Die Felsen um uns waren verwinkelt und setzten sich aus großen Massiven und kleineren Türmen zusammen, die aussahen, als hätte ein kindlicher Riese sie für Bauklötze gehalten. Sie ragten stumm über uns und enthielten sich jeglicher Meinung zu unserer seltsamen Reise. Als wir das Ende des Pfads erreichten, trat die Stadt der Toten wieder hervor. Der Auftritt war wie geprobt. Während wir um eine hohe Felskante am Rande des Gebirges schritten, bewegte sich der dunkle Vorhang der Felsbarriere gemächlich beiseite und gab unseren Blick frei auf Megalopedia, die Große Ebene.
Thanatopolis war nun um ein vielfaches näher. Die schimmernde Stadt nahm fast den gesamten Blickwinkel ein. Plötzlich war es möglich, Häuser und Türme zu erkennen. Ich sah schmale, dunkle Brücken, die zwischen einzelnen tempelartigen Gazebos und Plattformen aus Stein entlangführten. Und in der Mitte der mächtige, phallische Turm, der zum Himmel ragte und die Seelen aus allen Richtungen aufsog. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um die Spitze zu sehen. Er war zwar rund, doch seine Oberfläche war nicht glatt, sondern bestand aus unzähligen Rippen und Plattformen, die beinahe wie Balkone aussahen.
„Was würde passieren, wenn uns die Engel entdecken würden?“ fragte ich Akhanta.
„Die Engel sind unsere Feinde“, antwortete sie schlicht und zog mich zu Boden.
Weder bei ihr, noch bei Adam Kadmon waren mir all die Animositäten gegenüber den Engeln nicht entgangen. Ich hatte keine Zeit, darüber länger nachzudenken, aber ich stellte mir verunsichert die Frage, ob ich eigentlich für das richtige Team spielte. Ich verstand, dass hier alles seinen Preis hatte. Die Engel waren für die Ordnung und den reibungslosen Verlauf der Seelenwanderung zuständig. Sondergenehmigungen gab es nicht. Somit waren abenteuerliche Gestalten wie ich offensichtlich höchst unerwünscht. Würde man mich erwischen, wäre es aus mit dem Kombinat aus Seele und Gedanklichkeit. Meinen Geist würde man ohne zu fackeln entfernen und die gedankenlose Seele zu der restlichen Herde dazu stecken, damit sie brav dem nächsten natürlichen Geburtsvorgang entgegen trottete.
„Es gibt die alten Sacraportas“, erklärte mir Akhanta, während wir hinter einem Felsbrocken auf dem Bauch lagen und die Stadt beobachteten. Nun konnte man deutlich die kühlen Engel sehen, die langsam um die Stadtgrenze schwebten. Auch oben, auf der Kante der Außenmauer, standen sie in regelmäßigen Abständen. Bei meiner Ankunft, als es mir nur vergönnt war, die Stadt kurz und aus der Ferne zu sehen, dachte ich, es seien Feuer oder sogar moderne Lichtquellen. Doch nun konnte ich zweifelsfrei sehen, dass es sich um Lichtwesen handelte, die dort auf dem Wall standen, vielmehr starr wie Statuen über dem Rand der Mauer schwebten, ohne sie wirklich zu berühren. Sie waren nicht viel größer als Menschen, doch ob sie ein Gesicht besaßen, konnte ich auf diese Entfernung nicht sehen.
Ihr kühles, weißes Licht hatte etwas Anziehendes, Magnetisches. Doch ich war keine verirrte Seele auf der Großen Ebene. Ich hatte meinen Verstand noch und deshalb fiel es mir nicht ein, wie eine Motte ihren Lockungen anheimzufallen.
„Und wie finden wir so eine...“
„Sacraporta“, ergänzte mich Akhanta geduldig. „Sie ist gleich hier, in der Dunkelheit des Felsens. Wir haben sie bereits passiert.“
Wir schlichen einige Meter zurück, bis wir uns ungesehen aufrichten konnten. Im finsteren Schatten des Felsens nahmen wir den steinigen Pfad wieder in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Doch nur nach wenigen Schritten blieb Akhanta stehen.
