Einige Stunden später saß ich in seinem Auto und ratterte auf der A61 nach Worms.
Sein Wagen war nicht nur alt, sondern auch noch klapprig. Ich fand, dies war ein Beispiel für Sparsamkeit an falscher Stelle und eine vollkommen überzogene Demonstration der angelischen Tugenden. Ich hatte nicht erwartet, dass ein Kerl, der für die Engel arbeitet, mich in einem Maserati abholt, doch ungeachtet allen Retro-Charmes, war ein Borgward Isabella, Baujahr 1961, ein recht starkes Stück. Die Kiste machte nach ihrem langen und vermutlich ereignislosen Leben gerade mal hundertfünfzehn Stundenkilometer.
Schorm war beinahe siebzig und wirkte nicht wie ein Gelehrter, sondern wie ein Typ, der sein Leben lang in einer Fabrik gearbeitet hatte und nun endlich Zeit fand, sich dem wichtigsten Ding im Universum zu widmen: der Pflege von tropischen Zierfischen in einem Aquarium. Er trug ein gestreiftes Hemd mit einem dünnen ärmellosen Pullover mit V-Ausschnitt, und für einen Augenblick dachte ich, dass er sich beim selben Caritas-Schneider einkleiden ließ, wie ich.
„Was ist Ihr Gebiet?“ fragte ich ihn, während hinter uns erneut ein ungeduldiger BMW-Fahrer seine Scheinwerfer aufblendete.
„Mein Gebiet?“ fragte er verwundert und drehte stoisch an dem großen Lenkrad.
„Ich dachte, Sie seien ein Wissenschaftler.“
„Sie haben recht. Eigentlich bin ich Theologe. Aber unter den gegebenen Umständen ist das mehr eine Fassade. Ich arbeite seit vierzig Jahren für die Hierarchie.“
„Die Hierarchie?“ sprach ich ihm nach. „Sie meinen wie bei Dionysius Areopagita?“
Er nickte und überholte mühsam den nächsten Lastwagen.
„Waren sie jemals drüben?“
„Nein“, rief er lachend aus. „Ich meine, natürlich schon, eine Million mal sicherlich, aber nicht so, wie Sie denken. Es wäre eine unvergleichliche Häresie. Umso erstaunlicher, dass Sie...“
Er blickte mich kurz an, mit diesem freundlichen Gelehrtenlächeln, das verriet, dass er im Grunde keine Ahnung hatte, was ich in seinem Auto tat.
„Ich bin da irgendwie zwischen die Parteien geraten“, erklärte ich, ohne selbst besonders gut zu wissen, was ich sagte. „Sie kennen das ja... Kerygma, Lux Aeterna, Oktagon Foundation.“
Theophil Schorm nickte verständnisvoll.
„Bevor ich mich versah, war ich mit einem gewissen Paul Lichtmann im Jenseits. Doch es stellte sich heraus, dass er nicht mein Freund war. Dann kam ich vor den Erzengel Michael, und der ließ mich wieder gehen.“ Ich konnte nicht fassen, dass ich einen derartigen Unsinn redete und auch noch tief davon überzeugt war, dass es die Wahrheit war. „Er sagte, er werfe kleine Fische zurück in den Teich. Er verwies mich sogar an Sie und sprach von einer göttlichen Nahrung, die ich durch Sie bekäme.“
Der Wagen machte einen Schlenker.
„Sie meinen, Erzengel Michael will, dass ich Ihnen das Manna zur Verfügung stelle?“
„Manna? Ich weiß nicht, ob er das meinte. Er sagte: Nach deiner Rückkehr wirst du Ambrosia speisen, und dann wirst du verstehen.“
„Kein Zweifel!“ rief Schorm aus. Die Brille auf seiner Nase zitterte. „Wer sind Sie nur? Die Ambrosia wurde seit Jahrzehnten nicht mehr verabreicht. Ich bin der letzter Wächter der göttlichen Nahrung.“
„Manna ist doch das Zeug, das den Israeliten half, die Wüste zu überstehen.“
„Ja, ja, das ist eine der vielen Darstellungen. Profanisiert, wie so vieles. Bei Jesus ist das Manna jedoch das Brot des Lebens. Er benutzt es als Metapher für die göttliche Energie, die uns alle durchströmt.“
„Ah ja? Und das soll ich essen?“
„Das Empfangen göttlicher Energie zeichnet sich durch Wissen und Klarheit aus“, erklärte der Gelehrte nervös. „Eine wirklich zutreffende Beschreibung findet sich unerkannterweise an einer ganz anderen Stelle. Lesen Sie Hesekiel, Kapitel 3.“
„Werde ich tun“, erwiderte ich etwas verstockt.
