Menschen, die sich ihr Leben lang mit Alkohol, Zigaretten und billigem Kaffee vergiften, neigen leicht dazu, Drogen zu verteufeln und sich entsprechende Slogans auf die Türen ihrer Autos zu kleben. Doch keiner dieser Menschen könnte auch nur in einem zusammenhängenden Satz erklären, weshalb die in ihrer Perfektion unanfechtbare Natur Moleküle entwickelt, die niemals mit der restlichen Welt in irgendeiner Weise interagieren, außer sie betreten den Stoffwechsel und das Gehirn des Homo sapiens. Zugegeben, das mit dem ‚sapiens’ erscheint von Jahr zu Jahr mehr lachhaft und ist historisch vollkommen unbeweisbar, doch ich weiß inzwischen um dessen Potential. Dieselben Leute würden nicht erklären können, weshalb Sucht ein derartig zentraler Antrieb unserer Existenz ist. Sie würden vermutlich raten, mehr Sport zu treiben, um den Kopf freizukriegen. Aber sind Sportler nicht die schlimmsten Maso-Junkies von allen?
Ich hatte den überzeugenden Beweis erhalten, dass zumindest die Engel, die doch in der christlich-jüdisch-islamischen Welt eine ebenso unanfechtbare Autorität darstellen, keine Kostverächter sind, wenn es auf starke Psychedelika kommt. Die Ambrosia war ein Trip, der einem nicht nur den Teppich unter den Füßen wegriss, vom Hocker haute, die Schuhe auszog - und jede andere Metapher erfüllte, die ein Weltbild beschrieb, das gerade auf den Kopf gestellt wurde.
Meine Metamorphose näherte sich der nächsten Phase. Die Dämonen hatten meinen Körper verändert, die Engel nahmen sich nun meinen Geist vor.
Doch ich hatte keine Zeit über diese unirdische Erfahrung nachzudenken, denn meine Landung von diesem galaktischen Flug gestaltete sich unerwartet. Ich war wieder zurück in der kleinen, kargen Zelle und sah, dass ich mit meinem Gezappel den Großteil der Kerzen umgestoßen hatte. Die drei kleinen Kristalle waren verschwunden. Sie waren im Hyperraum geblieben. Sie waren vermutlich Charons Preis für die Überfahrt, oder es gab irgendeine energetische Erklärung für diesen Vorgang.
Ich rieb mir das Gesicht und drehte mich zur Seite, um Schorm anzusehen. Doch ich erstarrte in meiner Bewegung, denn ich erkannte, dass wir nicht mehr allein waren.
Sie mussten Oktagon sein. Die schwarzen Anzüge ließen es vermuten. Trotz des schwachen, flackernden Lichts der Kerzen sah ich den Kalk, Staub und Mörtel an den Ellbogen und Knien ihrer teuren Kleidung. Falls sie darüber wütend waren, verbargen sie es hervorragend.
„Eine erstaunliche Täuschung“, flüsterte einer der beiden. Er hielt Schorm mit seinem linken Arm umschlungen, wie ein Mädchen in einer dunklen Seitenstraße. Doch in seiner rechten Hand ruhte eine große Pistole, die er dem Wächter gegen den Nacken drückte.
„Es muss mit irgendwelchen Kraftfeldern zu tun haben...“, murmelte der andere. „Aber wo ist die Quelle...?“
„Unwichtig. Wir brauchen seine Tasche.“
Schorm machte bei diesen Worten Anstalten sich zu winden, doch der Arm des Oktagon-Mannes zog sich wie der Muskel einer Python noch fester um seinen Brustkorb zusammen.
„Pockengesicht“, äußerte sich sein Partner. „Reich uns des Wächters Tasche.“
Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich gemeint war.
Unwillig griff ich nach Schorms Gepäck und zuckte dabei erschrocken zusammen. In der Ecke des Raums kauerte eine junge Frau. Ihre beiden Handgelenke waren mit einem Kabelbinder gefesselt.
Ich hatte sie nach der Landung von meinem Trip nicht gesehen, denn sie saß hinter mir, in dem Schatten, den mein Oberkörper auf sie warf.
