Die Explosion schien alle meine Nervenbahnen gleichzeitig zu erfassen. Ich konnte entfernt spüren, dass mein Atem schneller wurde und meine Beine begonnen hatten, unkontrollierbar zu zucken. Der Diamant, der vor meinen Augen in tausend Muster und Facetten zerrissen wurde, zog mich in sich hinein, bis ich nur noch von Lichtstrukturen und komplexer Geometrie umgeben war.
Mein Körper fühlte sich fern und unwirklich an. Die Lichter hingegen spürte ich als die einzige Wirklichkeit.
Ich wusste, ich war in Gottes Gewächshaus.
Plötzlich empfand ich klar und deutlich die Gegenwart jener Kraft, die mit einem bärtigen Mann auf der Wolke darzustellen, infantilem Schwachsinn gleichkam. Und dann begann sich alles zu strecken und zu zerreißen und ich begriff, was Schorm mit Hyperraum meinte. Es war die ursprüngliche Welt der höheren Wesen, die wir Menschen eines Tages mit unserem Geist und unserer Abstraktion in unsere eigene Dimension evozierten - als Engel und Dämonen. Sie besaßen keine Form und keine Zeit hier - sie waren wie Lichtpunkte, die mit einer schnellen Kamera in unzähligen Momentaufnahmen fotografiert wurden. Sie bewegten sich und standen still zugleich. Ein endloses, lebhaftes Daumenkino. Ein Teil der Punkte und Lichterketten schien die Bewegungen unentwegt zu verlangsamen und in einem spiralförmigen Gebilde erstarren zu lassen, während die andere Hälfte der Punkte das Gebilde beschleunigte, zerriss und zerstreute. Natürlich war es nicht das, was da war: das Ding an sich. Es war die einzige Art, in der meine begrenzte Gedanklichkeit imstande war, diese Dinge abzubilden.
Die Lichter begannen sich zu verteilen, wie durch eine Zauberhand gelenkt. Links horteten sich die dynamischen, beweglichen Punkte, die roten und feuriggelben, während rechts von mir die blassen, ruhigen Lichter in einer seltsamen Ruhe schwebten und beinahe unbewegt drifteten.
Es war als bestünde nun ein Keil oder Hymen zwischen diesen beiden Daseinsformen.
Bald beruhigten sich die Farben um mich und gaben einem intensiven Schwarz nach, in dem ich haltlos zu schweben schien. Beide Lichtergruppen verschwanden. Sie wichen einer vollständigen Finsternis. Blickte ich in eine unendliche Weite, in der es kein Licht gab, oder wurde meine Sicht so sehr eingeengt, dass es nichts mehr zu sehen gab? War etwa eine Welt ohne Licht gar keine Welt?
Es fühlte sich an wie die Zeit zwischen dem Stimmen der Instrumente im Orchestergraben und dem ersten Schlag des Taktstocks. Ominöse Stille. Unbestimmte Zeit.
Dann geschah mit einem stummen Puls all das, was den Unterschied zwischen Nichtsein und Sein ausmachte. Ein weißes Aufleuchten, das gänzlich geräuschlos die Welt erhellte.
War ich Zeuge des Urknalls? Es war keine singuläre Explosion, die aus einem zentralen Punkt das Universum auseinander riss. Es erschien mir viel mehr wie eine Art Fluktuation, die bereit in einem vorhandenen Medium an Tausenden oder Millionen Hyperorten stattfand. Gleichzeitig und doch nicht ganz gleichzeitig.
Für eine kurze Zeit war alles Licht. Ein Licht, das in Jahrmilliarden auch mein Gesicht berühren wird, irgendwo an einem Ort fern von hier.
Das Plasma um mich herum kühlte eilig ab und alles Sichtbare verdunkelte sich rasch. Vor mir formte sich ein leuchtender Punkt, der in drei Richtungen zu Linien auseinander floss. Muster entfalteten sich aus dem Punkt und mit ihnen erwuchs mein Begreifen. Ich begann die Welt zu verstehen. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Die Funktionalität der Welt, ihre Beschaffenheit, ihre Zusammenhänge. Ich sah, dass es drei Welten gab, die sich ergänzten und gegenseitig in seltsamer Weise überlagerten.
