Ich hatte nicht erwartet, dass die Straßen von Thanatopolis in meiner Wirklichkeit schlammige Gossen waren. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir hier alles steril und trocken vorgestellt. Ich vermute, mit der subjektiven Ausprägung des Jenseits ist es wie mit den Küchen in Restaurants. Wir möchten glauben, dass sie sauber und steril sind, dass die Köche sich nach dem letzten WC-Besuch die Hände gewaschen haben und dass in den Schränken keine Kakerlaken leben. Und tief in uns ahnen wir doch, dass die Welt in ihrer Gesamtheit anders aussehen würde, wann das wirklich wahr wäre. Den Engeln schien meine Vision des Jenseits gleichgültig zu sein, denn sie mussten den Boden nicht berühren. Sah man auf, konnte man sie in den Lücken zwischen den Hausdächern wie geheimnisvolle riesige Libellen auftauchen sehen. Der matschige, nasse Boden blieb den toten Menschen und ihren Imagos vorbehalten.
Ein Ort des Frohsinns war diese Stadt wirklich nicht. Im diesseitigen Zeitalter des Internets, der Soap-Opern und der Ecstasy-Pillen, war der Vorhof zum Reich Gottes wie eine kahle dreckige Festung in den Tagen der Völkerwanderung.
Zumindest für jemanden wie mich.
Hatte ich es denn wirklich so gut gehabt im Diesseits? Pflegte ich zu jammern und über die Gesellschaft zu klagen, während es mir in Wirklichkeit besser ging, als den meisten Menschen?
Bald schon begann ich die Bewegungen um mich herum zu erkennen. Wer zum ersten Mal bewusst in die Spiegel geht und mit Hilfe der Aschewerdung das Thanatopolis durchschreitet, hat in dieser Stadt an dieser Stelle sein großes Aha-Erlebnis. Es waren Gestalten, wie in einem Traum, die an mir vorbeigingen oder geradezu vorbeischwebten. Dabei kam es mir vor, als wären alle unsichtbar und ich hätte nur eine sanfte Ahnung von ihrer Anwesenheit. Sie waren hier und sie waren es doch nicht. Aber vermutlich sahen sie mich genauso schlecht.
Es war ein seltsamer Streich, den mir meine Jenseits-Augen da spielten. In dieser Stadt machte Eigenbewegung blind. Sah ich mich hastig um, so nahm ich nur leicht schimmernde Dunkelheit wahr. Doch verharrte ich eine Weile und begann auf eine Stelle zu starren, wurden die Konturen heller. Und das galt für alles um mich herum. Sah ich die Dinge nur beiläufig an, verschwanden sie. Verharrte ich bewegungslos, bekamen sie Konturen und Gesichter.
Eigentlich war hier nichts so richtig dunkel. Ein finsterer Ort, der unentwegt kaltes Licht abgab. Die Mauern, der Boden. Es war kein Leuchten oder Strahlen. Es war beinahe nicht sichtbar und auch zu schwach, um Dinge wirklich zu beleuchten. Aber es war fluoreszierend genug, um in jeder noch so dunklen Ecke dieser Bauwerke die Konturen und Wände erkennbar zu machen.
Akhanta behielt recht. Die Sacraporta hatte mich nur einige Schritte von meinem Ziel entfernt ausgespuckt. Am Ende der Straße sah ich den weißen Tempel in einem offenen, kleinen Hof. Auf seinem Dach, in einer aggressiven Bewegung erstarrt, mit angespannten Muskeln und ineinander verkeilten Hörnern, stießen gerade ein Stier und ein Widder ihre Schädel gegeneinander. Möglichst im Schatten der Häuser gehend, schlich ich mich auf kürzestem Weg dorthin, vorbei an unzähligen schwarzen Fenstern.
Vor einem der Häuser blieb ich stehen. Es war dunkel wie alle anderen, doch ich presste neugierig mein Gesicht gegen das Fensterglas im Erdgeschoß und hielt mir die Hände an die Schläfen. Nun begann ich im Haus Konturen zu erkennen. Licht und Form traten hervor und verrieten ihr Geheimnis. Ich sah Kinder, die am Tisch saßen, und eine Mutter, die das Essen auf ihre Teller austeilte. Während die Kinder begannen, mit ihren Holzlöffeln in die Teller zu fahren, versammelte sich die Familie im Zimmer und sah ihnen stumm beim Essen zu. Dann traten die Mutter und die Großmutter jeweils hinter ein Kind. Ich sah in ihren Händen lange Messer aufblitzen und schon begannen sie mit einem gekonnten Griff die Kehlen der Kinder durchzuschneiden. Ich zuckte verstört vom Fenster weg. Streng nach Adam Kadmon hätte ich es nicht sehen können, wenn es keinen Bezug zu mir selbst gab.
Doch ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken.
„Sie sind endlich hier“, erklang es neben mir.
Ich fuhr herum, wobei ich beinahe in den Schlamm gestürzt wäre. Ich kniff meine Augen zusammen.
Es dauerte etwas, bis ich ihn erkannte. Vor mir stand ein Mann mit einem breiten schwarzen Arztkoffer. Um den Eindruck seines Berufes zu verstärken, hielt er in der Hand ein Stethoskop. Nach dem ich diese Spiegelung angenommen hatte, blieb sie gut sichtbar, als stünde der Mann im Diesseits vor mir.