„Nur keine Sorge“, meinte der Oktagon-Mann. „Die Satansbraut tut dir nichts.“
„Wir sind nicht euch gefolgt, sondern ihr“, ergänzte sein Partner. „Und nun ist Erntezeit.“
Der verhärtete Verdacht stieg in mir auf, dass sie beide engagierte Kokainkonsumenten waren. Ich blickte für einen Moment in die Augen der Frau. Nun, da ich etwas beiseite gerückt war, reflektierten sich die Kerzen in ihren Pupillen und ließen rundherum ein schmutziges, doch anmutiges Gesicht erkennen. Ihr Haar war kurz und zerzaust, gespickt mit Staub und Mörtel.
Ich erinnerte mich an die leibliche Monstrosität, die sich nun mein Körper nannte und malte mir den ersten Eindruck aus, den ich auf sie machte. Genervt griff ich nach der Tasche.
Ich drehte mich zu den Oktagon-Männern, um ihnen Schorms Gepäck zu reichen. Der Wächter sah mich mit einer gerunzelten Stirn und einem roten Kopf an, in eindeutiger Ablehnung meiner Handlungsweise.
Und dann brach das Chaos aus.
Der Tritt, der mich in die Mitte meines Rückens traf, beförderte mich direkt in die Arme des zweiten Oktagon-Manns. Nur Schorms verdammte Tasche klemmte zwischen seiner und meiner Brust. Er stieß mich grob beiseite und griff unter sein Jackett, offensichtlich, um seine Waffe zu ziehen.
Zeitgleich trat die junge Frau mit einer einzigen elastischen Körperbewegung alle noch brennenden Kerzen beiseite und tauchte den Raum in tiefste Dunkelheit.
„Taschenlampe!“ schrie einer der Oktagons. Doch die Nerven seines Partners schienen weniger robust zu sein, denn er öffnete ein blindes Feuer. Ich drückte mein Gesicht in den Staub, während jemand grob über meinen Rücken stieg.
Die Kammer war kleiner als 16 Quadratmeter, ein Domizil a la Le Comte de Monte-Cristo, und wir befanden uns darin zu fünft. Der Kampf, der nun folgte, glich mehr einem Tumult. Einer der Oktagonmänner röchelte und schien erfolglos nach Luft zu schnappen, während die Frau vor Schmerzen aufschrie. Für einen Augenblick roch ich den leicht modrigen, verstaubten Odor, der eindeutig zu Schorm gehörte. Er kroch an mir vorbei, um wieder in den Besitz seiner Tasche zu gelangen.
Ich streckte meinen Arm aus und fühlte den teuren, straffen Stoff von Boss oder Armani. Ich griff fester danach und erkannte, dass ich nun den Kragen eines der Männer hielt. Mit einem Ruck riss ich den Mann in meine Richtung.
Für einen Augenblick war ich überrascht, wie stark mein neuer, wenn auch abgewrackter Körper war. Mit meiner Faust schlug ich nach unten und traf etwas Hartes. Meine Knöchel schmerzten auf, doch ich schlug und schlug und schlug. Dann stieß etwas mit mir zusammen, das nur eine Lokomotive sein konnte, denn ich flog rückwärts und prallte gegen die Wand. Mein Kopf fühlte sich plötzlich sehr warm an und ich schien in einen Teich aus schwarzer Tinte zu tauchen. Darüber erklangen erneut Schüsse. Einer, zwei, drei, vier. Trocken und dennoch lange in der Ferne der unterirdischen Korridore verhallend.
Dann senkte sich endlich wieder die Stille über diesem merkwürdigen Schauplatz. Ich spürte in meiner Nase den vertrauten Duft von Feuerwerkskörpern.
Als ich wieder erwachte, war es noch immer dunkel. Instinktiv griff ich zu meinem Gesicht, als ob die Möglichkeit bestand, dass um mich Licht war und nur meine Augen verdeckt waren.
Von der gegenüberliegenden Wand drang ein leises Stöhnen zu mir, das langsam zu einem Wimmern modulierte, nur um sich nach einer Weile wieder zu einem Stöhnen zu verwandeln.