Die gedankliche Welt: eine Welt des reinen Geistes, ohne Zeit, nicht greifbar physikalisch, doch voller Potential. Eine unfassbare Kompression der Möglichkeiten, bereit in einem Geysir der Gedanken und Ideen hinaus, in die greifbare Welt zu schießen.
Das Jenseits: die Welt der Seelen - eine Zone erfüllt mit Zeit ohne Raum. Und doch voller realer Erfahrung. Metaphysisch. Emotional. Zusammengesetzt aus Erinnerungen, die wie ein Echo verblassten und doch mit jeder neuen Ankunft wieder erstarkten.
Das Diesseits: die Welt der Körper - raumzeitlich und physikalisch. Die wahre Arena, in der alle Schlachten geschlagen werden. Von der Entstehung bin zum finalen Augenblick.
In der Mitte dieser drei Zonen strahlte weiterhin der helle Punkt seine Energie auf die drei Realitäten, die sich immer mehr ineinander falteten.
Es war ein punktierter Initialfunke für alle Dinge, die in den drei Zonen stattfanden. Es war der metaphysische Nukleus, die Gottmaschine.
Ich schrie auf, als würde die verratene Sentimentalität von Milliarden von Menschen in mir aufbrechen. Als wäre ich an ein Kreuz genagelt und würde erkennen, dass die Tränen vergeblich sind.
Dann begann sich das gesamte Muster, dieses dreifaltige Mandala, zu verändern. Ich begriff, dass lediglich das gesamte Wirklichkeitsgebilde begonnen hatte zu kippen, mit der unteren Region - dem Diesseits - zu mir, während die anderen beiden Regionen - die Geistwelt und die Seelenwelt - langsam nach hinten fielen. Das gigantische Abbild wurde dadurch schmal wie die Kante einer Münze. Ich verstand die Übung sofort. Der so entstandene Streifen zeigte die perfekte Überlagerung, die perfekte Gleichzeitigkeit aller drei Welten, durchdrungen von vier Bausteinen des Seins: Intuition, Gefühl, Gedanklichkeit und Wahrnehmung - alle katalysiert durch das komplexeste Objekt im Universum: das Gehirn. Das war die Welt, wie wir sie alle sahen. Eine unendliche Vielfalt an Interferenzen der geistigen, seelischen und körperlichen Existenz.
Ich starrte auf das Schöpfungsbild, das gigantische Diagramm des wahren Universums, das mein Blickfeld ausfüllte und mich unentwegt in dessen Mitte zog. Der Realitätsstreifen wurde größer und breiter. Ich begann Konturen und Formen zu erkennen. Vertraute Muster. Zahlen und Symbole. Gestalten und Gesten.
Und ich wusste, dass Michael nicht zu wenig versprach. Ich wusste.
Ich wusste: es war einmal eine Schöpfung und die entstand. Warum kann ich nicht sagen. Ich war nicht dabei und die, die mich darüber belehren wollen, auch nicht. Doch ich weiß, dass sich der Schöpfer nach dem Einschalten der Scheinwerfer von der Bühne zurückzog. Wie ein Regisseur, der das begonnene Stück aus der Ferne betrachtet.
Die Theodizee war einfach nur Unsinn.
„Phantastisch“, flüsterten meine Gedanken, während ich all diese wundersamen Dinge sah.
In der einen Welt formte sich der Geist und strukturierte sich zu Geistern - mit dem Potential unendlicher Abstraktion und Komplexität. Das zeitlose Gefühl für Raum. Ein Anteil am Wissen der Welt, doch von einem Augenblick auf den anderen auslöschbar. Des Schöpfers durchsetzungsstärkstes und zugleich zerbrechlichstes Werk.