„Das Manna war viele Jahrhunderte im Besitz der Essener“, fuhr Theophil Schorm fort.
„Die Essener?“ fragte ich und stellte mir dabei eine Sekte im Ruhrgebiet vor.
„Die Essener waren eine religiöse Gemeinschaft, die kurz vor Christi Geburt existierte. Sie waren die Hüter zahlreicher Geheimnisse und eins davon war die Nahrung der Engel. Haben Sie noch nie etwas von den Schriftrollen vom Toten Meer gehört?“
„Vage“, gab ich aufrichtig zu.
„Der Historiker John Marco Allegro war der Wahrheit dicht auf der Spur. Er arbeitete in der wissenschaftlichen Kommission, die in den fünfziger Jahren mit der Untersuchung der Schriftrollen beauftragt war. Doch er beharrte auf dem Standpunkt, alle Erkenntnisse der Welt mitzuteilen, was die anderen Forscher ihm recht übel nahmen. In einem seiner Bücher beschrieb er die Ähnlichkeit mit psychedelischen Substanzen. Im zwanzigsten Jahrhundert kamen nur drei Menschen in den Genuss dieses Lichts. Einer von ihnen, wie hieß er noch...? Young... Arthur M. Young. Er kam zu mir während einer...“
„Und was macht diese Nahrung der Engel?“, wechselte ich das Thema, da ich das Gefühl hatte, dass er sich zu verzetteln begann. „Offensichtlich nicht den Bauch füllen.“
„Das ist richtig. Die Ambrosia oder das Manna war dafür gedacht, eingeweihten Gefolgsleuten die wahre Geschichte der Menschheit zu vermitteln. Doch als die Welt den Schatten in die Hände fiel und alles durchdrungen wurde von Zweifel und Disharmonie, gab es nur wenige, denen die Hierarchie den Verzehr von Ambrosia zutraute. Michael muss große Hoffnung in Sie setzen.“
Oder er ist verzweifelt, dachte ich und brummte stattdessen: „Damit steht er sicher ganz alleine. Er meinte, ich soll ein Buch schreiben, doch vermutlich haben die mich nur aufgezogen...“
„Engel machen keine Witze“, belehrte mich Schorm.
„Vielleicht doch. Unfreiwillig“, meinte ich müde. „Der eine hatte auf jeden Fall ein Talent dafür. Wie hieß er noch? Es fühlt sich alles wie ein Traum an, als könnte es alles wieder aus meinem Gedächtnis verschwinden. Manakel. Manakel war sein Name.“
„Sie haben mit Manakel gesprochen?“ stieß Schorm aus und schlug fröhlich auf das Lenkrad. „Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. Aber ich bin glücklich, dass er noch existiert!“
Er fummelte während der Fahrt an dem nachträglich eingebauten Kassettenspieler. Schließlich rastete die Kassette ein und nach einigen Augenblicken erklang Musik.
Der Sound war deutlich älter als der Borgward Isabella. Es musste sich um einen Schlager aus der Zeit vor dem Weltkrieg handeln.
„Gefällt Ihnen das?“ fragte Schorm und drehte sogleich lauter, während aus den Lautsprechern tönte: Wir gehn' so leicht am großen Glück vorbei und lassen uns das Schönste oft entgehen. So manche Liebe bleibt Liebelei, immer wieder heißt es nur ‚Lebwohl’ und ‚Auf Wiedersehen’.
„Was ist das?“
„Willi Forst in einem Lied von Michael Jary. Ganz großes Kino, sage ich Ihnen“, erklärte er.
Draußen wurde es langsam dunkel, und Willi Forst besang dazu die Traurigkeit verpasster Momente: Wir suchen oft das Glück am falschen Ort, doch wenn wir’s merken, dann ist es zu spät...
Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und beobachtete die Felder auf beiden Seiten der Autobahn. Das flache Sonnenlicht ließ sie in einem satten Braun und Orange leuchten.
„Was meinten Sie vorhin damit, sie seien froh, dass es Manakel noch gibt?“
„Auch der größte Engel kann verschwinden, wenn niemand mehr da ist, der an ihn glaubt“, sagte Theophil Schorm mit dem Tonfall eines Werbeslogans. Vermutlich war es für ihn unvorstellbar, dass ich derart ahnungslos war.