Ich richtete mich auf und hustete trocken. Dann suchte ich den Boden ab. Meine Finger fanden bald ein Hindernis. Es war Schorms Tasche.
Ich riss sie an mich und legte sie zwischen meine Knie. Nach einer Weile hatte ich eine Taschenlampe gefunden. Ich schaltete sie hastig ein und überschaute die Situation.
Die Oktagon-Männer waren beide tot. Der eine schien erwürgt worden zu sein, während der andere zahlreiche Schusswunden aufwies, deren klebriges Blut sich inzwischen in dem teuren Anzug vollsog.
Schorm war verschwunden.
Die junge Frau saß mir gegenüber. Ihre Hände waren noch immer gefesselt. Sie drückte ihre Handgelenke gegen den Bauch, während zwischen den zusammengepressten Handflächen unaufhörlich Blut hindurch sickerte.
„Der Mistkerl“, siebte sie verbissen und schmerzerfüllt durch die Zähne. „hat ein Messer gezogen.“
Ich blickte zu Seite und sah, dass der erdrosselte Oktagon-Mann ein Springmesser in der starren Hand hielt, das nun das Licht meiner Taschenlampe reflektierte.
Die Verletzungen der jungen Frau schienen ernst zu sein.
„Wie lange war ich drüben?“ murmelte ich und lehnte mich gegen die Wand hinter mir. Ich sah eine der Pistolen vor mir auf dem Boden liegen und hob sie auf. Ich befühlte mit den Fingern den Lauf der Waffe. Sie war noch sehr warm. „Da trippt man eine Weile und wenn man zurückkommt, ist es hier überfüllt, wie in der S-Bahn am Marienplatz.“
Die Frau antwortete zuerst nicht, sondern ächzte nur leise vor sich hin. Ich leuchtete ihr ins Gesicht.
„Vier oder fünf Minuten“, sagte sie schließlich.
„Vier oder...!?“ Ich starrte in die Dunkelheit. Es waren doch Stunden oder ganze Tage, die ich erlebt hatte.
Ich behielt die Pistole hinter mir in Griffnähe und riss den Ärmel ihres Hemds auf. Auf dem Oberarm fand ich die vertraute Tätowierung. Ein Kreis, mit fünf kleinen Kugeln verziert. Und in dem Kreis eine römische III.
Ich steckte die Pistole hinter meinen Gürtel und nahm einem der Toten sein Messer aus der Hand. Es kostete ein wenig Anstrengung.
Dann feilte ich mit dem Messer eine ganze Weile an dem starken Plastikband, dass die Hände der bewusstlosen Frau zusammenhielt, bis es nachgab. Ihre Handgelenke waren blutig und die Haut stark abgeschürft.
Ich packte sie unter den Schultern. Fluchend und ächzend schleifte ich sie durch den Tunnel. Vor der Holzleiter blieb ich stehen und sah leicht verzweifelt in den Schacht hoch. Ich beugte mich zurück zu ihr und mein Auge fing die markante Blutspur auf, die wir auf dem staubigen Boden hinterlassen hatten.
„Ich schaffe es“, murmelte sie plötzlich. Ich leuchtete ihr ins Gesicht. Sie war blass, und ihre Augenlider hingen auf halbe Höhe.
„Ich habe nichts, um Sie zu verbinden“, wisperte ich. „Aber oben im Auto...“
Sie drückte ihre Hand gegen den Bauch und griff nach einer der Leitersprossen.
Mein Abstieg mit Schorm bis zu der verborgenen Kammer hatte gerade mal fünfzehn Minuten gedauert. Meine Rückkehr dauerte über eine Stunde.
Oberhalb der Treppe verlor die Frau wieder das Bewusstsein. Ich zog sie beiseite und verschloss die Steinplatte. Ich wischte und pustete sogar etwas Staub hin und her, um zu vermeiden, dass man sofort sah, dass sich jemand an der Steinplatte zu schaffen gemacht hatte.