In der anderen Welt formten sich die Seelen - befähigt nur zu einer Sache: der Wahrnehmung und dem stetigen Driften zwischen der eigenen Heimat und dem Diesseits. Kosmische Mantarochen ohne Geist, doch dafür aufgeladen mit der Energie des menschlichen Gefühls.
In der dritten Welt entstand das Universum, so wie wir es sehen und kennen. Die Raumzeit. Die Naturgesetze. Der Weltraum.
Und in dieser Welt entstanden Menschen, die das Bindeglied zwischen diesen drei Welten darstellten. Doch auch andere Wesen. Ich sah Lichtstreifen, die über den Umweg des Jenseits ganze Sternensysteme überbrückten und wusste plötzlich, dass es niemals interstellare Raumfahrt in der Form geben wird, wie das 20. Jahrhundert es sich oft erträumt hatte.
Ich nehme nicht an, dass der Regisseur dieser Schöpfung Leidenschaft kennt, doch wenn er sie kennen würde, es wäre sicher eine Leidenschaft für die Vielfalt aller Dinge. Und damit diese Vielfalt stets gewahrt bleibt, begann sein Theaterstück mit dem Auftritt zweier Kräfte, die den Antrieb dieser Welt darstellen und die einfachste Morphologie des Geistes aufzeigen. Und mit diesen beiden entgegensetzten Kräften entwickelt diese Welt sich bis heute fort.
Die eine Kraft beruhigt die Dinge, und die andere versetzt sie in Bewegung. Die eine Kraft einigt, und die andere spaltet. Die eine gewöhnt und die andere verändert. Die eine bedeutet Ordnung, die andere das Chaos.
Beide sind unvereinbar und doch kann die eine ohne die andere niemals existieren. Jede dieser beiden Kräfte hat Tausende Namen, und doch ist es stets mehr ein Gefühl, wenn es darauf ankommt, sie zu beschreiben.
Und deshalb belegen wir sie seit Jahrtausenden mit Eigenschaften und bewerten sie, je nachdem wie es uns gefällt oder wer uns gerade die Wahrheit ins Ohr flüstert.
Und je komplexer wir die Welt gestalten, desto komplexer erscheinen diese beiden Kräfte uns. Je weniger wir uns selbst verstehen, desto schwerer können wir sie begreifen.
Das gekippte geometrische Bild schien sich in meinen Geist einzubrennen. Dann - als hätte eine höhere Macht es entschieden - schoss es auf mich zu, oder vielmehr wurde ich in das leuchtende Muster hineingezogen.
Eine Reise begann. Raum und Zeit verdichteten sich um mich, als wäre ich in einem Geschichtslexikon gefangen, dessen Seiten jemand schnell unter seinem Daumen blättern lässt und nur sporadisch und scheinbar wahllos an einigen Stellen anhält.
Ich flog tiefer und tiefer und überquerte unbegreifliche Landschaften, architektonische Wunder, Bauwerke von sagenhaftem Detailreichtum. Die Farben des Himmels wechselten von tiefem Rot zu strahlendem Gelb und dann zu kaltem, dunklen Blau. Danach von einem sattem Orange zu giftigem Grün und schließlich zu einem erdrückenden Violett. Ich raste über Häusern und Gebäudekomplexen, die mir nicht einmal irdisch erschienen.
Dann sah ich die Wüste. Trockene Flussbetten und in Hitze flimmernde Felsbrocken. Eine Anhöhe. Dahinter Berge. In scharfen Kämmen ungeordnet, zeugen sie vom undurchsichtigen Plan der Natur. Doch davor die leibhaftige Ordnung zu Pferd. Der Signifer der römischen Legionäre umklammert den Bannerstab. Sein Kopf ist mit einem Bärenfell verziert. Unter seinen Händen rennen dünne Schweißrinnsale an dem hölzernen Stock entlang. Das raue Sonnenlicht bricht sich an den Helmen des versteinerten Gefolges. Sie sprechen nicht - sie atmen nicht. Worauf warten diese Recken, warum hält der Erste Speer die Hand über der Stirn, warum werden seine Augen zu dünnen Strichen und sein Mund hart und trocken, wie abgekühlte Lava?