„Sie meinen...“ Nun blickte ich ihn verwundert an. „Sie meinen, die Engel, die Dämonen, das ist alles nur ein Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft?“
„Bei Ihnen klingt das so ominös“, erwiderte er, ohne auf sein geduldiges Lächeln zu verzichten. „Wenn es niemanden mehr geben sollte, der Manakel auch nur einen frommen Gedanken widmet, wird dessen Energie für ein Betreten dieser Welt nicht mehr reichen. Irgendwann wird er nicht mehr sein und zu jenem diffusen Zustand zurückkehren, dem er entstammt.“
„Das ist sehr verwirrend“, wandte ich ein. „So gab es keine Engel vor dem Menschen? Sie sind nicht aus der Ewigkeit gemacht?“
„Doch, sie sind höhere Wesen, geordnet in göttlicher Hierarchie, die schon lange hier war, bevor die Menschheit entstand. Doch die Menschen gaben ihnen durch ihre Existenz Ausprägung und Komplexität.“
„Und Bedeutung...?“
„Ho-ho!“ rief Schorm aus. „Fangen Sie bloß kein Gespräch über das Anthropische Prinzip mit mir an.“
„Und manche Engel betreten die Menschen bei ihrer Geburt?“
„Sie begleiten die Seele ins Diesseits. Das nennt man den natalen Pfad.“
Er hielt kurz inne und sah mich an.
„So richtig viel Ahnung haben Sie ja noch nicht“, bemerkte er ernst. „Ich wüsste gerne, was Michael dazu bewog, Sie auf eine Mission zu schicken.“
„Vermutlich Mitleid“, erwiderte ich und straffte defensiv die Arme auf meiner Brust. Ich fragte mich, was das mit der Mission bedeuten sollte.
„Sie müssen verstehen, dass Engel nur auf zwei Arten diese Welt betreten können. In Form von sogenannten Erscheinungen, was nicht ungefährlich ist für jene Menschen, die dem Engel in seiner wirklichen Ausprägung zu nahe kommen...“
„Rilke“, unterbrach ich ihn. So besonders klar war mir die Bedeutung nicht, doch ich hatte das bei Manakel abgeschaut und wollte sehen, wie es funktioniert.
„Ja, genau“, stimmte mir Schorm zu. „Oder über die Manifestation in einem Körper. Doch der Engel muss dazu den natalen Pfad der Seelen wandern, um so in das Leben zu gelangen. Er muss durch die natürliche Geburt diese Welt betreten. Die Dämonen haben hier einen klaren Vorteil: sie können durch entsprechende Riten in erwachsene Menschen inkarnieren. Da spricht man dann in vielen Kulturkreisen von Besessenheit. Beim Verlassen des Körpers ist es dann genau umgekehrt. Engel können einen Leib sofort verlassen - nur der Wunsch dazu genügt. Doch der Wirt stirbt dann, da weder der Körper, noch die Seele ohne den Geistbezug im Diesseits bestehen können. Menschlicher Geist, göttlicher Geist. Hauptsache Geist. Der Dämon dagegen kann nur durch komplizierte Rituale hinausgetrieben werden - ob er es nun will oder nicht.“
„Oh mein Gott“, sagte ich.
„Sie sagen es. Die Schöpfung als Dualität.“
„Nein, ich meine...“ Ich rang nach Worten. „Ich meine, all die Geschichten, die man hört, über mittelalterliche Inquisitoren, die bei unschuldigen Menschen Besessenheit oder einen Bund mit dem Teufel diagnostizierten.“
„Da wird wohl manchmal was dran gewesen sein“, stimmte er mir zu.
„Und die Engel haben das gutgeheißen? Folter und Verbrennung?“
Schorm seufzte.
„Das ist lange her. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Engel sich nie auf die ideologische Spitzfindigkeit der Menschen einlassen. Wir können doch nicht erwarten, dass sie, die Boten Gottes, unsere Motive teilen, nicht wahr?“
Ich wusste nicht so recht, was er damit meinte und bohrte nicht weiter nach. Schorm nahm konzentriert die Ausfahrt von der Autobahn. Zu unserer Linken tauchten die Lichter von Worms auf, während auf der anderen Seite, im Westen, das späte Sonnenlicht nur noch einen undeutlichen, roten Streifen hinterließ.
