Wir befanden uns am Rande einer Kleinstadt. Das Straßenschild verriet, dass der Ort Hadamar hieß, was mich unweigerlich an eine jemenitische Siedlung denken ließ. Doch danach sah es hier nicht aus. Unweit des Lastwagens befand sich ein kleiner Park mit Sitzbänken und deutlich markierten Abfallkörben. Ich sah zu Sargon. Die Soldaten, die nun in unscheinbare Zivilkleidung geschlüpft waren, beachteten mich nicht. Sie standen neben dem Straßengraben, rauchten und unterhielten sich.
Langsam und etwas angestrengt legte ich die zwanzig Meter zu dem Park zurück, kam an einer Informationstafel vorbei, die mich darüber informierte, dass das nahegelegene Flüsschen Elbbach hieß, die Stadt reizvolle Bauwerke aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock besaß und als das Tor zum Westerwald bezeichnet wurde. Ich setzte mich auf die erstbeste Bank und ließ kurz meinen Oberkörper fast zwischen den Knien hängen.
‚Einen Drink’, dachte ich. ‚Einen verdammten Drink und alles wäre besser.’
Als sich das Kind neben mich setzte, blickte ich überrascht auf.
„Mach die Fliege, Mädchen“, röchelte ich. „Ich habe hier eine Verabredung.“
Sie blickte mich streng an.
„Sei nicht lächerlich, Kámen.“
Ich stockte und begann ein paar Dinge zu kombinieren.
„Lichtmann? Paul Lichtmann?“
„Jetzt heiße ich Kerstin Koch.“
„Wie ist das möglich?“
„Die Aschewerdung schließt ein derart exotisches Beneficium nicht aus. Normalerweise halten sich Seelen an einem Geschlecht fest, aber es gibt genug Ausnahmen. Noch nie einem Menschen begegnet, der ganz eindeutig eine Frau, gefangen in einem männlichen Körper, ist? Oder umgekehrt?“
„Wusste nicht, dass es bei dir der Fall ist.“
„Unsinn! Apythia ist manchmal ein richtiges Miststück. Weitere Erklärungen gibt es dazu nicht.“
Ich starrte das Kind entgeistert an und musste unweigerlich an die japanischen Kogals denken. Es mochte neun, höchstens elf Jahre alt sein. Es war hübsch und hatte Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase. Es trug ein langes, weißrotes Kleidchen und einen adretten, kleinen Strohhut. Ich musterte die kecken roten Tommy-Hilfiger-Lackschühchen an den kleinen Füßen und dachte darüber nach, dass es heutzutage ein höchst unsittliches Bild abgab, wenn ich - ein alter Landstreicher - hier mit einem kleinen Mädchen auf einer Bank saß und redete. Vorbeifahrende Polizisten wären sicherlich nicht darum verlegen, mir einige Fragen zu stellen. Würden dann die Haudegen aus dem unweit entfernten Lastwagen kommen und mich beschützen? Ganz sicher nicht.
„Aber was machst du hier?“ fragte ich vollkommen naiv und ahnungslos. „Solltest du nicht die große konspirative Organisation Lux Aeterna anführen, gegen ihre Gegner, das dogmatische Kerygma und das gierige Oktagon?“
„Alles zu seiner Zeit“, erwiderte Paul Lichtmann, alias Adam Kadmon - nun auch alias Kerstin und begann ein Jojo rhythmisch auf und ab zu rollen. „Dieses Mädchen ist technisch gesehen vor zwei Tagen gestorben. Ich wollte einfach diese einzigartige Gelegenheit wahrnehmen, wieder ein Kind zu sein und einige Tage hierzubleiben. Ich stelle fest, es hat sich nichts geändert. Kind sein ist großartig, Eltern zu haben ist... höchstens ambivalent.“
Nachdenklich nickte ich vor mich hin und versuchte das Mädchen nicht anzustarren. Wir beobachteten einige Augenblicke schweigend die vorbeigehenden Menschen. Konzentrierte Jogger, einsame Frauen mit Hunden, vergessene Rentner, die hierherkamen, um noch einmal das einzuatmen, was sie zunehmend mit ihrer Jugend verbanden: frische, saubere Luft.
