Apythia hatte es mit mir, dem Grünschnabel gut gemeint. Kein Sprung beiseite vor der nahenden Gefahr war nötig. Im Gegenteil. Ich stand auf einer Kiste in einem schmutzigen Keller. In der Ecke brannte etwas Feuer in einem Fass aus Blech. Etwas drückte mich am Adamsapfel und hinter den Ohren. Ich stand auf meinen Zehen und konnte mich nicht richtig hinstellen. Mit meinen Händen tastete ich an meinen Hals und zog dann langsam den Kopf aus der Schlinge. Genauer genommen war es ein dickes schwarzes Stromkabel, das an der Decke an einem Rohr befestigt war.
Mein Geist wurde durchflutet von fremden Erinnerungen, die sich zuerst überschlugen und dann um so schneller verblassten, wie Worte, die jemand in den nassen Strandsand geschrieben hatte.
Ich stieg von der Holzkiste und blickte zurück zu dem dunklen, modernen Strick. Es schauderte mich ein wenig. Zugleich war ich erleichtert, dass der Wiedereintritt für mich so einfach verlief. Ich sah mich um. Auf einer großen Kiste stand eine offene Flasche mit Rum. Das musste mein Inventar sein. Ich nahm sie und schraubte den Verschluss zu. Ich steckte in einem langen Mantel mit großen ausgebeulten Taschen. Dorthin beförderte ich die halbleere Flasche und begann mit der Inspizierung meiner Habseligkeiten. Das Resultat war erbärmlich. Ein altes Feuerzeug. Ein paar Stoffknäuel. Etwas Tabak, gewickelt in Zeitungspapier. Ich fand auch drei Münzen einer Währung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich leuchtete mit der kleinen Flamme des Feuerzeugs darüber, um festzustellen, dass die Münzen griechisch beschriftet waren. Ich war nicht sehr erfahren mit griechischen Buchstaben und kannte nur einige auswendig. Doch genug um nach einer Weile die Beschriftung „1 ΕΥΡΩ“ zu entziffern. Auf den kleineren Münzen stand 20 oder 50 „ΛΕΠΤΑ“.
„Euro“, dachte ich. Es gab dazu seinerzeit genug Plakate in diversen Banken. Doch nun schien es bereits Realität zu sein. Warum ich nun griechische Euro-Münzen in der Tasche hatte und ob sie hier etwas wert waren, konnte ich nicht sagen. Ich stutzte. Vielleicht war ich in Griechenland. Um das genau zu wissen, musste ich hier raus.
Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht. Meine Haare waren recht lang und das Gesicht zugewuchert. Ich trug einen Vollbart. Und ich stank bestialisch. Ich war der am übelsten riechende Mensch im Umkreis von zehn Lichtjahren. Nur eine Leiche, in einem heißen Sommermonat zwei Wochen unbemerkt, konnte das überbieten. Entsetzt starrte ich auf meine Hände. Sie waren schmutzig, vernarbt, und die Fingernägel sahen aus wie Krallen.
Als ich auf die Straße kam, war es Nacht, doch der Horizont hellte sich bereits auf einer Seite auf. Ich blickte mich um und studierte die Fassaden und Schaufenster. Es war augenscheinlich Deutschland. Ich befand mich neben einer Apotheke und vor mir war eine Konditorei. Aber in welcher Stadt?
Ich wanderte die Straße entlang und beobachtete vorbeifahrende Autos. Die meisten trugen ein Kennzeichen, das mit einem alleinstehenden „K“ begann. Nach kurzem Überlegen wurde mir klar, dass die größte Stadt in Deutschland, die mit einem „K“ anfing, Köln am Rhein war. Ich musste irgendwo am Stadtrand von Köln sein.
Nun wusste ich, wo ich war. Doch mit meinem Körper war ich nicht gerade zufrieden. Ich wollte am liebsten wieder ins Jenseits springen und mit Apythia ein Wörtchen wechseln. Aber das war nicht so einfach.