* * *
Seine Wohnung war nicht minder exzentrisch, als sein Erscheinungsbild. Es gab einen einzigen Schrank, der offensichtlich der Aufbewahrung von Kleidung diente. Alles andere wurde von Bücher- und Zeitschriftenstapeln dominiert. Ich nahm einige Bände in die Hand und stellte fest, dass es hier schwierig sein würde, etwas unterhaltsames zu finden. Ich überflog die Buchrücken: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes von Dietrich von Hildebrand, Ethik von Spinoza und sogar ein Buch mit dem Titel The Physics of Angels von Matthew Fox und Rupert Sheldrake. Theophil Schorm war nicht nur ein Hüter der Ambrosia, er war auch der Beobachter unserer Welt und ein Wächter über unsere Einstellung gegenüber jenen Strömungen, Werten und Ideen, die mit den Engeln zu tun hatten. Er sammelte Wissen und erwog den Stand der Menschheit - vielleicht so, wie es vor über zweitausend Jahren die Essener taten.
„Hier ist der Tee“, holte mich seine Stimme wieder ins Hier und Jetzt.
Ich nahm die Tasse mit abgeblättertem Lack entgegen. Es war ein Souvenir aus der Vatikanstadt, gekauft vermutlich in jener Zeit, als man in Rom Ein Herz und eine Krone drehte.
„Wie ist denn Ihre Position gegenüber der Katholischen Kirche?“
Schorm räumte einige Bücher von dem roten Holzstuhl, der aussah, als wäre er vor Jahren aus einer Kindergarten-Kantine geraubt worden, und bedeutete mir, mich zu setzen.
„Mein lieber Jan-Marek, ich habe keine Position zu irgendetwas“, erklärte er mir geduldig. „Ich bin wie ein Thermometer. Ich messe die Temperatur im Zimmer, ich mache sie nicht, und ich bewerte sie nicht.“
Ich wollte einwenden, dass das eine recht simple Sicht der Dinge sei, doch ich verkniff es mir.
„Wir müssen noch heute Nacht los. Tagsüber gibt es keine Möglichkeit das Tabernakel zu erreichen“, erklärte er mir, während er an seiner Tasse schlürfte.
„Sie haben es nicht bei sich?“
„Ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen“, erwiderte er. „Ich könnte morgen an einer Straßenkreuzung sterben, und dann würde die Polizei meine Wohnung durchsuchen. Nicht auszudenken, wenn die Ambrosia in die falschen Hände von Nichteingeweihten fiele. Nein, es muss versteckt sein. Diese Stadt ist perfekt dafür.“
„Weshalb?“ fragte ich mit einem debilen Gesichtsausdruck.
Er sah mich überrascht an und sein Lächeln mischte sich mit gerunzelter Stirn. „Sie sitzen in der ältesten Stadt dieses Landes. Wussten Sie das nicht?“
„Ach so“, log ich. „Natürlich weiß ich das. Ich ahnte nur nicht, dass Sie sich darauf beziehen.“
Wir tranken aus und plauderten, während der alte Wächter einige Gegenstände in eine schwarze Tasche stopfte.
„Wohin gehen wir eigentlich?“ fragte ich ihn, nachdem ich auf dem Tisch eine freie Ecke gefunden hatte, die groß genug war, um dort die leere Tasse abzustellen.
„St. Peter“, äußerte sich Schorm geheimnisvoll. „Der Dom von Worms.“
Ich vermutete, das sollte bei mir einen Effekt auslösen oder einen Groschen zum Fallen bringen, doch das tat es nicht, und so nickte ich nur bedeutungsschwanger. Umgekehrt zeigte Schorm kein Interesse, meine ganze Geschichte zu verifizieren. Entweder war er der leichtgläubigste Mensch der Welt, oder er es gab hier Zusammenhänge, die sich mir einfach entzogen.
Wir parkten vor einem Versicherungsgebäude unweit des Doms. Ich stieg aus und sah mich um. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Brunnen, auf dessen Spitze ein Siegfried aus Stein über dem Lindwurm triumphierte. Über den Häusern vor uns ragten die stoischen Türme der Basilika und umschlossen das Kirchenschiff wie zwei kräftige Schenkel. Die Nachtbeleuchtung war eingeschaltet und tauchte das riesige Bauwerk in ein warmes Orange.