„Ich verstehe nicht...“, murmelte ich verwirrt.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte der Arzt resolut, doch mit einem mitfühlenden Blick. „Leider haben wir kaum noch Zeit.“
Ich folgte ihm in eine der zahlreichen Seitengassen. Etwas misstrauisch trat ich durch eine Tür und blieb stehen. Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und die schlichten, schäbigen Möbel im Zimmer immer sichtbarer wurden, überschlugen sich meine Gedanken, und ich erstarrte wie einer der Felsen hinter der Großen Ebene.
„Setzen Sie sich ruhig zu ihm“, sagte der Arzt leise. „Ich muss jetzt weiter. Ich habe noch fünf Patienten, die sich ebenfalls kein Krankenbett leisten können.“
Als ich mich umsah, war er bereits verschwunden.
Ich stand eine Weile da und wagte es nicht, mich zu rühren. Erst langsam trat ich näher. Am Fuß des Bettes griff ich taumelnd nach dem Metallgestell, um Halt zu finden. Als ich zögerlich auf den Bettrand rutschte, machte er die Augen auf und sah mich. Nun wusste ich es ganz genau.
„Roman“, hauchte ich leise aus. „Was machst du hier?“
Er sah so anders aus. Seine Wangen waren eingefallen, und ich erkannte kaum etwas an ihm wieder, außer den funkelnden, dunklen Augen. Entlang seiner Unterarme sah ich runde Flecken, die geradezu bläulich und rötlich glühten.
Roman schluckte einige Male schwer und öffnete schließlich die Lippen.
„Du hast mich gefunden...“
Ich erschrak bei dem Klang seiner Stimme. Es war, als gehörte sie jemandem, der dreißig Jahre älter war. Ich suchte vergeblich nach der Schönheit, die ich ihm manchmal geneidet hatte. Als wir noch Jungs waren.
Er schien meine Gedanken zu erraten.
„Endlich siehst du... besser aus als ich“, sagte er leise und hüstelte bei dem Versuch, über seinen eigenen Witz zu lachen.
„Ich... Ich habe einen Engel gesehen“, flüsterte er und schluckte wieder schwer.
Ich blickte mich um und sah neben dem Bett eine Karaffe und ein Glas. Ich goss hastig Wasser ein und beugte mich über Roman. Ich musste seinen Kopf anheben und das Glas an seine Lippen halten. Er fühlte sich leicht an. Wie ausgetrocknet. Er nahm einige Schlucke, und während ich seinen Kopf vorsichtig zurücklegte, blickte er erschöpft zur Decke.
„Er sagte etwas zu mir“, fuhr mein Bruder nach einigen Augenblicken fort und sah mich wieder an. „Schäme dich niemals für deine Male.“
Ich schwieg und beobachtete ihn. Für einen Moment dachte ich, er löse sich wieder in Nichts auf, bis ich begriff, dass sich meine Augen mit Tränen füllten.
Seine Hand berührte mein Handgelenk.
„Ich dachte, es dauert Jahre...“, erwiderte ich. „Es gibt doch bereits Behandlungsmethoden... Wieso...“
„Klar...“, röchelte Roman. „Hier im Emergency Room...“
Ich sah mich um und erkannte, dass wir uns nicht in einem Krankenhaus befanden, sondern in einem schäbigen Hotelzimmer. Ein kitschiges Bild hing über Romans Bett und zeigte den Sonnenuntergang über einem tropischen Hafen.
Ich blickte die Sarkome entlang seiner Arme an. Sie sahen aus wie riesige Brandflecken in einem Teppich.
„Ich war nicht da, Mann...“, murmelte ich mit weinerlicher Stimme. „Ich habe dich immer nur im Stich gelassen.“
„Schschsch...“ Ich spürte, wie sich der Druck seiner Hand verstärkte. „Ich hätte dich nur in den Abgrund gezogen, so wie ich jeden in den Abgrund gezogen habe.“
„Das kann ich selber ganz gut“, erwiderte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Ich wollte, dass man sich an mich erinnert“, flüsterte Roman mit brüchiger Stimme. „Ich wollte... Ich wollte Anerkennung. Ich wollte mich am Leben erfreuen.“
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah verlegen zur Seite.
Er schwieg. Ich sah stumme Tränen aus seinen Augenwinkeln laufen.
„Aber jetzt ist alles anders“, flüsterte ich. „Du bist nicht allein.“
„Es ist alles eine Lüge“, flüsterte Roman undeutlich. Seine Worte schienen sich in seiner Kehle zu verlieren. „Unsere Familie. Das Leben. Die Krankheit.“
Ich spürte den schwachen und doch bemühten Druck seiner kalten Hand und beobachtete, wie langsam das berühmte Licht in seinen Augen, von dem unsere Eltern so viel schwärmten, erlosch. Jenes nicht greifbare Zittern in seinem Blick verwandelte sich in starre, hohle Dunkelheit. Er war weg.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe. Doch als Roman vor meinen Augen langsam entschwand und meine Hände leer auf dem schmutzigen Bett ruhten, wusste ich, dass es vorüber war. Wie betäubt stand ich auf, tat einige Schritte rückwärts, bis ich die Wand des Zimmers in meinem Rücken fühlte. Dann rutschte ich langsam zu Boden und verbarg mein Gesicht.
Über das Linoleum des Hotelzimmers lief eine große, schamlos schimmernde Kakerlake.