Bei einem Schaufenster hielt ich an. Es war ein Laden für Spiegel und Bilderrahmen. Nun konnte ich mich gleich zehnfach besehen, und das reichte mir auch wirklich. Ich war eine abgewrackte Figur. Ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, doch es konnten auch fünfzig sein. Ich besaß die augenscheinliche Nase eines Alkoholikers, verdreckte Klamotten und ausgebeulte Taschen. Es war ein Albtraum. Es sollte ein Albtraum sein. Doch nach all dem, was geschehen war, nach dem Sprung von einem Krankenhausdach und meiner Zeit im Jenseits, war diese Erfahrung doch recht gedämpft durch die Gewissheit, dass ich in diese Spiegel sah und nur Bilder betrachtete. Nichts davon war endgültig. Und ich begriff es.
Aber etwas ärgerlich war es ja schon. Ich war ein junger Mann gewesen - und nun war ich ein altes Wrack. Die Reise ins Innere hatte sich für mich ganz schön gelohnt.
Doch ich war nicht wirklich unglücklich. Etwas genervt - ja. Ich hatte das Gefühl, als ob für wahres Unglück in meiner Welt ohnehin kein Platz mehr war.
In meinen ersten Tagen als Landstreicher ereigneten sich zahlreiche merkwürdige Dinge. Doch je gröber und unangenehmer die Zwischenfälle waren, desto mehr trugen sie die Wesenszüge einer tiefen, geradezu bewusstseinserweiternden Erfahrung.
Meinen nächsten Halt machte ich vor einem Zeitungskasten auf dem Gehsteig. Ich überlegte kurz, eine Münze in die Kasse zu werfen, doch dann sah ich mich nur kopfschüttelnd um und klappte kurz den Plastikdeckel hoch.
Mit der Zeitung unter dem Arm humpelte ich eilig davon. Ich stellte mich unter eine Straßenlaterne und starrte entgeistert auf das Datum der Frontseite. Es war der 29. September 2004. In gewisser Weise hatte ich eine Zeitreise gemacht.
Manzio hätte an dieser Stelle vermutlich gesagt, dass jeder Mensch Zeitreisen macht und dass allein das Sein stets eine Zeitreise ist. Aber ich war einfach überwältigt von dieser unmittelbaren Erfahrung.
Es waren die letzten Stunden der Nacht. Die Sonne kündigte sich bereits im Osten an. Ich setzte mich hinter einen Baucontainer, gefüllt mit Schutt und Sperrmüll. Ich wollte das Licht abwarten. Den Tag sehen. Mein langer Mantel wärmte nur bedingt, und ich begriff, dass fast jeder Knochen in meinem Körper wehtat. Gleichzeitig fühlte ich diese Mattigkeit in meinem Kopf. Ich war müde. Aber es war mehr als das. Ich war ausgebrannt. Vom Leben erschöpft. Chronisch krank. Alkoholiker. Suizidgefährdet. Mein Gehirn schien noch deutliche Restspuren dieses Gefühls zu bergen. Fragmente seiner Vergangenheit, die nicht immer so miserabel war. Sie verblassten, während meine eigenen Gedanken und Erfahrungen sie verdrängten. Die Seele des Mannes, der diesen Körper besaß, war nun frei. So wie er es sich gewünscht hatte, mit dem Kopf in einer Schlinge, gemacht aus einem Kabel. Doch ich verstand von diesen Dingen nun genug, um zu wissen, dass die Freiheit des Mannes keine echte war. Seine Seele jagte nun durch den Turm inmitten der Stadt der Spiegel - in Thanatopolis. Sie schlich durch Seitengassen, die an die Kindheit unzähliger vergangener Leben erinnerten, die vermutlich alle mit einem Selbstmord endeten. Wird er es irgendwann schaffen und diesen Kreislauf durchbrechen? Seine Chance wahrnehmen und den Schmerz akzeptieren?
Nun besaß ich eine Menge Hypotheken, die ich von ihm erbte. Vermutlich ein gerechter Preis für die Sekunden seines Schicksal, die ich ihm stahl. Doch ich war nicht darauf vorbereitet, soviel aus der Vergangenheit des Wirts in mich aufzunehmen. Bruchstücke seiner Erinnerungen. Seine Empfindungen. Seine miserable Körperlichkeit. War ich im Stande sie zu akzeptieren? Wäre es nicht eine allzu bequeme Flucht, wieder mit Lichtmanns Hilfe durch die Stadt der Toten zu gehen, um lieber einen lässigeren Körper zu beschlagnahmen? Meine Gedanken kreisten und lösten sich langsam auf. Den Sonnenaufgang sah ich nicht mehr. Ich schlief dort in der Ecke hinter dem Stahlcontainer erschöpft ein.