„Eine echte Patchwork-Kirche“, sagte Schorm mit leiser Stimme. „So oft zerstört und wieder aufgebaut, dass man es kaum glauben kann. Hier findet man immer etwas neues.“
Nach nur wenigen Schritten standen wir direkt vor dem Dom.
„Ein romanischer Grundriss mit einem Querschiff“, erklärte er weiter mit gedämpfter Stimme, doch mit der pädagogischen Überzeugung eines Menschen, der sicher war, mein ganzes Leben wäre ruiniert, wenn ich nun keine angemessene Fremdenführung erhielte. „Gotische Fassade. Sehr aufwendige Restaurierung.“
Er zeigte mit seinem Finger irgendwo in die Dunkelheit hinein.
„Die ursprüngliche Kirche wurde von Franken erbaut, die aus der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern zurückkehrten. Sie ahnen gar nicht, wie viele Engel und Dämonen bei dieser Schlacht dabei waren. Gehen wir mal auf die andere Seite, zum Südportal.“
Der Hüter der Ambrosia begab sich zu einem Seiteneingang, der direkt in das Querschiff führte und über eine symmetrische Doppeltreppe erreicht werden konnte.
„Halten Sie mal etwas Wache, wären Sie so gut?“ wandte sich Schorm an mich, während er mit einem dicken Schlüsselbund rasselte.
Ich drehte mich um und beobachtete die nahe Straße. Es war kurz nach zwei Uhr morgens und nur einige einsame Autos fuhren vorbei. Auf das blaue Schild mit der Aufschrift „Andreasstraße“ hatte sich ein schwarzer Rabe gesetzt und beobachtete uns lustlos. Außer ihm und der zierlichen Statue von Bischof Burchard, der bei Regen und Schnee vor dem benachbarten Eingang die Menschen begrüßte, schien es niemanden in unserer Nähe zu geben.
Ein leises Poltern am Eingang meldete mir, dass Schorm inzwischen die Tür geöffnet hat. Wir traten ein.
Die Dunkelheit im Dom erinnerte mich an das Jenseits. Die Innenbeleuchtung war abgeschaltet, doch die Scheinwerfer draußen ließen subtiles Licht ins Innere der Kirche dringen. Ich hatte das Gefühl, mich in vollkommener Stille zu befinden. Schließlich spürte ich Schorms Hand an meinem Ellbogen. Er zog mich sanft hinter sich her, bis wir vor einer weiteren Tür standen. Es war eine einfache, schlichte Pforte, die er schon bald mit einem Schlüssel aus seinem Bund öffnete. Nun kramte er aus seiner schwarzen Tasche eine Lampe hervor und schaltete sie ein.
„Stoßen Sie nichts um. In dem Seitenraum zur Sakristei ist gerade eine Ausstellung über Domorgeln.“
Ich schob mich vorsichtig zwischen den Ausstellungstafeln hindurch. Wortlos passierten wir die Reihen der Kirchenbänke. In der Dämmerung brach sich das Licht an den streng geformten Pfeifen des Orgelprospekts.
An der Rückseite des Doms angekommen, reichte mir Schorm eine kleine Taschenlampe und begann leise klappernd seinen Schlüsselbund abzusuchen. Ich schaltete die Taschenlampe an und sah mich um. Jemand hatte eine Kirchenbank vor eine sehr alte, massive Tür gestellt. Ein mächtiger Klopfring hing daran und ein schweres Hängeschloss aus Stahl. Neben der Tür befand sich eine kleine Skulptur, die ich mir näher ansah. Die Beschreibung auf der Wandtafel erklärte mir, dass es sich um einen Weihealter von 200 n. Chr. handelte, mit der Darstellung des römischen Neptuns.
Inzwischen hatte Schorm die Tür geöffnet. Erstaunlich gut geölt, ging sie ohne Quietschen oder Ächzen auf. Wir betraten den engen Korridor und Schorm verschloss die Tür hinter uns. Nach wenigen Metern bog der Gang nach links und führte zu einer Treppe nach unten.
