Die Nacht war kühl und der Himmel übersät mit seinen stetigen Begleitern, den Sternen. In der kleinen, verschlafenen Vorstadt war alles ruhig. Die Lichter der Häuser waren schon seit einiger Zeit alle erloschen. Aus den Schornsteinen stiegen langsam kleine und große Rauchsäulen hervor, die sich im Tiefschwarz der Nacht verloren. Die Straßen waren bedeckt mit den Blättern der Bäume, welche sich für den annähernden Winter wappneten. Alles war ruhig. Nur vereinzelt flog eine Fledermaus durch die Luft oder überquerte eine Katze die sonst leeren Straßen. Diese idyllische Ruhe wurde von einem schnell fahrenden, weißen Lieferwagen durchbrochen. Dieser raste regelrecht durch das verschlafenen Städtchen. Er bog mit quietschenden Reifen aus einer Seitenstraße auf die Hauptstraße ab und fuhr Richtung Ausgang der Stadt. Außerhalb des Ortes kam der Lieferwagen an einigen Bauernhöfen und Feldern vorbei. Auch hier war alles bereits in tiefen Schlaf verfallen. Ganz leise war es jedoch nicht! Aus der Ferne konnte man aus einem Waldstück Musik wahrnehmen. Der weiße Lieferwagen fuhr in Richtung dieser Musik.
In einem kleinen Waldstück neben der verschlafenen kleinen Vorstadt war es heute Nacht ganz und gar nicht ruhig. Durch die hohen, großen Bäume, die zum Großteil aus alten, dicht bewachsenen Buchen bestanden, hallten laute Klänge eines Gitarrensolo. Diese Klänge waren im Wald selten. Dieser war kaum besucht und nur selten verirrte sich ein Wanderer hinein. Doch heute Nacht war es der Austragungsort einer wilden, großen Party. Mitten in dem Waldstück lag eine alte, halb verfallene Lagerhalle. Seit Jahren wurde diese Halle von niemandem mehr besucht. Keiner hatte sich um sie gekümmert und sie stand Tag für Tag verlassen da. Doch heute Nacht war sie mit hellen Flutlichtstrahlern beleuchtet und auf den alten, schlecht befahrbaren Wegen waren Fackeln aufgestellt worden. Direkt neben der Halle war ein kleiner See. Auch dieser wurde durch Fackeln hell erleuchtet. Aus der Halle schallte sehr laute Rock-Musik. Eine Band spielte pausenlos die besten Rockhymnen der letzten dreißig Jahre. In dem Gebäude konnte man sich kaum noch bewegen. Sie war voll mit feiernden, jungen Menschen. Die gesamte Jugend der Vorstadt und der umliegenden Ortschaften hatte sich hier versammelt, um die Party ihres Lebens zu feiern.
Auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude waren Feuerschalen aufgestellt und angezündet worden. Um die Wärmequellen herum hatten sich Feiernde versammelt, quatschten und rauchten. Betrunkene taumelten aus der Haller heraus und nach kurzer Zeit wieder hinein. Die heitere Menge grölte bis zur Heiserkeit die im Gedächtnis verankerten Lieder mit. Die Stimmung hätte besser nicht sein können. Nur zwei in der Mitte der Masse stehende junge Frauen sahen eher betrübt aus. Die beiden versuchten sich über die Lautstärke hinweg miteinander zu unterhalten. Hoffnungslos! Es war einfach zu laut und zu voll! Eine der Frauen packte die Hand der anderen und zog sie in Richtung des Ausganges. Hand in Hand manövrierten die beiden sich durch die vielen betrunkenen und feiernden Leute. Als sie endlich im Freien standen, atmeten sie erleichtert auf und die erfrischend kühle Luft tief ein. Beim Ausatmen bildete sich leichter Nebel vor ihren Mündern. Die junge Frau packte die Hand der Freundin und zog sie noch weiter von der Halle weg. Als sie etwas abseits standen, packte sie sie energisch an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Jenny, jetzt sei doch bitte etwas fröhlicher und lass bei einer so geilen Party nicht dauernd den Kopf hängen!