„Ist er stets so impulsiv?“
„Er war nicht immer so“, erklärte Manakel. „Dabei verdanken wir ihm so viel. Er war es, der vor zwei Millennien die letzte Blütezeit der Engel unter den Menschen auslöste.“
„Ah, das Plagiat“, murmelte ich und erinnerte mich an Lichtmanns Worte auf dem Krankenhausdach.
„Vor achthundert Erdenjahren gab es kaum einen Europäer, der nicht zutiefst von der Existenz der Engeln überzeugt war. Doch leider glaubten die Menschen damals genauso an Satan, was zusammengenommen eher eine Patt-Situation ergab. Aber dennoch. Wir waren beliebt im Mittelalter.“ Er nickte eine Weile, als schwelgte er in Erinnerungen. „Doch Michael möchte darauf nicht angesprochen werden. Er hält es für eine Niederlage, da erst durch das Christentum die Renaissance und die Moderne möglich wurden. Und dann dieser ganze Trickbetrug an Descartes...“
Wir gingen ganz allein die gewundene breite Treppe hinab, umgeben von seltsamer Fluoreszenz, die von den schwarzen Wänden abstrahlte.
„Und ihr helft mir nun zurück, damit ich ein Buch schreibe?“ wunderte ich mich.
Es kam mir vor, als würde Manakel mit den Schultern zucken.
„Es ist nicht meine Aufgabe, darüber nachzudenken“, erklärte er ausdruckslos. „Meine Aufgabe ist es, über der Großen Ebene zu schweben und verirrte Seelen einzufangen und jene, die noch gar nicht erkannt haben, dass sie tot sind. Wie ein Schäfer treibe ich sie zurück zur Herde. So wie es meinem Rang entspricht.“
‚Eher wie ein Schäferhund’, dachte ich, sagte aber nichts. Manakel war ein vergleichsweise niedrigrangiger Engel, der vor Jahrtausenden möglicherweise im Diesseits existierte und nun hier, im Reich der Finsternis, über der Ödnis vor den Pforten zu Thanatopolis seinen Dienst tat.
„Aber etwas in mir sagt mir, dass du trotzdem den Spinnern der Lux Aeterna nachlaufen wirst, wie ein Kind, das sich einfach weigert, den Vortrag über das Wesen heißer Herdplatten zu akzeptieren“, fuhr er mit gewohnter Ausdruckslosigkeit fort. „Wir können dich nicht auf unserem natalen Pfad senden, denn der Strom des Lebens bringt dich nur in einen ungeborenen Leib. Du würdest als Säugling die Welt betreten, ahnungslos über alle Dinge, die hier geschahen. Deshalb musst du die Pforte der Lux Aeterna benutzen. Ich kann dich hinbringen, doch dem Ritual der Häretiker darf ein Engel nicht beiwohnen.“
„Ihr kontrolliert doch alles hier. Wieso können die anderen eine eigene Pforte besitzen?“
Manakel zögerte mit der Antwort.
„Es ist kompliziert“, erklärte er. „Es gibt einen Mann hier. Ein Freund von Paul Lichtmann. Er ist versteckt irgendwo in der Unendlichkeit des Jenseits. Vielleicht in einer Felshöhle, vielleicht irgendwo anders. Er hält einen Engel gefangen, dessen Name Pahaliah lautet. Einen hochrangigen Engel. Er ist seine Geisel. Die Bedingung ist, dass wir die Apythia, die große Sacraporta der Häretiker dulden. Würden wir Apythia vernichten, würde man sich an Pahaliah rächen.“
„Man kann doch keinen Engel töten!“ rief ich überrascht aus.
„Nein, aber die Häretiker könnten ihn an die Schatten ausliefern.“
„Welcher Mensch verschanzt sich freiwillig im Jenseits und hält dort einen Engel als Geisel?“ fragte ich verwundert, während wir die schlammige Straße überquerten. „Und wieso könnt ihr einen Kerl, der sich in imaginären Felsenhöhlen versteckt, nicht fassen? Wo gibt es das denn?“
„Das alles geht mich nichts an. Vermutlich ist das einer, der am Diesseits ohnehin wenig Freude hatte. Ich weiß nichts über ihn, außer seinen Namen“, erwiderte Manakel. „Er heißt Arthur Machen.“
Wir gingen durch die dunklen Gassen. Manchmal hörte ich über uns die Schwingen eines Engels, doch die meiste Zeit war es still und trostlos. Wir betraten eine enge Gasse, die zwischen zwei dunkle Gebäude führte.