Ich schütze mit der Hand meine Augen vor der Sonne und beobachte das stumme Schauspiel.
Die Pferde schnauben vereinzelt und wenden unruhig den Kopf hin und her. Der Erste Speer lässt seinen Blick entlang des Horizonts wandern. Er trägt einen purpurroten Umhang und seinen Bronzehelm schmücken dichte Federn. Sein Kinn ist stark, die Nase robust, der Körper geschützt von einem Brustpanzer. Die Füße stecken in genagelten Sandalen. Nur die Oberschenkel sind frei und drücken sich autoritär gegen die Flanken des Pferdes. Der Arm hält streng die Zügel, und sein Tier wagt kaum zu atmen. Er ist geduldig. Eine Gabe, die ihm die Jahre verliehen haben.
Hoch über uns, in der endlosen Bläue, schweben Geier. Ihre Schwingen sind ruhig und wölben sich an ihren Enden sanft nach oben. Auch ihre Geduld resultiert aus der Erfahrung der Jahre, der Jahrtausende. Sie wissen, wann es sich lohnt zu kommen. Sie häufen sich und werden mehr und mehr.
Der Primus Pilus wünscht sich einer von ihnen zu sein. Aus ihrer Höhe und mit ihren scharfen Augen könnte er bereits die Zukunft sehen.
Einer der Legionäre rutscht langsam und vorsichtig von seinem Pferd herab. Er geht auf mich zu, und unter seinen Sandalen knirscht das heiße Geröll.
Der Himmel verdunkelt sich und plötzlich wird die Welt um uns in eine kalte Nacht getaucht, die meine Umgebung wie die Oberfläche eines Mondes aussehen lässt. Die restlichen Reiter sehen wie dunkle Skulpturen aus. Die Planeten am Himmel, die Galaxien und Sternhaufen erscheinen nahe und zusammengerückt, wie ein unbegreiflich großes Planetarium. Mit offenem Mund betrachte ich die kosmische Schönheit in ihrer langsamen fließenden Bewegung. Ich fühle mich fremd in dieser Welt und gleichzeitig ein Teil von ihr. Einen Moment lang vergesse ich den römischen Soldaten vor mir.
Er starrt mich lange an. Die anderen Legionäre scheinen ihn nicht zu beachten, als ob auch seine Handlung für sie unsichtbare ist.
Ich erwidere seinen Blick, mustere seine geschnürten Sandalen, den glänzenden Helm und das kurze Schwert an seiner Seite. Noch immer glaube ich, dass er Objekt und ich Subjekt bin. Dass er nur eine Leinwand ist, ohne mich, den Zuschauer, sehen zu können. Doch etwas in mir ahnt den närrischen Irrtum.
Plötzliche teilen sich seine Lippen und eine sanfte Stimme erklingt: „Es gibt zwei Arten von Menschen in deiner Zeit. Es gibt jene, die glauben, dass sie alleine im Universum sind und somit im Mittelpunkt von Gottes Aufmerksamkeit stehen. Die zerbrechliche Pflanze inmitten von kalter Finsternis.“
Es mutete befremdlich an, dass ein alter Römer zu mir in den Worten meiner Zeit sprach. Doch ich habe inzwischen gelernt, dass alles in den Spiegeln ist.
„Dann gibt es die andere Gruppe“, fährt der Legionär fort und wendet sich mit einem bedeutsamen Blick dem Kosmos über unseren Köpfen zu. „Diese glauben, dass die schier unglaubliche Anzahl an Galaxien und Sternhaufen, die endlose Weite des Weltraums es statistisch unbestreitbar macht, dass es Tausende oder Hunderttausende Welten gibt wie die eure. Bewohnt von intelligenten Zivilisationen, die euch mehr oder minder ähnlich sind.“
Erneut betrachte ich die Tiefe der Sternensysteme und erinnere mich an all die seltsamen Bauwerke und Strukturen, die ich zuvor wahrgenommen hatte.