“ Jenny sah ihre Freundin traurig an. Diese seufzte. „Mensch, dass du wegen so einem Arsch immer noch so einen Trübsal blasen musst, das hat er wirklich nicht verdient!“ „Nina, ich weiß es sehr zu schätzen, dass du schon den ganzen Tag versuchst mich wieder aufzumuntern… aber Kevin… er war einfach mein Traummann…“ Nina verdrehte die Augen. Sie sah Jenny verständnislos an. „Dein ach so toller Traummann hat dich per WhatsApp abserviert und die Krönung der Geschichte – auch noch mit deiner Cousine betrogen.“ Jenny kullerten vereinzelt kleine Tränen die Wangen herunter. Sie nickte langsam, aber sah immer noch sehr betrübt aus. Nina nahm Jenny fest in den Arm und tröstete sie, bis diese nicht mehr weinte. Als die Tränen getrocknet waren, sah Nina Jenny an und begann breit zu grinsen. „Jenny, du kennst doch meine Tante Charlie, oder?“ „Die verrückte Tante Charlie, die nie einen Mann gefunden hat?“ Nina nickte. „Naja, nie einen Mann könnte man nicht sagen, sie hatte einfach viel zu viele männliche Bekanntschaften und wollte sich einfach nie für einen entscheiden. Aber um auf den Punkt zu kommen, meine Tante Charlie würde zu dieser Situation nur einen Satz sagen!“ Nina räusperte sich und imitierte mit verstellter Stimme: „Mein liebes Kind, vergiss diesen Langweiler! Es gibt hier in dieser Stadt viele hübsche und sehr nette Mütter mit ebenso hübschen und netten Söhnen, also reiß dich nun zusammen und schnappe dir einen dieser Söhne! Man lebt nur einmal und muss einem fremdgehenden Mann nicht nachtrauern. Dieser Flegel hat dich nicht verdient!“ Nina hatte während der Ansprache eine ihrer Hände zur Faust geballt wie ein Mikrofon an ihren Mund gehalten. Und bedankte sich verbeugend nach der Vorführung bei ihrem „Publikum“. Jenny musste zum ersten Mal an diesem Abend von ganzem Herzen lachen. „Ja, das war auf jeden Fall eine sehr gute Imitation deiner Tante!“ Nina grinste Jenny breit an. Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Also Jenny, bist du bereit, einen dieser Söhne heute Abend auf dieser Party kennen zu lernen?“ Jenny schaute Nina sehr skeptisch an. Das Lächeln auf ihren Lippen war verschwunden. „Ich weiß nicht, sieh mich doch an… wer will mich denn schon haben?“ Nina grinste sie böse an und gab ihr eine Kopfnuss. „Hey Nina, das tat weh!“ Jenny rieb sich mit beiden Händen die getroffene Stelle am Kopf. „Bist du nun wieder bei normalem Verstand? Meine beste Freundin würde so etwas nie zu sich selbst sagen, denn ihr ist ganz genau bewusst, was für eine tolle, wunderhübsche und kluge Frau sie ist!“ Jenny wurde bei Ninas Worten rot. Sie wusste, dass Nina Recht hatte. Wieso benahm sie sich wegen eines Mannes nur so daneben und verlor ihr komplettes Selbstbewusstsein? Das musste sich sofort ändern! Jenny begann zu lächeln und nickte. „Du hast Recht Nina, komm, lass uns den Rest der Nacht noch sehr viel Spaß gemeinsam haben!“ Jenny nahm Ninas Hand und wollte gerade los laufen, doch Nina blieb an Ort und Stelle stehen. „Was ist denn los?“, fragte Jenny verwundert. „Ich muss aufs Klo!“ Ninas Gesicht war knall rot angelaufen. Sie sah sich verlegen um. „Du hast hier keines gesehen oder?“ Jenny schüttelte den Kopf. „Wir sind hier mitten im Wald. Wahrscheinlich wurde vergessen, einen Toilettenwagen zu bestellen. Ich glaube, du musst wohl oder übel ins Gebüsch!