„Wir haben nicht endlos viel Zeit. Dieser Ort ist zwar nicht gebunden an das, was ihr als Raum bezeichnet, doch wir sind hier gebunden an das, was ihr als Zeit bezeichnet. Verweilst du zu lange hier, vergeht im Diesseits zu viel davon.“
Doch wir waren bereits da. Ich erkannte die schmale Gasse, an deren Ende sich der Hinterhof befand, umgeben von Häuserfassaden. Inmitten des Hofs stand der Tempel mit dem Stier und dem Widder auf dem Dach. Das quadratische Gebäude trug ein steiles Dach und besaß ein zentrales Tor, das zwischen sechs Säulen stand.
„Er war hier“, zischte Manakel und sah sich um.
„Wer?“ fragte ich naiv.
„Lichtmann“, belehrte mich Manakel. „Ich kann ihn riechen.“
„Riechen ist das einzige, das mir hier wirklich schwer fällt“, brummte ich nachdenklich. Nach meinem Empfinden gab es hier nicht einmal Luft gab, geschweige denn etwas zu riechen.
Wir blieben vor dem Tor stehen.
„Beneficium“, seufzte Manakel abfällig. Der Gedanke daran, mich auch noch persönlich an die Pforte des „Häretiker-Tempels“ gebracht zu haben, schien ihn zu beschmutzen. „Die Schatten bemühen sich nun seit über dreißigtausend Jahren um das Diesseits und haben fast dreitausend davon auch wirklich regiert. Sie erschufen eine Welt, in der nicht mehr die Liebe den Unterschied macht, sondern die Information. So wie hier in diesem Tempel. Ob man weiß, dass man in wenigen Sekunden stirbt, oder ob man es nicht weiß. Perfide.“
„Es ist aber ganz praktisch“, wandte ich ein.
„Wie ein dressierter Hund wirst du ihnen nachlaufen“, sagte Manakel kalt und nickte stumm. „Denk an mich, wenn du im Herzen eines Schlachtfelds eintriffst.“
Ich blickte nicht ohne Furcht auf die schweren Eisengriffe an der Pforte. Es waren eingehängte Klopfringe, die das Emblem der Lux Aeterna darstellten.
„Eine Sache noch“, sagte der Engel. „Um die Ambrosia zu essen, wird dein Weg dich in die Stadt Worms führen, zu einem Mann. Sein Name ist Theophil Schorm. Suche ihn auf.“
„Ja?“ entgegnete ich. „Wollt ihr mich nicht lieber zu Coelho schicken?“
Ich begutachtete das Tor und legte meine Hand auf den schweren Ring. Dann sah ich zurück zu Manakel, doch ich blickte auf einen leeren Hinterhof, während über mir schlagende Schwingen rauschten und sich entfernten. Das hier waren keine Wesen fürs Händeschütteln.
Sie mochten mich nicht, das war offensichtlich. Ich war weder bußfertig noch besonders von ihrer Agenda überzeugt. Aus ihrer Sicht war ich höchstens der erhärtete Beweis, wie wichtig es war, dass sie wieder die Macht über die Erde ergriffen. Doch sie waren sich nicht zu schade, um mich bekehren zu wollen oder notfalls unter Druck zu setzen.
Hinter mir ragte der Turm hoch in den Himmel. Er sah aus, als wäre er Kilometer entfernt. Von vier Seiten senkten sich massive Rippen aus Stein herab und formten Stützmauern. Die Stadt war eine riesige, schwarze Torte mit einer Kerze in der Mitte. Es machte den Eindruck, als sei Thanatopolis auf einem Hügel oder sogar Berg erbaut.
Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Adam Kadmon, als er mir Unterweisungen für das Ritual mit Apythia gab.
„Ist diese Stadt nun echt oder ein Produkt meiner Phantasie?“ hatte ich ihn gefragt.