„Die Eltern von Kerstin Koch hätten ihr Kind bei einem grässlichen Autounfall mit einem Sattelschlepper verloren. Ich bin in diesem Körper beiseite gesprungen. Aber ich kann nicht für immer hierbleiben und Kerstin spielen. Irgendwann werden sie den Verlust dennoch erfahren müssen. Nur eine Woche später. Ihr Kind wird spurlos verschwinden. Die Polizei wird ermitteln. Die Medien einen soziopathischen Mörder vermuten. Entspricht dem heutigen Zeitgeist.“
„Ich habe so viel gelernt“, sagte ich leise. „In den letzten Tagen... Ich kann nun sehen. Aber ich weiß nicht, wie ich damit leben soll.“
Kerstin hörte auf, mit dem Jojo zu spielen und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Ich bin mir nicht sicher, ob das unser Problem ist, Jan-Marek. Wir haben dir bereits mehr gezeigt, als den meisten vergönnt ist. Die Engel haben dich in ihr Vertrauen gezogen. Und noch immer beklagst du dich?“
„Ich habe Celeste gerettet. Obwohl sie vermutlich kam, um uns zu töten.“
Kerstin schaukelte nachdenklich mit den Füßen unter der Sitzbank.
„Ich bin dir dankbar für deine Tat. Ich kann dir versichern, sie war nicht dort, um dich zu töten. Sie hatte keine Ahnung, dass du da bist. Ihr Auftrag war es, Theophil Schorm zu beschatten, nicht, mit ihm in Interaktion zu treten.“ Sie hielt inne und blickte mich an. „Wenn du bei Schorm warst, warst du vorher bei Rafael oder sogar Michael.“
Ich schwieg.
„Hattest du die Ambrosia gegessen?“
Ich nickte stumm.
„Wie war dein Eindruck?“
Nachdenklich suchte ich nach passenden Worten. „Ich war... überwältigt.“
„Ein schmieriges Orientierungsvideo der Engel. Ein interaktiver Propagandastreifen auf Halluzinogenbasis. Wir bringen die Ordnung, bla bla. Wir organisieren die Zukunft, bla bla. Wir sorgen für Harmonie, bla bla. Reich der Liebe, bla bla.“
„Vielleicht ist nichts schlechtes daran, ein Reich der Liebe zu erbauen“, argumentierte ich.
„Hat er von den Dämonen, als dem Abfallprodukt der Baryogenese gesprochen?“ zitierte Kerstin abfällig schnaufend. „Das Mirillium am Ende der Zeit? Unter der sanften, gerechten Führung der Engel? Die könnten nicht mal einen Hamsterkäfig regieren. Pah...“ Das Mädchen blickte mich ernst an und verband, mehr einem alten Professor ähnelnd, den Zeigefinger und Daumen zu einem Ring und bewegte ihn während der Ausführungen auf und ab. „Weißt du, dass Engel nicht einmal eine eigene Sprache haben? Mit uns Menschen müssen sie in ihren eigenen Mundarten sprechen, die wiederum alle auf das Dam-Har der Dämonen zurückzuführen ist. Und wie kam das zustande? Der Engel Luzifer erschuf aus dem Geist der Dämonen die Sprache und gab sie den Menschen. Vor über fünfzigtausend Jahren. Das größte Geschenk, das auf diesem Planeten jemals überreicht wurde.“
„Der Teufel gab uns die Sprache?“
Kerstin sah mich tadelnd an und verzog den Mundwinkel.
„Manchmal glaube ich, du bist noch bikameral. Oder ein Mykoplasma. Das Wassermann-Zeitalter soll nicht den Engeln und nicht den Dämonen gehören, sondern den Menschen. Um das zu ermöglichen, sind wir hier. Abschaffung des Geldes, Abschaffung der Politik, Abschaffung sämtlicher Religionen. Frei Nahrungsmittel für alle, freie Energieressourcen für alle. Der Mensch, der endlich beginnen kann, sich mit den Problemen zu befassen, die in ihm innewohnen, anstelle sich stets unter Problemen zu krümmen, die ein Haufen Ausbeuter im Anzug auf seine Schultern bürden.“
„Das ist sehr idealistisch... Für einen Teufelsdiener.“
„Die Inferni waren stets große Idealisten. Niemand ist so human, wie der Teufel.“
„Es wird nicht sehr einfach sein, eine solche Utopie umzusetzen...“
„Wir werden sehen.“
„Sie haben versucht mich zu rekrutieren“, wechselte ich das Thema.
Das Mädchen verzog den Mundwinkel. „Die Engel sind verzweifelter, als ich dachte.“
„Ich will einfach nur ausschlafen. Ich will, dass mich eurer arroganter Arzt untersucht, denn ich fühle mich beschissen. Ich glaube, meine Leber ist im Eimer. Ich habe kein Geld und keine Bleibe. Meine einzige Verbindung zu klarem Verstand ist von euch erschossen worden.“
Kerstin zog das Knie hoch und stützt ihr Kinn darauf ab.
„Wir sind kein Hotel, du mysteriöses Trampeltier.“
„Aber ich weiß jetzt, was du von mir wissen wolltest“, erwiderte ich selbstbewusst und lauschte den flüsternden Baumkronen.
Das Mädchen schwieg einige Augenblicke und blickte mich nachdenklich an.
„Ich höre“, sagte es schließlich.