Die Steintreppe war der mühsamste Teil der Geschichte und nachträglich ist es mir unverständlich, wie ich es in meiner lädierten Verfassung geschafft hatte, mit einer verletzten Frau bis in die Basilika hinauf zu kommen.
Nachdem ich den reglosen Körper in den Beifahrersitz gelegt und die Lehne weit nach hinten geklappt hatte, blieb ich erst einmal stehen und lehnte schwer atmend meinen Kopf gegen das Autodach.
Die Erschöpfung und der ungenügende Alkoholspiegel unterstützten kräftig das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich versuchte dies zu ignorieren und kramte statt dessen im Kofferraum. Ich fand nach einer Weile einen alten Erste-Hilfe-Kasten und nahm ihn ins Auto. Ich verband die Frau recht laienhaft mit Mullbinden, deren dick aufgedrucktes Verfallsdatum ungefähr in meiner Kindheit lag. Doch das kümmerte mich nicht.
„Was für ein Stress“, brummte ich, während ich den Schlüssel in dem zitternden Zündschloss hielt und dabei mit dem Gaspedal pumpte. Die Isabella hustete zwar vor sich hin, sprang jedoch nicht an.
„Der Choke“, flüsterte die verletzte Frau plötzlich und hob kraftlos den Arm kurz an.
Ich zog an dem kleinen Ring und versuchte es noch mal. Das Auto sprang sofort an.
„Ich war jung, als sie jung war“, sagte sie leise mit geschlossenen Augen. Es klang beinahe wie im Delirium. „Sie bräuchte nur paar Reparaturen.“
Wir fuhren zu Theophil Schorms Wohnung. Die Straßen waren noch menschenleer. Im Osten färbte sich der Horizont langsam mit einer rötlichen Blässe.
„Bleib bei mir“, rief ich der Frau zu, während ich versuchte mich zu orientieren. „Wie ist dein Name? Wie heißt du?“
„Celeste“, antwortete sie leise. Ihr Kopf sackte langsam zur Seite und vibrierte an der Fensterscheibe.
Ich blieb direkt vor dem Haus stehen und griff nach einer Decke, die ich zuvor auf dem Rücksitz gesehen hatte. Ich half der Verletzten aus dem Wagen und warf die Decke über sie. Sie taumelte, doch sie war bereit die letzten Schritte zu gehen. Im Apartment fiel sie auf das Bett und stöhnte. Ihre Mullbinde war inzwischen mit Blut durchtränkt.
„Wie können wir deine Leute kontaktieren?“ fragte ich sie, doch bekam keine Antwort. Ich schlug unsanft auf ihre kreideweiße Wange. „Hast du einen Game Boy dabei?“
Ich durchsuchte ihre Taschen und zauberte tatsächlich eines dieser wundersamen Dinge hervor. Erschöpft rutschte ich auf den Boden, mit dem Rücken gegen das Bettgestell gelehnt. Ich aktivierte das Gerät. Der Bildschirm blinkte nur kurz und zeigte dann stoisch:
session in process
enter password now
„Eklipse“, sagte ich hastig.
Das Gerät war von dieser Eingabe nicht besonders angetan. Auf dem Bildschirm bauten sich enttäuschende Buchstaben auf.
session terminated
wrong password
Ich versuchte es noch paarmal und warf das Gerät dann verärgert aufs Bett.
Eine Weile betrachtete ich Schorms ausgeschalteten Computer. Mein unappetitliches Erscheinungsbild spiegelte sich in dem verstaubten Monitor. Sicherlich hatte er einen Internet-Zugang. Doch ich konnte kaum ahnen, wen ich alles auf den Plan rufen würde, wenn ich diesen Rechner benutzte, um eine Nachricht abzusenden.
Ich erinnerte mich an das Internetcafé, das sich einige Häuserblocks von dem Dom entfernt befand. Ich griff erneut nach dem Schlüsselbund.
Ich taumelte ungehobelt durch die Glastür des Internetcafés und ließ mich vor einem der Terminals auf den Stuhl fallen.
Der junge Kerl an der Kasse warf mir verunsicherte Blicke zu. Er hatte gerade geöffnet und kehrte nun genervt den Boden. Sicherlich sog er kritisch die Luft durch seine Nase ein, um irgendein weiteres Argument zu finden, dass sich die Welt gegen ihn verschworen hat.
