Was nach ihrem Aufbruch aus Hagenau folgte, war ein Ritt, wie ihn Ahmad und Gareth lange nicht mehr erlebt hatten. In Wolken von graubraunem Staub galoppierten sie auf der Heerstraße Richtung Frankfurt und machten nur Rast, wenn ihre Pferde begannen vor Müdigkeit zu stolpern.
Gandar sprach kaum ein Wort, aber er spürte, dass Ahmad ihn beobachtete. Gareth schien seine Schweigsamkeit nicht zu stören, aber der Sarazene kannte seine Gewohnheiten zu genau, um die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Während Gareth ihre Hengste zur Tränke führte, setzte er sich zu Gandar, der sich im Schatten einer Linde niedergelassen hatte, und bot ihm Brot und Käse an.
Gandar lehnte den Kopf an den Stamm des Baumes und winkte ab. Das musste wie Erschöpfung, Resignation wirken, aber das war ihm gleichgültig. Er wollte für einen Moment die Augen schließen und an gar nichts denken. Doch Ahmad blieb einfach sitzen und wartete schweigend. Er verfügte über nahezu grenzenlose Geduld, wusste Gandar. Ohne die Augen zu öffnen, murmelte er: »Tu mir einen Gefallen, Ahmad - lass mich in Frieden, ja?«
»Erst wenn du ein wenig Brot zu dir genommen - und mir von deinen Sorgen erzählt hast«, gab der Sarazene zurück. »Ich merke seit Tagen, dass dich etwas bedrückt. Was ist es?«
Gandar hob unbeeindruckt die Schultern. »Ein anderer Ort, eine andere Aufgabe, neue Kastanien, die ich für den König aus dem Feuer holen muss. Soll ich jubeln?«
»Löwenbruder! Dein Mund spricht Worte, die dein Herz nicht meint.«
Gandar lachte trocken. »Du bist ausgesprochen lästig, Freund. Weißt du das?«
»Ist es nicht Aufgabe eines wahren Freundes gelegentlich lästig zu sein? Du weichst mir aus.«
Gandar wandte den Kopf zur Seite und sah Gareth entgegen, der mit den Pferden vom Bach zurückkam. Der Ire reichte seinem Anführer einen frisch gefüllten Wasserschlauch und machte Anstalten sich neben Ahmad niederzulassen, doch dieser winkte ihn fort.
Gandar musterte den Sarazenen mit einem halb spöttischen, halb nachdenklichen Blick. »Du gibst niemals auf, was?«
Ahmad schüttelte den Kopf. »Es geht um deinen Bruder, nicht wahr? Raus damit! Was hat Richard diesmal zu tun versäumt?«
»Nichts wovon ich wüsste.«
Ahmad nahm einen kräftigen Schluck aus dem Schlauch, den Gandar ihm reichte, und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich frage mich, warum du so sehr an diesem Mann festhältst, der dich zwar Bruder nennt, doch in seinem Herzen nichts für dich empfindet.«
Gandar senkte den Kopf und hob ihn dann wieder. »Es ist wie ...« Er schloss die Augen.
»Was meinst du, Gandar?«
»Ich suche nach den richtigen Worten.«
Ahmad schloss die auffallend feingliedrigen Hände zu Fäusten, bohrte die Nägel in die Handflächen. »Ich kann nicht verstehen, was du in Richard von Glauberg siehst.«
Gandar zuckte ob des missfälligen Tons leicht zusammen, wies Ahmad aber nicht zurecht. »Ich will dir von dem Tag erzählen, an dem meine Familie umgebracht wurde.«
»Darüber hast du noch nie gesprochen, Löwenbruder. Warum jetzt?«
»Selbst der stärkste Krieger kann es nicht aushalten, wenn er alle nach und nach verliert, die ihm teuer sind.«
»Es deutet nichts darauf hin, dass deinem Bruder etwas zugestoßen ist«, stellte Ahmad klar.