Ich genoss noch kurz den Augenblick, dieses Gefühl von kurzer und doch erstmaliger Bewegungsfreiheit auf dem Spielbrett. Dann blickte ich das Mädchen an.
„Wer ist Damian Stagnatti?“
„Oh-o“, lachte Kerstin gekünstelt auf. Es klang mehr wie ein schmerzvolles Stöhnen.
Sie schwieg wieder und ich sah im Augenwinkel, dass sie undeutlich den Kopf schüttelte und sich auf die Unterlippe biss. Dann wandte sie sich von mir ab und machte eine unauffällige Geste zu Sargon hinüber. Der Kriegerchef kam herbei und blieb einige Meter entfernt stehen und tat so, als würde er etwas in sein Mobiltelefon tippen.
„Nehmt ihn mit und lasst ihn paar Tage bei uns wohnen. Wir sehen dann weiter.“
Sargon nickte nicht und gab auch sonst keinen Laut von sich, sondern kehrte gelangweilt zum Lastwagen zurück.
„Könnte interessant werden“, äußerte sich Kerstin nachdenklich.
Nun rutschte das Mädchen von der Parkbank herab und glättete sein Kleidchen.
„Was hast du eigentlich zur Apythia gesagt, um so einen abgewrackten Wirtskörper zu kriegen?“ fragte es.
„Ich weiß nicht mehr. So was wie: ich bin ein Star und will hier raus.“
Die kleine Kerstin seufzte und klopfte sich auf die Stirn.
„Dummkopf.“
„Na, deine neue Identität ist auch nicht gerade ein Triumph...“
Adam Kadmon hielt inne und grinste.
„Stimmt. Aber ich bin wesentlich ansehnlicher. Die Jungs und Mädels werden es hassen, sich von einer kleinen Göre kommandieren zu lassen.“
Sie wollte sich wieder entfernen, und auch ich kämpfte mich auf die Beine.
„Was für eine Rolle spielt Gott in all dem? Gibt es ihn überhaupt?“
Ich hörte ein fernes Rufen. Es war eine Frauenstimme. Kerstin sah kurz in die Richtung, aus der sie gekommen war.
„Gott existiert, wenn man an ihn glaubt, und er tut es nicht, wenn man nicht an ihn glaubt.“
„Das ist alles?“ rief ich aus. „Das ist die ganze Antwort?“
„Warum nicht? Es ist vollkommen legitim, an Gott zu glauben, solange man nicht auf ihn zählt.“
Kerstin wickelte wieder das Jojo ab.
„Das ist eine sehr grausame Sicht der Dinge.“
„Das Leben ist grausam. Eine Krankheit, die mit der Geburt beginnt und stets mit dem Tod endet. Ein verlorener Wettlauf mit der Zeit.“
„Ich möchte aber nicht in einer Welt leben, in der alles sinnlos ist. In der niemand mehr glaubt, oder ein Ideal hat.“
„Das hier sind nicht mehr die Tage von Pontius Pilatus. Es gibt nichts mehr zu glauben. Glaube ist die Abwesenheit von Wissen. Und Wissen ist die Abwesenheit von Gott.“
„Aber viele Menschen zählen auf ihn“, erwiderte ich, gewahr der Tatsache, dass ich im Augenblick nicht zu ihnen gehörte.
„Denkst du, er ist bösartig?“ fragte mich Kerstin.
„Bösartig?“
Ich hörte wieder jemanden Kerstins Namen rufen.
„Ich komme!“ rief sie über die Schulter.
„Kannst du dich nicht gleich melden, wenn ich rufe!?“ wetterte eine Frauenstimme hinter dem Heckenzaun.
„Denkst du, Gott ist bösartig, weil er seine traurigsten Kinder in Konzentrationslagern umkommen lässt? Weil Gott nur denen hilft, die ihm Opfer bringen?“ Das Mädchen sah mich beim Sprechen nicht an, sondern konzentrierte sich auf die kleine grüne Scheibe, die entlang des Fadens auf und ab rollte. „Nein... Auf Gott zählen, ist die eitelste Sicht auf die Welt, die es geben kann. Die Vorstellung, dass jene Kraft, die aus dem Nichts das Etwas erschafft und die im gesamten Universum den Molekülen Leben, sogar Geist einhaucht, dass diese Kraft eine Singularität vornimmt an einem Schwachkopf, der gerade unter einem geschrotteten BMW liegt, am Rande einer Autobahn, nachdem er die letzten zwei Stunden seines Lebens damit verbrachte, die Autos vor ihm anzublinken, ist absurd, traurig und lachhaft zugleich. Der einzige auf dieser Welt, der dir mit Sicherheit nicht helfen wird, ist Gott. Wir sind jetzt die aktiven, nicht Gott. Wir sind am Zug, und wir haben keinen Dispo-Kredit.“
Ich wusste nicht, ob er mit „wir“ die Menschen meinte, oder seinen Ritterverein im Dienste von Satan.