„Vorsicht“, warnte er. „Die Treppe ist steil. Normalerweise haben hier nur Historiker und Archäologen Zugang.“
Es war eine grobe, unbequeme Wendeltreppe. Eine von der Art, die einen bis nach unten rollen ließ, machte man den Fehler, hier auszurutschen. Während wir nacheinander heruntergingen, wunderte ich mich darüber, mit welcher Selbstsicherheit der so zerstreut wirkende Professor hinab marschierte. Auch in ihm steckte offensichtlich mehr, als das Auge sah. Ich ließ während des Abstiegs meine Hände über die rauen Wände gleiten, um dadurch mehr Balance zu finden. Mein abgewrackter Körper war langsam von all der Aufregung überfordert, und ich hätte mich am liebsten irgendwo in die Ecke gesetzt und einen Weinbrand in mich rein gekippt. Ich hasste in diesem Augenblick den Alkohol und tat mich schwer damit, diese Lektion zu begreifen. Zumindest war ich froh, dass Schorm nicht mehr auf mich einredete und ich ihm versunken hinterher taumeln konnte.
Wir erreichten eine recht kleine Zelle, die mehr einer Höhle ähnelte als einem von Menschenhand geschaffenen Raum. Schorms Taschenlampe tänzelte an den grauen Wänden.
„Die Saliergräber“, erklärte er. „Doch wir wollen noch tiefer...“
Er hielt plötzlich kurz inne.
„Haben Sie auch etwas gehört?“
„Nein“, erwiderte ich und drückte langsam seine Taschenlampe aus meinem Gesicht.
„Haben Sie nicht Angst, dass Archäologen zufällig Ihr Geheimnis entdecken?“
„Diese Angst wäre unbegründet“, erwiderte er. „Sie werden sehen.“
Wir bewegten uns weiter durch einen inzwischen recht engen Tunnel. Meine Ellbogen und Schultern schleiften an dem Gemäuer um mich und ich stellte mir die seriöse Frage, was wohl passierte, wenn Schorms Taschenlampe aus derselben Generation stammte wie sein Borgward Isabella und plötzlich inmitten dieses Kamins den Geist aufgab.
Wir kamen ans Ende des Gangs und erreichten eine kleine Gruft, in deren Mitte sich der Wächter hinkniete. Er studierte eine Weile den Boden und schien den Staub weg zu pusten. Ich reckte meinen Hals und versuchte herauszufinden, was er da eigentlich machte. Da packte er bereits einen kleinen Keil aus seiner Tasche, trieb ihn zwischen zwei Platten und offenbarte nach wenigen Augenblicken ein schwarzes Loch im Boden.
„Ich hasse das“, sagte ich nur und sank neben ihm auf die Knie.
Die Leiter war aus altem Holz und gab Geräusche von sich, deren Natur nicht dazu beitrug, mein Vertrauen in den Ausgang dieser mysteriösen Expedition zu stärken. Als wir unten ankamen, war es schon außerordentlich eng. Die Luft schmeckte alt, kalt und staubig, und die Decke war so niedrig, dass ich mich nur vorgebeugt bewegen konnte. Ich rutschte erst mal in die Hocke.
„Ich kann nicht mehr“, keuchte ich. „Sie müssen verstehen... Dieser Körper, den ich hier bekam.“
„Rasten tut man im Jenseits“, meinte Schorm und klopfte mir auf die Schulter.
„Haben Sie eine Ahnung!“
„Es sind nur noch zwanzig Meter.“
Er ging unnachgiebig weiter und ich folgte ihm, öfter auf allen Vieren, als aufrecht. Am Ende der Katakombe befand sich ein kleiner Raum. Dort stand eine Truhe. Sie war nicht abgesperrt und in der Tat wäre hier ein Vorhängeschloss überflüssig gewesen. Entweder man fand diesen Ort, oder man fand ihn nicht.
Theophil Schorm öffnete die Truhe und nahm einen Bündel Kerzen heraus. Erst jetzt sah ich, dass in den verstaubten Boden ein Kreis eingeritzt war. Schorm stellte die Kerzen entlang des Kreises auf. Ich zählte insgesamt zwölf Stück.
„Setzen Sie sich hinein“, bat er mich. Ich rappelte mich noch einmal hoch, trat vorsichtig in den Kreis, tunlichst darauf achtend, dass ich keine der Kerzen umtrat, und sackte im Kreismittelpunkt erschöpft zusammen.
„Die Ambrosia ist nicht versteckt in einem konventionellen Raumzeitkontinuum“, erklärte Schorm, während er die Kerzen anzündete. „Dafür ist es zu wertvoll.“
Als alle Kerzen brannten, schaltete er die Taschenlampe ab. Meine Augenlider wurden schwer und die Müdigkeit hatte begonnen, die Aufregung zu übertrumpfen. Ich saß vor ihm, umgeben von Kerzenlicht, und versank in meinen Bart.