„Wir beide sehen hier weitgehend das selbe. Aber nicht wirklich. Für jeden ist es hier ein wenig anders. Und es verändert sich mit jedem Besuch, weil man sich im Diesseits mit anderen Bildern und Hypotheken anreichert, die hier reflektiert werden. Das geschieht kollektiv und individuell. Ist ein Spiegelbild echt? Es ist weder echt noch unecht. Es ist echt in seiner akkuraten Wiedergabe des Gespiegelten. Es ist unecht, wenn man versucht, es zu berühren. Dinge, die man willig und motiviert angeht, gelingen auch. Für das Beneficium gilt es besonders. Sei also nicht zaghaft, wenn du vor Apythia zur Prüfung stehst - was nicht bedeuten soll, dass du unverschämt sein solltest“, hatte mir Adam Kadmon auf seiner Milonga-Party im El Corazón erzählt. „Sie ist eine launische Mischung aus einer Sphinx, einem Orakel und einer Wunschfee. Wenn du vor sie trittst, wird sie dir in ihrer Funktion als Sphinx eine Frage stellen. Das ist nicht gefährlich. Antworte ehrlich und ohne nachzudenken. Apythia will nicht, dass du ein Rätsel löst, sondern sie muss erkennen, wer du bist. Dann erscheint sie in ihrer zweiten Funktion, als das Orakel. Nun darfst du ihr eine Frage stellen, und sie wird dir eine Antwort geben. Diese Antwort ist durchaus interessant. Doch der eigentliche Zweck der Übung ist, zu erfahren, wer du nicht bist. Und dafür eignen sich Fragen gut. Und in ihrer letzten Instanz tritt sie dir als eine Wunschfee entgegen. Das ist jetzt ganz wichtig. Versuche hier nicht geistreich oder gerissen zu sein. Sage einfach nur: Dieses Mal wünsche ich einen unversehrten Leib. Sprich es nach.“
„Dieses Mal wünsche ich einen unversehrten Leib“, hatte ich wiederholt, während sich ein lachendes Paar an meinem Rücken vorbei auf die Tanzfläche drängte.
Hier war ich also. Mehr oder minder bereit.
Ein dunkler, kleiner Hinterhof, mit Schlamm auf dem Boden und einer Art Kirche in seiner Mitte. Und oben am wolkenlosen, nächtlichen Himmel Engelssterne und Sternschnuppen der Seelen. Das war also das Jenseits. Das war also mein Jenseits.
Ich hatte mich noch nie zuvor so allein gefühlt. Das Jenseits war ein befremdliches Wechselbad der Gefühle und so gar nicht, wie ich es mir jemals vorgestellt hatte. Es hatte weder etwas Erlösendes, noch spendete es Geborgenheit, noch war es eine reine Erfindung. Es war eine Gegenwelt, die all das kompensierte, was wir im Diesseits erlebten und anrichteten. Und zurück im Diesseits kompensierten wir dann alles, das wir hier erlebten. Und so weiter. Sie hatten uns alle angelogen. Ich sammelte Mut für den letzten Schritt. Was würde Dick Grayson in dieser Situation tun?
Ich stellte fest, dass inzwischen die meisten Fenster der Hinterhoffassade erhellt waren. Bei den niedrigen Stockwerken konnte man recht gut hineinsehen. Plötzlich erkannte ich mich in jedem einzelnen Fenster. Mein Jenseits lief auf Hochtouren. Es waren Scheußlichkeiten, die in meinem Leben nie stattgefunden haben, doch ich wusste, sie entstammten alle meinem verschrobenen Geist. Ich wandte mich entsetzt ab von diesen Bildern.
„Ich bin schon viel zu lange hier“, dachte ich.
Wie erst muss es für Lichtmann gewesen sein, der hier seine ganze Jugend verbracht hatte? Kein Wunder, dass er einen Hau weg hatte.
Entschlossen packte ich den eisernen Griff und zog fest daran. Der Torflügel öffnete sich, gerade weit genug, dass ich mich hindurch schieben konnte. Noch einmal hörte ich hinter mir das trockene Rauschen von wuchtigen Flügelschlägen. Vielleicht beobachtete Manakel aus der Ferne, ob ich auch wirklich reinging, oder ein anderer Engel kam vorbeigeflogen. Hastig trat ich ein.
Der Raum war leer und besaß entlang der Wände einen Korridor, der durch Säulen gesäumt war. Nicht unbedingt antike Säulen. Gegenüber dem Tor stand zwischen zwei Säulen ein Podest, vielleicht einen halben Meter hoch. Und darauf befand sich ein wuchtiger Thron. Ob der Thron nur drei Beine hatte, wie einst der Hocker des Delphischen Orakels, konnte ich nicht erkennen. Denn oben auf saß Apythia, in einem langen Kleid, das bis zum Boden reichte.
Apythia war in ihrer Weiblichkeit sehr ambivalent. Ihr Gesicht war nicht sehr ansehnlich. Ihre scharfe, große Nase und die kantigen Gesichtszüge mit den starrenden Augen waren geradezu hässlich und muteten geisteskrank an. Im Gegenzug dazu besaß sie einen hellenistisch wohlgeformten Körper mit wunderschönen Brüsten und reizvollen Hüften.