Ich starrte etwas überfordert in die Dunkelheit. Nach einer Weile erkannte ich, dass hier, auf der stadtabgewandten Seite, eine Art große Nische in die Felswand hinein gehauen worden war, wie ein heidnischer Tempel in den Bergen.
Akhanta hatte inzwischen ihren Speer weggelegt und sich vor den dunklen Eingang gestellt. Ihre Ellbogen drückte sie gegen ihren Bauch und die Unterarme streckte sie mit offenen und nach oben gerichteten Handflächen dem Felstempel entgegen.
„Gudie laga ganza, salak ka-ti“, rezitierte sie.
Ich erstarrte, denn im selben Augenblick erleuchtete sich der gesamte Tempel von innen und erstrahlte in einem gedämpften, blauen Licht.
„Komm mit“, warf Akhanta über ihre Schulter. Ich beeilte mich, ihr nachzulaufen.
„Was war das für eine Sprache?“
„Das Dam-Har, die alte Sprache der Schatten“, erklärte sie, als wäre es die natürlichste Sache der Welt und ich hätte gerade das geistige Niveau eines Türstoppers bewiesen.
Die Sacraporta war ein offener Raum, direkt in den Fels gehauen. Entlang der gewölbten Wand standen sieben Throne auf denen sieben Statuen saßen. Drei waren weiblich, drei männlich und die siebte, in der Mitte sitzende Gestalt, mutete nicht einmal menschlich an. Die Decke entsprach einer Kuppel, und in der Mitte des halbkreisförmigen Bodens befand sich eine seltsame Vorrichtung, die wie ein Torbogen anmutete. Ich überlegte eine Weile, woran mich dieser Ort erinnerte, bis mir schwarzweiße Fotos des Sonnentors in Tiahuanaco einfielen, die ich bereits als Kind in einem Buch gesehen hatte.
Doch die Öffnung in diesem Durchgang war überzogen mit einem Schleier aus Licht.
„Was ist das für ein Ort?“ fragte ich und sah Akhanta an.
„In den alten Tagen, als die Inferni das Schattenreich regierten und die Engel im Diesseits walteten, erlaubten ihnen die Sacraportas, überall gleichzeitig zu sein.“
Es klang wie der aufgesagte Schwur einer Jungpionierin.
„Dann sollten wir uns wohl beeilen“, wandte ich ein. „Dieses Flimmern sieht man vermutlich in der ganzen Umgebung.“
Sie nickte und trat neben mich.
„Du musst nur durch das Tor treten, hinein in das Licht. Es wird dich in die Nähe der Apythia bringen, tief in der Dunklen Stadt. Wenn du den Tempel nicht findest, halte Ausschau nach einem Gebäude, auf dessen Dach ein Stier und ein Widder kämpfen.“
„Kommst du etwa nicht mit?“ rief ich entsetzt aus.
Sie lächelte plötzlich auf eine Weise, die es nur sehr schwer machte, sie nicht zu umarmen.
„Wie du sagtest, bin ich nur eine Imago. Ich kann nicht mit den Sacraportas reisen.“
„Werde ich dich wiedersehen?“
„Das entscheidest nur du allein. Ich werde da sein, wenn du hierherkommst.“
Ich streckte meinen Arm aus, um sie zu berühren, doch sie wandte sich um und verschwand geräuschlos in der Finsternis.
„Wenn in der Dunklen Stadt, schütze deine Gedanken“, hörte ich sie aus der Ferne sagen.
Schnell drehte ich mich um und starrte in das Licht der Sacraporta.
„Ich könnte jetzt im Englischen Garten sitzen, kiffen und dabei Aquaman oder die Gerechtigkeitsliga lesen“, brummte ich vor mich hin. „Statt dessen muss ich in jeden beschissenen Kanal klettern, den mir jemand aufmacht.“
Ich trat zögerlich durch das blaue Licht.