Ich rief den Browser auf und tippte kopfschüttelnd www.extremgeilehausfrauen.de *), die Adresse der Webseite ein. Vor mir öffnete sich eine gewöhnliche Pornoseite. Popup-Fenster sprangen zeitgleich auf und unzählige kleine Animationen tänzelten hin und her und verwiesen mich auf fünf Sachen gleichzeitig. Ich war für die frühe Stunde dankbar. Ein Penner, mit billiger Seife rausgeputzt, um in einem Cybercafe Pornos zu schauen. Ein preisverdächtiges Motiv für ein zeitgenössisches Foto. Doch es war niemand da, der mir hätte über die Schulter schauen können.
*) Anmerkung des Verfassers: in den Publikationsjahren war dies die offizielle Adresse zur "Webseite zum Buch".
Ich stellte fest, dass die Technik enorme Fortschritte gemacht hatte, seit ich das Diesseits auf dem Dach des Krankenhauses verlassen hatte. Der Bildschirm war groß, flach und die Auflösung war wesentlich höher, als ich es kannte. Ich klickte auf den Menüpunkt „Kontaktanzeigen“. Es wurden sofort weitere Unterpunkte geladen. Die Leitungen hatten in 2004 einiges an Geschwindigkeit zugenommen. Ich fuhr mit den Augen entlang der Navigationsleiste: Er sucht Sie, Sie sucht Ihn, Er sucht Ihn, Er sucht Paar, Sie sucht Sie, Sie sucht Paar, Paar sucht Ihn, Paar sucht Sie, Paar sucht Paar, TV/TS, Fetisch - BDSM - NS - KV, Swinger suchen Swinger, Profis & Escort und so weiter.
Ich klickte auf Er sucht Ihn.
Es gab mindestens 200 Datensätze unter dieser Rubrik. Doch was ich suchte, befand sich gleich obenauf. Das Datum der Anzeige war weniger als 24 Stunden alt. Ich klickte auf die Überschrift „Unerfahrener sucht reifen Mentor“.
Der gesamte Text der Kontaktanzeige erschien auf dem Bildschirm.
"Reizstromsklave sucht nach einem reifen Herrn, der mich online erzieht. Ich habe mir dazu ein Reizstromgerät gebaut, das man über das Internet fernsteuern kann. Mit diesem Gerät kannst du mich kontrollieren und strafen. Bei Vertrauen späteres Treffen nicht ausgeschlossen. A.K. in H.“
A.K. konnte nur Adam Kadmon heißen und H.? Vielleicht Hamburg. Es mutete wie ein obskurer B-Film an, dass diese Leute eine gefälschte Porno- und Kontaktanzeigenseite verwendeten, um offen miteinander zu kommunizieren. Doch ob es einem gefiel oder nicht: in praktischer Hinsicht ergab das wirklich Sinn. Die Redewendung „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“ wurde hier wirklich vorbildlich verinnerlicht. Ich hatte nicht vergessen, dass das Oktagon mir nur einige Stunden, nachdem ich einige inkriminierte Begriffe ins Yahoo! eingab, einen sehr unfreundlichen Besuch abgestattet hatte. www.extremgeilehausfrauen.de war als Tarnung seltsam, doch zugleich sehr clever.
Unruhig tippte ich meine Antwort.
„Eure Freundin liegt in der Römerstraße 3 in der Wohnung von Theophil Schorm und blutet aus dem Bauch. Wenn ihr nicht kommt, lasse ich einen Krankenwagen kommen. JMK in W“
Ich gab dem Mann an der Kasse einen Fünfeuroschein, ohne zu warten, bis er mir gelangweilt und verkatert vorrechnete, wie viele Cent der neuen Währung ich gerade an einem seiner Computer verbraucht hatte.
Zurück in Schorms Wohnung angekommen, lief ich auf Zahnfleisch. Die unbekannte Frau war wieder bewusstlos. Ich befühlte ihren Puls. Er war schwach, doch die Wunde schien nicht mehr so stark zu bluten.