„Du stehst nun hier, um die Wahrheit zu erfahren. Das Geheimnis des Fleisches. Es ist nicht die Wahrheit aller Dinge, denn wie könnte ein nackter Affe wie du sie erfassen?“
Starr musterte ich ihn und wagte es nicht, mich zu rühren, während er mit seiner weichen Stimme und dem strengen Blick fortfährt.
„Beide Gruppen irren sich im Bezug auf das Leben im Kosmos. Die erste Gruppe irrt sich, da sie glaubt alleine im Weltraum zu sein, was lediglich Unsinn ist. Die andere Gruppe irrt sich, weil sie an Abertausende bewohnte Planeten glaubt. Doch die Wahrheit ist: es gibt nur sehr wenige kosmische Lebensräume. In Milliarden von Sternensystemen gibt es nur eine kleine Handvoll bewohnbarer Planeten. Sie sind das größte Wunder, dessen das Universum fähig ist.“
Er hält kurz inne, schweigt, als wollte er mir Zeit geben, das Gesagte zu verarbeiten.
„Es ist ein natürlicher Effekt dieser Biotope, dass sich dort früher oder später höhere Intelligenz entwickelt. Doch dies darf niemals für den Preis des Biotops geschehen. Das Auftreten ist verhältnismäßig schnell und spontan. Auch wenn sie sich als ein Fehlschlag erweist und beseitigt wird, wird früher oder später eine andere intelligente Zivilisation an ihrer Stelle entstehen. Ihr seid ersetzlich. Ein lebensfähiger Planet ist hingegen die Frucht des Universums. Selten, wertvoll und heilig. Ihr Menschen werdet nie verstehen, was dieses Wort bedeutet, denn dies geht über das Geheimnis des Fleisches weit hinaus.“
Ich war perplex von diesen Auskünften. Es war nicht das, was ich erwartet hatte, doch es machte eine Menge Sinn.
„Fragen“, sagte er karg und blickte mich schweigend an.
„Wer seid ihr?“ fragte ich. „Wer seid ihr wirklich?“
„Das, was uns durchströmt, was uns ausmacht, ist nicht von dieser Welt. Einst waren auch wir sterbliche Wesen. Doch wir wurden nicht zu den Zerstörern unseres Lebensraums, besessenen von Geld und Zeitverschwendung. Und so durchstreifen wir den Kosmos und begleiten jene, die unreif sind und eine Gefahr für ihre eigene Welt darstellen. Für uns ist das Jenseits ein Tor in andere Welten. Zwischen einzelnen Sternensystemen liegen unüberbrückbare Entfernungen, die ein leibliches Reisen beinahe unmöglich machen. Doch durch das Jenseits können wir die entlegensten Planeten dieses Universums erreichen, zwischen Sternensystemen und Galaxien reisen, in die Leiber der dortigen Wesen inkarnieren und Einfluss auf ihre Zivilisation nehmen. So wie wir es in deiner Welt seit Jahrtausenden tun.“
‚Sie beherrschen und manipulieren uns, ohne dass wir es wissen’, denke ich bei diesen Worten.