„Also sind die Atheisten fein raus, weil sie sich nicht mit Dingen belasten, die ohnehin keinen Zweck haben...“, meinte ich, während sie sich von mir wieder abwenden wollte.
Das Mädchen blickte mich an, als hätte es mich beim Popeln erwischt. „Hey, nur weil man plötzlich nicht mehr glaubt, dass ein Auto eine Schwanzverlängerung ist, hört es deswegen nicht auf zu fahren.“
Ich sah das Kind verdutzt an.
„Früher blieb kein Gebet ungehört“, sagte es mit halbleiser Stimme. „Aber nur weil man eine Stimme hört, weiß man noch nicht, ob sie von den guten Jungs stammt. Es ist ohnehin zwecklos in sein Gebet Wunschgedanken hineinzuschmuggeln. Gott wird nicht antworten auf: Lieber Gott lass mich den Jackpot knacken.“
Ich blickte vor mich hin und beobachtete eine Ameisenstraße, die unter der Parkbank hindurch führte. Einige bogen bereits ab, um sich mit einem halbtoten Käfer zu beschäftigen. Irgendwie kam es mir vor, als wäre ich der Käfer, umgeben von blutrünstigen Ameisen. „Das verstehe ich, aber es macht doch niemand...“
Das Kind blickte mich noch immer an und sah nun sehr traurig aus.
„Aber du musst verstehen, dass es im Auge Gottes kein Gut und kein Böse gibt. Es gibt kein Reich und kein Arm - außer als eine gemeinsame vergängliche Idee der Menschen. Es gibt kein Glück und kein Unglück. Und wenn man in sein Gebet hineinschmuggelt: 'Lieber Gott lasse nicht zu, dass meine Tochter stirbt', so ist es genauso verfehlt. Das ist die große schreckliche Essenz der eigenen Existenz. Die Antwort auf die Beschaffenheit dieser Welt. Gott erfüllt keine Wünsche. Nur Menschen tun das. Ein Gebet muss das reinste Opfer sein, das es gibt. Kaum noch jemand versteht das heute. Ein Gebet muss lauten: 'Ich nehme mein Schicksal an. Ich werte nichts und niemanden. Denn nur dann bin ich deiner würdig'. Keine menschliche Täuschung, kein Wunschdenken soll dem im Weg stehen, wie ehrenhaft es auch immer anmuten mag. Das ist ein Gebet, das Engel herbeiruft. Was aber unterm Strich total langweilig ist. Wie alles Engelhafte“, erklärte das Kind und lächelte verschmitzt. Sie streckte ihre Zeigefinger aus und ließ sie wie zwei kleine Hörner durch ihr blondes Haar hervor wachsen. „Weißt du wie ein vollkommen langweiliger Planet aussieht?“
Ich schüttelte den Kopf.
Sie spazierte davon und hüpfte einige Meter nur auf einem Bein. Dann blickte sie zu mir zurück und rief mir die Antwort zu.
„Frische Luft, grüne Auen und darauf eine Milliarde Zen-Meister.“
Das Kind kicherte, während sich mein Gesicht zu einer Grimasse verzerrte. Es schob beide Zeigefinger durch sein Haar, so dass sie wie kleine Hörner herauslugten und blickte mich mit einem spöttischen und wahrhaft dämonischen Blick an. Dann drehte es sich auf der Ferse um und spazierte singend davon.
Ich blickte dem kleinen Ding noch eine Weile hinterher, bis es zwischen den Bäumen der Allee verschwand.
„Sargon war der Name, richtig?“ krächzte ich in die Richtung des Lastwagens.
Ich verspürte schon die ganze Zeit einen stechenden Hunger. Schließlich hatte ich seit meinem Besuch in der Bahnhofsmission nichts gegessen. Nun wurde mir richtig schwindlig. Ich raffte meine alten Knochen zusammen und taumelte zu dem kaltschnäuzigen Hünen.
„Wir halten als nächstes irgendwo an und besorgen was zum Futtern. Sonst könnt ihr vergessen, dass ich kooperiere“, sagte ich selbstbewusst an.
Sargon behielt sein Marmorgesicht und deutete wortlos seinem Gefolgsmann, sich hinter das Steuer des Wagens zu klemmen. Er stieg dann mit mir in den Container hinein und öffnete einen der Stahlschränke. Es war ein Kühlschrank voller Essen.
„Heilige Kuh“, flüsterte ich.
„Iss nicht zu schnell, Arschloch“, meinte Sargon mit gelangweilter Stimme. „Ich will hier keine Kotze aufwischen.“
Er verließ den Container und verschloss die Tür von außen.