Auf einem kleinen Schrank stand ein CD-Player und daneben lagen einige Stapel CDs. Ich kramte einige Augenblicke darin. Mindestens ein Dutzend CDs fielen dabei auf den Boden, doch ich achtete nicht darauf. Auf einer selbstgebrannten CD standen mit einem Filzstift geschrieben die Worte: „Lieder für meine Beerdigung“.
Mit der Perfektion eines Betrunkenen legte ich die Scheibe auf die Plastikschublade und drückte die PLAY-Taste.
Aus den Lautsprechern erklang „The Look of Love“ von Dusty Springfield.
Schorm hatte das sicher für einen absolut hippen Sound gehalten, gemessen daran, dass er sich meistens Schlager aus den Dreißigern anhörte.
Ich ließ mich rückwärts auf den abgewetzten Sessel fallen und saß dort breitbeinig, die Arme schlaff auf den weichen Lehnen und starrte vor mich hin. Die Pistole hatte ich gutsichtbar auf den kleinen Tisch neben dem Sessel gelegt, direkt auf einen Bücherstapel, dessen oberster Band den Titel „Akroasis“ trug und von einem Hans Kayser stammte. Das äußerste zu dem ich mich körperlich noch eignete, war das Atmen. Ich sah in den Raum hinein, als befände ich mich am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Das Bild begann zu verschwimmen: die Bücherstapel, die an ein buntes Bauklotzmodell von Manhattan erinnerten, das mysteriöse Mädchen auf dem Bett, fahl, wie eine Tapete, mit einem großen roten Fleck auf dem Bauch, die Teetassen auf dem Tisch, aus den Schorm und ich vor nur wenigen Stunden getrunken hatten.
Als ich die Augen wieder öffnete, lief noch immer Musik. Inzwischen war es das ebenso sanfte „Walk On By“ von Dionne Warwick. Ich saß noch immer in Theophil Schorms abgewetztem Sessel. In der Wohnung ging es recht lebhaft zu. Ein Mann beugte sich über dem Bett und untersuchte Celeste. Er ließ sich von einem anderen Mann und einer Frau assistieren. Sie beachteten mich nicht. Im Raum befanden sich noch drei weitere Menschen, in schwarz-grau-weißer militärischer Bekleidung. Sie trugen moderne Maschinenpistolen in den Händen. Einer von ihnen stand am Fenster und blickte durch einen Spalt im Vorhang hinaus. Ein anderer sah sofort, dass ich wach war.
„Der Typ ist wach, X-Ray“, meldete er sogleich.
„Ich habe jetzt keine Zeit dafür“, rief der Arzt vom Bett, ohne seinen Blick von Celestes Bauchwunde zu heben. „Ist das Blut endlich aufgetaut?“
„Noch 30 Sekunden“, antwortete die Assistentin, während X-Ray, der Arzt, eine zweite Infusion in den Arm der verletzten Frau einführte und anschließend sanft sein Stethoskop an ihre nackte, kreideweiße Brust drückte.
„Helft mir ihre Hose auszuziehen. Ich muss herausfinden, ob sie Blut im Darm hat.
„Sollten wir ihr Lidocain geben?“ fragte ein Söldner, während er die Atemmaske auf das Gesicht der Frau presste und rhythmisch den großen Kunststoffbeutel in seiner Hand knüllte.
„Nicht mit dem Puls. Sie ist jetzt ohnehin weg“, erwiderte X-Ray, der Arzt. Er hob vorsichtig den Schenkel der Frau an und rutschte mit seiner Hand unter ihr Gesäß.
„Sorry, Babe“, flüsterte er und zog seine Hand wieder heraus. Er starrte auf dunkles Blut auf seinem weißen Latexhandschuh.
„Haltet lieber Morphin bereit und eine Injektion mit Thanatol“, ordnete X-Ray an und zog sich missgelaunt die Handschuhe von den Händen.
„Hoffentlich brauchen wir keins von beiden“, fügte er trocken hinzu.