»Auch damals war es kein besonderer Tag«, gab Gandar zurück. »Der Mongibello rauchte wie eh und je. Unser Reitertrupp nahm den gleichen Weg nach Palermo, den wir schon hundert Mal genommen hatten. In den Dörfern, die wir passierten, beugten die Leute freudig das Knie vor meinem Ziehvater, dem Herzog und der Herzogin. Dann kam der Überfall - wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wir waren von Feinden umzingelt, die Hälfte unserer Männer abgeschlachtet, bevor wir nur die Schwerter ziehen konnten. Fünf oder sechs Feinde fielen zugleich über meinen Vater her, der bis zum letzten Atemzug versuchte, meine Mutter und mich zu verteidigen. Er wurde vor meinen Augen in Stücke gehackt. Dann schleppten sie Mutter fort. Ich konnte nichts dagegen tun. «
»Wer waren die Angreifer?«
»Ich weiß nicht«, sagte Gandar. »Ich kann nicht einmal sagen, wie lange der ganze Überfall gedauert hat. Die Zeit dehnt sich zur Unendlichkeit, wenn deine Gegner ihren Spaß treiben mit deiner Angst. Und dann geht alles doch wieder sehr schnell. Es wird ein Wirbel. Ein Tanz. Springende Bilder.«
Ahmad öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, aber Gandar brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und fuhr fort: »Wenn etwas Außergewöhnliches mit dir geschieht, etwas, dass außerhalb deiner Erfahrung liegt, und auch außerhalb deiner Vorstellungskraft dann sagst du dir, dass es nicht sein kann. Es ist ganz einfach nicht wahr. Du musst so denken. Du sagst dir, so etwas passiert nur anderen. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich weiß nicht, Gandar. Angst vor dem Tod ist uns fremd.«
Der Graf von Rodéna lächelte wehmütig. »Vielleicht hat es ja doch seine Vorteile an ein Paradies zu glauben, wo es Süßigkeiten und andere Delikatessen gibt und wunderschöne Mädchen, die bereit sind, jeden Wunsch zu erfüllen… Reich mir den Schlauch, bitte.« Er trank einen Schluck und sah mehrere Herzschläge lang nachdenklich vor sich hin. »Als du mich ins Haus deines Vaters brachtest, war meine Seele wie gelähmt. Ich glaubte, meine ganze Familie sei tot. Alles war sinnlos geworden. So - endgültig. Und dann kam dein Vater und lehrte mich seltsame Dinge. Welch Glück, so sprach er, von niemandem geliebt zu werden! Keine Wärme, in die man sich verkriechen kann, wenn es kalt ist, keine Geborgenheit, zu der man flieht, wenn man sich fürchtet. Niemand entscheidet, ob du rechts oder links entlanggehen musst. Du allein wählst deinen Weg.«
»Ja, ich weiß.«
»Und dann kam jener Tag im August, an dem dein Vater mich mitnahm auf den Markt nach Foggia. Während er seinen Geschäften nachging, schlenderte ich zwischen den Ständen umher. Ich war nicht bei der Sache und rempelte unabsichtlich eine Dame an. Madonna Judith. Die mich am Ärmel meiner Djellabah festhielt und ganz empört ansah. Dann wollte sie wissen, was meine lächerliche Verkleidung zu bedeuten habe. Welche Verkleidung?, fragte ich. Da sah sie mich aus dunklen Augen ganz scharf an und rief: Kannst du dich niemals vernünftig benehmen? Und ich sagte: Ich gebe mir die größte Mühe, aber meine Antwort war ihr nicht recht. Mühe geben! Mühe geben! Sie stieß mir ihren Zeigefinger in die Brust und sagte: Weißt du eigentlich, dass mein Gemahl deinetwegen nichts als Scherereien hat? Wenn er von diesem neuen Unfug hier erfährt, schickt er dich mit Schimpf und Schande zu deinem Vormund zurück. Du kommst jetzt besser mit mir, bevor er Deine Abwesenheit bemerkt.
Ich war verwirrt und auch ärgerlich, weil sie nicht von mir ablassen wollte und weigerte mich, mitzugehen. Da winkte sie ihre Begleitritter heran und befahl ihnen, mich festzunehmen.«
Ahmad faltete die Hände im Schoß und musterte seinen Freund kopfschüttelnd. »Seltsam. Mein Vater hat diese Begebenheit mit keinem Wort erwähnt. Wie ging die Sache aus?«
Gandar hatte sich ein Stück Käse von Laib geschnitten und in mundgerechte Happen zerteilt. Nun betrachtete er das Ergebnis und gab vor, Ahmads Blick gar nicht zu bemerken. Man hätte meinen können, sein Interesse gälte ausschließlich seiner nächsten Mahlzeit.
»Wie kam Madonna Judith denn nach Foggia?«, fragte der Sarazene. »Liegt ihr Stammsitz nicht in der Nähe von Verona?«
»Judith und ihr Gemahl waren Federicos Gäste und bewohnten ein prunkvolles Quartier im Palast«, erwiderte Gandar. Er legte das Messer beiseite, ohne den Käse anzurühren.
»Judith ließ mich in den Palast bringen und führte mich in ihr Gemach. Dort warteten Dom Léon, ihr Gemahl und – er. Richard von Glauburg. Mein Zwillingsbruder. Von dessen Existenz ich bis zu diesem Augenblick nichts geahnt hatte.«
Gandar sah das Bild noch deutlich vor sich. Es schien ihm alt. Vertraut. Eine schwarzhaarige Frau war darauf zu sehen, eingehüllt in einen prächtigen Mantel. Am Fenster stand ein Mann: groß, aufrecht, mit einer lohfarbenen Mähne wie ein Löwe.
Das harte Licht des Sommertages reichte nicht bis zu der entfernten Wand mit Büchern. Dort, im Schatten, stand der Junge. Dunkelblaue Cotte. Roter Surcot. Und rabenschwarzes Haar. Er hatte sich ein wenig abgewandt. Sein Mund hing vor Überraschung offen.
Dann stand noch einer da. Mitten im Raum. Er. Gandar. Weiße Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht. Er war der einzige, der lachte.
»Das war die Zeitenwende in meinem Leben«, sagte Gandar. »Alles was noch kommt, muss sich daran messen lassen. Für die Welt gibt es Anno Domini, vor Christus und nach Christus. Ich dränge meinen Kalender niemandem auf, und bis heute habe ich auch noch zu niemandem darüber gesprochen, aber es ist nun einmal so: Meine Zeitrechnung beginnt mit Richard.«
Ahmad setzte zu einer Erwiderung an, doch dann schien ihm die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens aufzugehen und er schwieg. Wenig später saßen die Männer wieder in den Sätteln und setzten ihren Weg fort.