„Objekte aus dem Hyperraum, der Heimat aller höheren Wesen. Mental interaktiv...“, hörte ich Schorm euphorisch flüstern. Ich öffnete müde meine Augen und beobachtete ihn schweigend. Ich kam mir plötzlich wie ein Tier, denn wie ein Mensch vor. Schorm hatte etwas aus seiner schwarzen Tasche hervorgeholt. Er platzierte drei kleine, kristallartige Gegenstände gleichmäßig entfernt auf dem Kreis und zog sich dann in eine Ecke des Raums zurück. Er begann etwas zu murmeln, und ich stellte nach einer Weile fest, dass die Kristalle langsam aufglühten. Sie strahlten ein blaues Licht aus, das ich bereits im Jenseits gesehen hatte und das offensichtlich unter besonderen Umständen im Diesseits erzeugbar war.
„Wenn Sie drüben sind, müssen Sie aufstehen und zu der Lichtsäule gehen. Darin befindet sich die Ambrosia. Nehmen Sie nur eins heraus und verspeisen Sie es sofort. Danach kehren Sie in den Kreis zurück.“
„Was machen wir hier?“ fragte ich plötzlich und spürte die Gänsehaut auf meinen Armen. „Was werde ich dort finden?“
„Vitriol!“ rief der Gelehrte und rückte seine Brille zurecht. „Visita interiora terrae rectifiando invenies occultum lapidem!“
„Ich spreche nicht lateinisch...“, stöhnte ich.
„Der Leitsatz der Alchemisten!“ erklärte er hastig. „Suche das Untere der Erde auf, vervollkomne es, und Du wirst den verborgenen Stein finden!“
„Der Stein der Weisen?“
„Sal, Mercur, Sulfur!“ rief er, während sich zwischen ihn und mich ein seltsamer Lichtschleier schob. „Salz, Quecksilber und Schwefel! Die Welt!“
Ich hörte sein Lachen in der Ferne verhallen. Gleichzeitig wurde es zunehmend verzerrt und klang schließlich wie ein dröhnendes, elektronisches Geräusch.
Einige Herzschläge später war ich bereits von dem blauen Licht vollständig eingehüllt, und die Welt um mich war verschwunden und wieder aufgetaucht. Ich befand mich in einem anderen und doch demselben Raum. Theophil Schorm und die Kerzen waren nicht mehr da und die Wände strahlten jenes schwache Licht ab, das ich aus Thanatopolis kannte. Auch die seltsame, trockene Stille war mir vertraut.
Nur zwei Schritte entfernt befand sich in der Ecke des Raums die Lichtsäule. Sie war grünlich und hatte eine konkave Form. An ihrer dünnsten Stelle schwebte ein farbloser Würfel, der aussah, als wären seine Seiten aus Spiegeln.
Keuchend kämpfte ich mich hoch und trat auf unsicheren Beinen an diese ungewöhnliche Erscheinung. Langsam streckte ich meine Hand aus und berührte zögerlich den in der Lichtsäule schwebenden Würfel. Er gab meinem Druck nach, doch als ich meine Hand wegzog, ordnete er sich wieder ein in die perfekte Mitte des Lichts ein. Ich griff erneut hinein und nahm den Würfel vollständig heraus.
In meiner Hand lösten sich drei seiner Seiten auf und gaben den Blick ins Innere frei. Ich sah auf seltsame kleine Kugeln, die wie Samen oder Pilzknollen aussahen. Unter normalen Umständen hätte ich niemals eines dieser Dinger in meinen Mund gelegt. Ich nahm eine Ambrosia heraus und hielt sie forschend zwischen meinen Fingern. Der Würfel verschloss sich erneut und ich legte ihn in die Mitte des Strahls. Von Zauberhand geführt korrigierte er seine Lage und verharrte schließlich schwebend an seiner alten Stelle. Ich trat zurück und setzte mich wieder in den Kreis. Die drei Kristalle glühten noch leicht, und als ich Platz nahm, verstärkte sich ihr Leuchten sofort wieder.
„Was soll’s...“, brummte ich vor mich. „Das wird sowieso nicht mehr normal...“
Ich steckte die seltsame Knolle in meinen Mund, zerbiss sie mit schmerzenden Zähnen und schluckte die bittere Substanz hinunter.