Ich hatte bis zum letzten Augenblick gehofft, die Begegnung mit ihr würde sich am Ende als überwiegend allegorisch herausstellen. Eine sprechende Statue oder so etwas ähnliches. Doch während ich langsamen Schritts durch den leeren Saal näher kam, musste ich feststellen, dass sie nicht nur keine Statue war, sondern - sollte sie jemals von ihrem Thron aufstehen - gute vier Meter groß war. Ein Überweib.
Nicht ganz ohne Scheu blieb ich zehn Schritte entfernt stehen. Sie saß vor mir, breit und mit gespreizten Schenkeln, mehr einem Mann ähnlich. Ihre Knie waren verdeckt von dem langen Rock. Ihren rechten Ellbogen stützte sie auf den Oberschenkel.
Dann öffnete sie den Mund und sprach, mit einer kratzenden Stimme, die an das Krachen einer alten Autokupplung erinnerte.
„Der Neuling ist hier. Hattest du eine angenehme Zeit?“
„Ist das bereits die Frage?“ erwiderte ich.
Sie brach in ein schallendes Gelächter aus, so dass ich mich fragte, ob es die Decke des Tempels zum Einsturz bringen könnte. Ihre Stimme war wie eine Imitation von Diamanda Galás, gejagt durch tausende Marshall-Verstärker.
„Du willst also zur Sache kommen. Dann beginnen wir mit deinem Beneficium.“ Apythia beugte sich leicht vor und fixierte mich wie eine Kobra mit ihren stechenden Augen. „Es ist Nacht. Du stehst auf dem Dach eines Hauses und beobachtest die Stadt. Da siehst du unten einen alten bärtigen Mann in schmutziger Kleidung. Er schiebt einen klapprigen Karren voller Müll vor sich her und ist betrunken. Er geht die Straße entlang, fasst sich plötzlich ans Herz und stürzt zu Boden. Warum hilfst du ihm nicht?“
Ich dachte an Lichtmanns Worte, betreffend Apythias Funktion als eine Sphinx. Das hier schien nicht der Ort zu sein, an dem man um sein gutes Image bangen musste.
„Weil er möglicherweise eine Mund-zu-Mund-Beatmung braucht und ich mich vor ihm ekle.“
Apythia hielt kurz inne, erstarrte und erinnerte in der Tat für einen Augenblick an eine Statue. Dann fuhr sie pragmatisch fort. „Stelle deine Frage.“
Ich hatte mir keine Frage überlegt. Ich glaubte tausende zu haben, doch jetzt in diesem Augenblick schien mir keine einzufallen. Ich fühlte mich wie ein bekiffter Typ, den der Verkehrspolizist auffordert, kräftig zu spucken.
Doch dann stockte etwas in mir. Plötzlich hatte ich dieses Gefühl von Gegenwart und Augenblick. Dieses Gefühl, das man einige mal im Leben beim Wurf eines Basketballs hat - wissend, dass der Ball im Korb landen wird, ohne dass es dafür die geringste rationale Voraussetzung gibt. Der perfekte Augenblick.
„Weshalb träume ich von Blut und Schmerz?“ rief ich.
Sie starrte mir tief in die Augen. Ihr Blick besaß eine gefährliche Wildheit. Für einen Atemzug dachte ich, etwas sehr falsches gesagt zu haben.
„Weil Blut und Schmerz einmal dein Geschäft waren.“
„Ich verstehe die Antwort nicht!“
„Der Schlüssel ist bereits in deinem Besitz. Geformt zu einer Zahl. Du hast es nur nicht bemerkt. Die Frage ist damit beantwortet.“
Wieder erstarrte sie für einen Augenblick, wie ein Computer, der zwischendurch Daten speichern muss - fuhr aber sogleich fort. „Wie lautet dein Wunsch?“
„Ich will hier einfach raus“, sagte ich.
„So soll es sein“, erwiderte sie.
Sie begann ihren langen Rock hochzuziehen. Sie rollte ihn hoch, über ihre Knie, entlang ihrer Schenkel, über ihren Bauch. Während ich in ihre riesige Fut starrte, erfasste mich Licht, das aus ihrem Schoß hervor schoss, heller als jeder Scheinwerfer. Der Spalt schien zu wachsen und sich zu weiten. Ich trat zaghaft auf das Licht zu. Nach fünf Schritten stand ich direkt davor. Ich blickte hoch, dorthin, wo ich über mir Apythias Brüste und Gesicht vermutete, doch ich war zu sehr geblendet, vielleicht sogar blind, um etwas zu sehen. Es gab nur das Weiß und keine andere Farbe. Ich machte den letzten Schritt. Den Walk-In.