Es war bereits heller Tag und die Stadt summte und brummte vor Geschäftigkeit. Für einen späten September war es sehr sonnig und sehr warm. Ein Mann mit einem Schutzhelm beugte sich über mich und schubste gegen meine Schulter.
„Das ist ein Baugelände“, meinte er. „Du kannst nicht hierbleiben.“
Er wirkte nicht feindselig, doch ich wusste, dass er von seinem Standpunkt nicht weichen würde. Ächzend richtete ich mich auf und streckte mich. Ich war nicht nur von den Toten auferstanden - ich fühlte mich auch so. Alles an diesem Körper tat weh. Prächtig.
In meinem Kopf klirrten bedrohlich die Echos des vergangenen Hyper-Albtraums. Interessant, dachte ich und ließ die vertraute Schwermut durch mich hindurch strömen. Zyklothymie, hatte es ein Arzt genannt. Doch das war für mich nur ein Wort, das in keiner Weise die Dinge beschrieb, die ich im Schlaf sah.
Ich schleppte mich davon, und während ich nach einer Stelle Ausschau hielt, an der ich mich hinsetzen und über meine weitere Vorgehendweise nachdenken konnte, begann ich den deutlichsten Schmerz zu spüren. Es war kein Stechen oder Brennen. Es war wie ein Hunger, der durch die Blutgefäße fließt. Ich sah auf meine Hand, die inzwischen zitterte. Was war mit mir los?
An einem kleinen Park angelangt, stieß ich auf Kollegen. Zwei ältere Kerle, die auf einer Bank saßen und sich unterhielten. Sie wirkten nicht ganz so abgewrackt wie ich, doch auch sie trugen die rauen Masken aus ungesunder, mit Warzen bedeckter Haut. Gebrochene Gesichtszüge. Zerkratzte Rachen. Wunde Körper.
„Hey Klaus! Hast es doch nicht getan, alter Schwede...“, rief mir der eine zu und grüßte mich mit erhobener Bierflasche. „Maulheld bis zum letzten...“
„Halt’s Maul,“ zischte ich gereizt zurück und eilte weiter. Es fühlte sich an, als spräche der Schatten meines Avatars aus mir heraus.
Nachdem ich mich allein glaubte, setzte ich mich hinter einen Baum und dachte nach. Ich hatte möglicherweise eine ernste Krankheit und brauchte ärztliche Versorgung.
Meine Hand streifte die ausgebeulte Tasche des langen verdreckten Mantels. Die Flasche...
„Dafür habe ich dich also...“, brummte ich und nahm einen Schluck. Grässlicher Rum, sagte etwas Vergangenes in mir. Aber es floss wie Wasser über meine Zunge. Die Flüssigkeit fühlte sich an wie ein Heilmittel. Schon nach drei Minuten war ich viel ruhiger. Der Tag konnte beginnen. Ich war betrunken und der Körper schien sich in seinem gewohnten Zustand zu befinden. Diese Erfahrung machte mich sprachlos. Ich hatte nie gedacht, dass Alkohol eine derartig starke Droge war. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Wirkung und Abhängigkeit von Heroin sehr viel anders war.
„Heuchlerische Weinkenner“, dachte ich. „Verlogene Spießer. In Wirklichkeit alles Junkies...“
Ich röchelte vor mich hin und hustete etwas Schleim auf den Rasen. Dann rappelte ich mich wieder hoch und steckte die Flasche ein. Ich wusste, ich konnte kein Trinker bleiben. Ich hatte eine sehr unangenehme Kampfarena geerbt. Apythia mochte mich anscheinend nicht besonders.
Mein erstes Ziel war ein Internetcafé. Es zu finden und hineinzukommen. Gerade letzteres sollte problematisch werden. Ich würde mich selbst nicht in ein Internetcafe hineinlassen. Da musste man ja Angst haben, dass Hautfetzen von meinen Fingern an der Tastatur kleben blieben.