Als ob er meine Gedanken lesen kann - und das tut er vermutlich - fährt der Legionär fort: „Wir sind hier, unter euch, weil ihr euch nach uns gesehnt habt. Es ist eure Bestimmung, uns aus dem Engelsstaub zu erschaffen, uns herbeizurufen, und es ist unsere Bestimmung eurem Rufen zu folgen. Unsere Mission zum Schutz der Biotope und eure Sehnsucht nach unserer Aufmerksamkeit erscheinen wie ein Widerspruch - doch ich versichere dir, sie sind es nicht. Ihr sehnt euch nach Geborgenheit, nach Frieden und nach einem Sein ohne Angst. Und wir bauen ein Reich, das diese Sehnsucht stillt. Wir ordnen die Welt für euch, machen eure Frauen zu den Müttern eurer Sippen und sorgten für volle Kornspeicher. Doch jedes Mal, wenn ihr den Lockungen der Dämonen nachgebt und alles zerstört, werdet ihr rastlos und unglücklich. Wir entstammen direkt dem Gottgeist, dem spiritus. Die Inferni sind nur ein hässliches Nebenprodukt der unvermeidlichen Baryogenese. Bastarde, die euer Verderben planen. Wir wissen, was gut für euch ist. Der einzige Daseinszweck der Anderen besteht nur darin, euch zu prüfen und für das Reich der Engel wachsen zu lassen. Der Paradigmenwechsel ist die einzige Alternative zu eurer vollständigen Eliminierung. Es ist unsere Aufgabe das Reich der Liebe zu erschaffen und eure Aufgabe die Dämonen in euch zu vernichten. Wenn der Glaube zur Gewissheit wird und der Zweifel ausgemerzt, dann werden Engel unter den Menschen existieren und von jedem erkannt und gesehen. Das ist das Mirillium, das Neue Zeitalter, das Reich des Wunderns, der Juwel am Ende der Reise. Nur dann ist das Ziel dieses einen Universums erreicht.“
„Wann?“ flüstere ich heiser. „Wann wird es diese Zeit geben?“
„Nach eurer Zeitrechnung sollte dieses Zeitalter im Jahr 2125 begonnen haben, oder niemals stattfinden.“
„Und falls wir versagen?“ hauche ich leise aus.
Der Legionär schweigt mit ernstem Gesicht. Dann tritt er noch einen Schritt näher und sein hartes kantiges Kinn sieht bedrohlich aus.
„Zu diesem Zeitpunkt werdet ihr euch entweder gewandelt haben, oder nicht mehr sein. So oder so ist die Zeit des alten Menschen vorüber. Der Planet muss unter allen Umständen bewahrt werden. Ihr seid nur temporal. Ich bestreite nicht euer Potential. Doch solange ihr euer Gleichgewicht nicht erreicht habt, seid ihr nicht die Priorität. Euer Biotop ist es hingegen. Trage das zurück in die Welt hinaus. Wir, die Engel, werden euch vernichten, ungeachtet dessen, welch rührende Vorstellung ihr von uns habt. Ihr seid nicht der Mittelpunkt des Geschehens!“
Der kosmische Himmel über uns verwandelt sich übergangslos zurück in ein blendendes blaues Gewölbe ohne Wolken.
Ich möchte noch mehr fragen, doch der Legionär hat genug gesagt. Er steigt wieder auf sein Pferd, gliedert sich mit seinem Blick in die Reihe ein, als wäre nichts passiert.
Über dem Horizont wird eine andere Gruppe Geier sichtbar. Sie kreisen mit derselben Geduld, doch das Ziel ihrer Erwartung ist nicht auszumachen, da es sich hinter dem Hügel befindet. Der Erste Speer mustert die Geier versunken.
Plötzlich erklingt seine Stimme. Halblaut, doch auf eine seltsame Art und Weise für jeden hörbar.
"Sie kommen."
Der Augenblick, in dem sich die beiden Geierscharen vermischen, rückt näher. Noch ist nichts zu sehen.
Ich halte mir wieder schützend die Hand über die Augen und frage mich, was geschehen wird, wenn sich die kreisenden Vögel am Himmel begegnen.
Doch dann zerbricht das Bild vor mir und ich fühle, als wäre in meinem Gehirn der Keilriemen gerissen. Verzerrte Rosenblüten aus Lichtern und Blitzen rasen an mir vorbei. Meine Vision ist im Begriff, mich zurück in die Realität auszuspucken. Am Ende breitet sich ein enges schwarzes Nichts um mich aus. Wie Tusche, die sich langsam in ein Tischtuch hinein saugt.