Wo wohnst du?", fragte ich interessiert. Elio grinste.
„Ich wohne dort", meinte er und deutete auf ein kleines, süßes Häuschen am anderen Ende der Straße. Hier also. Hier war Elio aufgewachsen. Wahrscheinlich hatte er hier auf dieser Straße schon mit anderen Elfenkindern gespielt.
„Kommst du?", fragte Elio. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er schon weiter gelaufen war. Hastig lief ich ihm nach, bereit seine Familie kennenzulernen.