Der Weg in das Stadtzentrum von Köln dauerte fast einen ganzen Tag und fand seinen Höhepunkt in einer Begegnung höchst unangenehmen Art. Ähnlich wie über die Explosion in meiner Wohnung in Hamburg, kann ich auch hier nur fragmentarisch berichten. Es war ein Schlag hier und ein Schlag da. Nie mit den Händen, sondern mit Schlagstöcken aus Holz. Und dann mit Füßen. Obdachlose nehmen in zwei Situationen die Körperhaltung eines Embryos ein: beim Schlaf, wenn sie irgendwo unter einer Brücke liegen, und wenn sie verprügelt werden. Meine Skinheads waren wie eine vorbeifahrende Lokomotive. Keine Parolen, keine Sprüche. Nur das Testosteron musste besänftigt werden, und das Adrenalin sollte raus. Vielleicht hatte an diesem Tag einfach nur ihr Dojo geschlossen. Auch sie waren nur Junkies, so wie ich nun einer war. Bei mir war es Alkohol, bei ihnen die Berührung, die Unterwerfung, die Selbstwahrnehmung. Die Gewürze jeder Gewalt. Sie schienen zwei oder drei zu sein. Ich dachte wieder an Evelyn. Als ich sie fragte, was sie am Spanking anmacht, sagte sie: „Ich fühle mich nicht betäubt. Es macht mich vollkommen wach.“
Sie hatten nicht die Absicht, mich zu töten. Sie hatten auch keine Wut, die sie unkontrolliert und rasend machte. Sie mussten einfach nur Dampf ablassen, und ich war zur Stelle. Ich, der Untermensch. Vielleicht noch schlimmer als ein Jude, denn für sie war ich ein Deutscher, der sich gehen ließ, der stinkend und besoffen durch die Gegend taumelte. Ein öffentliches Ärgernis. Ein wandelnder Schandfleck, der jedem den Magen umdrehte. Damals dachte ich: sie sind wie Tiere, wie Fleischfresser, die nun ein vegetarisches Opfer fanden und damit spielten. Heute bedauere ich sie viel mehr. Es ist keine leichte Last, die Aufgabe auf den Schultern zu tragen, ein Schwachkopf in einer olivgrünen Bomberjacke zu sein und so sein Tagewerk zu erfüllen. Jemand muss die Drecksarbeit machen. Ein bestimmter Teil der Welt besteht aus neurotischen Idioten und Spinnern, deren einzige Aufgabe darin besteht, unsere Lücken im Schicksal zu schließen. Judas und Pilatus mögen einen sehr kleinen Fanclub haben - aber macht sie das minder notwendig? Diese Menschen mögen wie Ungeziefer erscheinen. Aber sie testen uns jeden Tag. Sie prüfen unseren Hass, der uns vergiftet. Sie treten in unser Leben, mit der Absicht, unsere Zähne auszuschlagen - und damit zu prüfen, ob wir eher meinen, die Welt sei nicht in Ordnung, aber wir dagegen schon, oder ob wir denken, dass die Welt durchaus in Ordnung ist und wir es nicht sind. Es ist unser gutes Recht, vor dieser Prüfung wegzulaufen. Aber auf die eine oder andere Art wird sie unvermeidlich bleiben. Skinheads, Autounfälle und HIV. Die Welt ist in ständiger Bewegung. Alles fließt. Und nur die Schläfer unter uns meinen, sie hätten damit nichts zu tun.
Sie traten noch zehn Mal nach mir und liefen weg. Ich war der Star meines kleinen Clockwork Orange.
Es gab hier genug Passanten, doch niemand wollte sich mit mir beschäftigen. Ich hätte auch Angst gehabt, mir selbst eine Mund-zu-Mund-Beatmung geben zu müssen. Apythia hatte wirklich die richtige Frage gestellt.
Doch nach einer Weile spürte ich eine Hand auf meinem Ellbogen.