Ich wusste nicht, wie es von hier aus weiterging. Mein Körper fühlte sich noch immer schlapp an, und die Sehnsucht, jetzt anstelle von Celeste auf dem Bett zu liegen, stieg in mir auf. So blieb ich zurückgelehnt sitzen, mit den Händen schlaff über den Armlehnen hängend, und lauschte apathisch der Musik. Die Situation vor meinem Auge erschien mir distanziert, wie eine Kinoleinwand.
X-Ray studierte die Anzeigen eines medizinischen Geräts, das nun auf dem Bett neben Celestes Kopf lag.
„Sie ist stabil. Den Rest im Elysium“, sagte er schließlich. „Jetzt die Trage.“
Seine Assistenten kamen mit einer gelben Stryker-Trage herein und legten geschmeidig die bewusstlose Frau darauf.
„Der Lastwagen ist bereit“, vermeldete einer der Soldaten.
„Gib durch, dass in genau zwölf Minuten der Hubschrauber starten soll. Wir werden in fünfzehn Minuten da sein“, befahl X-Ray. Er war ein schlanker, blonder Mann mit starken Kieferknochen und einem arroganten Lächeln, das sein Gesicht sogar dann beherrschte, wenn er ernst blickte. Und er blickte ernst, denn etwas schien ihn mächtig zu ärgern.
„Sie war noch nicht so weit! Wieso hat Korvinian zugelassen, dass sie Schorm überwacht? Wieso konnte nicht jemand anders den Wächter beschatten?“
Er wischte sich die Hände in ein feuchtes Tuch ab und nahm mich nun in Augenschein. Die Soldaten verließen die Wohnung. Nur einer blieb. Offensichtlich der Anführer der Einheit.
„Er war ein alter Mann“, sagte er wortkarg.
„Celeste hätte nicht im Feld sein sollen, Sargon“, erwiderte X-Ray, der Arzt, wütend, während er seine Finger auf mein Handgelenk legte und den Puls prüfte.
„Adam sagte, er soll mit“, erklärte er genervt dem Riesen und richtete sich wieder auf. „Ich wüsste gerne, was an ihm so interessant ist.“
Der glatzköpfige Hüne im schwarz-grau-weiß-farbigen Kampfanzug verzog wortlos den Mundwinkel und packte mich am Arm.
Ich wurde ebenfalls in den kleinen Lastwagen verfrachtet. Deutlich unsanfter als Celeste. Aber ich hatte auch keine Wunde im Bauch. Höchstens eine in der Leber, doch diese Herren waren nicht darauf bedacht, hierbei Rücksicht walten zu lassen.
Von außen war der Kastenwagen mit dem bunten Slogan beschriftet:
Uns ist nichts zu bunt!
CAMODI - Carlos Mobiles Discofieber.
Damit Ihre Party trotzdem klappt!
Doch im Inneren befand sich eine medizinische Station. Ich sah flimmernde und blinkende Geräte und einige sehr verdächtig aussehende Schränke aus Metall. Man bedeutete mir, Platz zu nehmen. Ich ließ mich auf eine der Sitzbänke fallen. Nur wenig später hörte ich den Motor aufheulen und spürte die Vibration in meinem Rücken. Der Lastwagen fuhr los. Es dauerte nicht lange und ich schlief wieder ein, zusammengekauert auf der Sitzbank.
Als ich wieder erwachte, stand Sargon über mich gebeugt und stieß mit der Spitze seiner Maschinenpistole in meine Schulter. Ich rieb mir die Augen und sah ihn verwundert an.
„Er ist draußen im Park“, sagte er und trat beiseite.
Ich orientierte mich und stellte fest, dass der Lastwagen stehengeblieben war. Celestes Bahre war leer, und ich erinnerte mich, dass sie über einen Hubschrauber gesprochen hatten. Ächzend stand ich auf und torkelte auf das grelle Sonnenlicht zu, das breit und grob durch die offene Laderaumtür hereinfiel. Ich hielt meine Hand vors Gesicht und kletterte unsicher die Stufen herab.
Ich atmete tief die Herbstluft ein, die trotz der unverhüllten Sonne bereits kühl und rau schmeckte.