Ich sah hoch und blickte in die Mandelaugen einer charmanten Asiatin. Ausgerechnet sie sollte nun bestraft werden mit dem unerträglichsten Gestank, den ein Mensch hergibt. Ich dachte an die Japanerin Satoko im Haus der Kraniche, die von Jürgen, meinem versoffenen Umzugshelfer angequatscht worden war. Als würde alles noch mal passieren, nur mit anderer Rollenverteilung. Jemand hat einmal zu mir gesagt: „Wenn du es schaffst, dich ganz ruhig zu verhalten und dabei sehr achtsam bist, kannst du es sehen. Sehen, wie sich alles um uns in Mustern verwebt und wie alles mindestens zweimal passiert.“
Die Japanerin trug ein weißes Sommerkleid und eine schwarze Schirmmütze aus Vinyl. Um ihren Hals hing eine Lederschlaufe mit einem Fotoapparat. Während sie mich hochzog, bemerkte ich ihre zierlichen Füße in sauberen weißen Schuhen. Um ihren Fußknöchel hing ein keckes Kettchen. Die Vertreterin der geruchsempfindlichsten Nation auf der Erde zog mich tapfer hoch. Ich stand wankend vor ihr und röchelte ein vollkommen debil anmutendes „Domo arigato“.
Wann immer sie über ihre Reise nach Europa nachdenken wird, es werden wohl diese Bilder in ihrem Kopf auftauchen. Hässliche Männer, die einen genauso hässlichen Kerl auf der Straße verprügeln.
Sie rückte ihren Fotoapparat zurecht und brabbelte etwas, das ich nicht verstand. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und eilte davon, als wäre es ihr peinlich, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben.
Die Begebenheit war irgendwie typisch für mein Leben. Diese Dinge begegnen mir wie Löwenzahnsamen, die vom Wind an mir vorbeigetragen werden.
Ich schleppte mich erst mal in den Eingang eines Hauses, um dort auszuruhen. Ich fühlte mich, als hätte ich den Dritten Weltkrieg überlebt. Die Schläge hatten mir nicht sehr gut getan. Meine Lippe blutete, und mein ohnehin recht lädierter Magen tat noch mehr weh. Wenigstens drangen die zahlreichen blauen Flecken und Prellungen in diesem tauben Körper kaum zum Gehirn durch.
Als ich mich dabei ertappte, wie ich die flache Glasflasche gerade an meine Lippen setzte, hielt ich inne. Ich bin noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden in diesem Körper, und schon verpasse ich den Augenblick, an dem ich beschließe, mich zu besaufen. Es geschieht bereits unterschwellig und als lebenserhaltender Reflex. Ich schleuderte die Flasche von mir und sie zerbrach.
„Das wirst du noch bereuen“, brummte ich. „Aber scheiß drauf.“ Ich wollte die Situation anders anpacken. Es war Zeit, etwas voranzukommen. Es war Zeit, eine Rochade auf dem Spielbrett zu ziehen.
Ich fand zuerst die Bahnhofsmission, wo ich genüsslich eine Kartoffelsuppe mit zwei Brotscheiben verschlang. Dort fragte ich nach gebrauchten Kleidern. Sie verwiesen mich an die Caritas und ich taumelte dorthin weiter.
Meine Erklärungen, dass ich ein Mensch bin, der mit dem Alkohol Schluss gemacht hat und wieder in der sozialen Leiter aufsteigen möchte, verfehlten ihre Wirkung nicht. Einer der Sozialarbeiter kam sogar auf mich zu und meinte: „Dass Sie das schaffen, aus eigenen Stücken zu uns zu kommen, Herr Grünwald, hätte ich ehrlich gesagt nie gedacht.“
Und so konnte ich eine lange, intensive Dusche genießen, versuchte dabei meinen kaputten Körper, dessen Anblick ich kaum ertrug, mit möglichst viel Seifenschaum zu bedecken und ließ das warme Wasser in mein Gesicht prasseln. Anschließend bekam ich einige alte Hosen und Hemden, die ich dann mit einer Spende von einigen Euro quittierte. Das machte aus dem Bettler keinen Prinzen. Noch immer war ich ein fertiger, krank wirkender Typ mit einer kaputten Leber. Doch die ständige Druckwelle von Gestank war verschwunden, und der Bart ein wenig gestutzt. Die langen, ergrauten Haare band ich mit einem Haargummi zusammen und sah plötzlich mehr wie ein gealterter Hippie aus als wie ein Landstreicher.
Als ich die Sozialarbeiter verließ, dachte ich daran, dass ich als junger Jan-Marek Kámen stets die Tendenz hatte, zuerst das Schlechte an einem System zu sehen, während ich nun, als hilfsbedürftiger Obdachloser einen neuen Blick für das Gute gewann. Ich werde sicher nie darum verlegen sein, den Leuten meinen Pessimismus um die Ohren zu hauen, gewappnet mit drei oder vier Nietzsche-Zitaten, die mir Manzio auf den Weg gab. Doch in jenem Augenblick, in dem Sie ausgehungert auf eine Sitzbank sinken und jemand einen heißen Teller Suppe vor Sie stellt, in der Schnittlauch und Hühnchen unter großen Fettaugen schwimmen, hat das alles keine Bedeutung. Ich mochte von großen pompösen Augenblicken gebannt und belehrt worden sein, doch genießen durfte ich stets nur die kleinen Dinge im Leben. Die einfachen Momente, die keines Seminars und keiner Analyse bedürfen.
Abends kehrte ich noch einmal zum Bahnhof zurück. Während ich hektisch meine Suppe auslöffelte, dachte ich plötzlich daran, dass der Mann, dem dieser Teller galt, der Mann, der den Willen hätte haben sollen, diese nach einfacher Seife duftende Kleidung abzuholen, bereits tot war. Ich war ein Trickbetrüger, der in seinen Körper geschlüpft war. Tränen traten in meine Augen, die ich mir nicht erklären konnte. Doch das Wichtigste können wir uns nie erklären. Unsere umfangreichen Theorien sind zumeist auf das gerichtet, was mit uns wenig zu tun hat, da wir so ungern ans Eingemachte gehen. Ich konnte einfach nicht begreifen, warum Klaus Grünwald nicht seine alten Knochen hierher bewegt hatte, um die Sozialarbeiter um Hilfe zu bitten. Weshalb er stattdessen ein Stück Kabel um ein Heizungsrohr wickelte und eine Schlinge daraus drehte, um seinen roten, faltigen Hals hineinzustecken.
Nach dem Essen lehnte ich mich zurück und dachte nach. Draußen auf dem Bahnsteig eilten in grellem Rot gekleidete Sanitäter mit schweren Plastikkoffern vorbei in Richtung der großen, grünen Datev-Reklame. In der Bahnhofsmission saß noch eine Handvoll anderer Leute, meistens Kerle wie ich, einsam versunken über ihren Tellern, in einer seltsamen Mischung aus Phlegma und Scham. Zwei gutgelaunte Damen in weißen Schürzen wischten die zerkratzten, grauen Plastiktabletts mit einem feuchten Tuch ab.
Ich begriff, dass meine Erfahrung, wie lehrreich sie auch sein mochte, nicht den Erfahrungen dieser Menschen glich. Für mich konnte eine Hühnersuppe mit einer harten Brotkante einer Epiphanie gleichkommen, für diese Menschen war es eine kurze Pause in einem alltäglichen Überlebenskampf. Ich wusste, ich konnte nicht ihrem Pfad folgen, so wie ich mich in dem Krankenhaus nicht der Herausforderung der Behinderung gestellt habe, sondern lieber ins Jenseits floh. Es war keine Feigheit, es war Bestimmung.
Ich bedauerte, keinen geheimnisvollen Schlüssel mehr zu haben. Wie gerne wäre ich nun zum Kölner Hauptbahnhof gefahren und hätte dort falsche Pässe, Geldbündel und in Büchern eingelegte Schusswaffen abgeholt. Ich wusste, sie waren da - doch diesmal nicht für mich. Mein Geld hätte für ein Zugticket nach Worms nicht mehr gereicht, und so taumelte ich in eine Telefonzelle, rief die Auskunft an und sprach nur wenige Minuten später mit Theophil Schorm, dem einzigen Theophil Schorm in ganz Worms und vermutlich in ganz Europa.
„Können Sie mich abholen?“ röchelte ich in die Sprechmuschel.
„Wer sind Sie?“ fragte er verblüfft.
„Michael schickt mich“, erklärte ich und überlegte, ob das die Wahrheit war.
Die Aussage verfehlte ihre Wirkung nicht. Es knisterte etwas dramatisch in der Leitung, dann meldete sich Schorms Stimme erneut.
„Wo sind Sie?“