“. Nina seufzte. Sie empfand den Wald als äußerst gruselig, da dieser so dicht und dunkel war. Aber länger konnte sie auch nicht mehr aushalten. Sie musste aufs Klo! „Komm, lass uns den Weg hier etwas entlang gehen und von dort aus kannst du dann in den Wald hineingehen und tun ähm… was getan werden muss.“ Jenny und Nina schalteten die Taschenlampen ihrer Smartphones ein und liefen los. Nina lief dann nach ein paar Metern entlang des Weges in den Wald hinein und verschwand hinter einem Baum. Jenny schaute sich ängstlich um. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie hatte ein ungutes Gefühl. Plötzlich knackte ein Ast laut auf. Jenny erschrak und fuhr herum. Dort war nichts! Sie sah sich mehrmals um. Auf dem dunklen Wegesrand standen vereinzelt Autos. Sie konnte auch in der Ferne in ihrem Lichtstrahl einen weißen Lieferwagen erkennen. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wo bleibt denn bloß Nina? Jenny rief nach ihr. Es kam aber keine Antwort. „Nina, komm raus, das ist nicht witzig!“ Jenny bekam immer noch keine Antwort. Sie ging nun nachsehen, wo sie blieb. Ganz langsam schlich sie zu dem Baum, hinter dem Nina sein musste. Doch als sie ankam, war dort keine Nina zu sehen! „Nina?“ Wo war sie nur? Jenny bekam Angst. „Nina, wo bist du?“ Sie rief weiter ihren Namen, aber eine Antwort erhielt sie nicht. „NINA!!“
***
„Schon wieder ist eine junge Person im Alter zwischen 15 und 30 Jahren spurlos verschwunden. Die 18-jährige Nina L. ist vergangenen Samstag auf einer Feier im Wald in der Nähe von Neustadt spurlos verschwunden. Suchtrupps haben das gesamte Gelände rund um das große Waldgebiet bereits mehrmals durchsucht. Nina L. ist mittlerweile die 40. Vermisste, die innerhalb eines Monats verschwunden ist. Sie trug am Abend ihres Verschwindens eine blaue Jeanshose, einen braunen Pullover und eine Lederjacke. Falls Sie Informationen zu dem Verschwinden von Nina L. haben, melden Sie sich bitte unter der unten eingeblendeten Nummer. Durch die vielen Vermisstenfälle in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich diese drei Länder dazu entschieden, die Ermittlungen in gemeinsamer Arbeit fortzusetzen. Hierzu wurde eine Sondereinheit gegründet…. Nun zu dem Wetter…“ Der Fernseher wurde ausgeschaltet.
„Oh man, schon wieder wird jemand in unserem Alter vermisst. Langsam müssen wir uns echt um unsere Sicherheit Sorgen machen!“, sprach ein blonder, junger Mann mit besorgter Miene in den Raum. Er war nicht der Einzige, der dem Bericht des Nachrichtensprechers am frühen Morgen gebannt gelauscht hatte. In der kleinen Küche saßen vier Personen an einem Tisch und frühstückten. Es handelte sich um eine WG in einem Stadtteil Berlins. Alle Vier am Tisch waren Studenten, die die selbe Uni besuchten. Eine zerbrechlich wirkende Frau rückte skeptisch ihre Brille auf der Nase zurecht. „Maurice, dir ist schon klar, wie viele Menschen allein in Deutschland leben? Und wie viele im Vergleich dazu in den drei Ländern vermisst werden? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass gerade einer von uns Vieren entführt oder vermisst wird!“ Sie sah den blonden Mann mit verschränkten Armen an und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist schier unmöglich!“ Ein etwas molliger Mann mit Nerd Brille und strubbeligem, braunem Haar meldete sich nun zu Wort: „Vielleicht haben sie sich alle gegen die Regierung verschworen und wurden beseitigt? Oder sie sind in einem Time Loop geraten und finden nicht mehr heraus? Wusstet ihr, dass weltweit jährlich über 1000 Menschen unerklärlicherweise verschwinden? Habt ihr schon einmal von den „Missing 411“ Fällen aus Amerika gehört?“ „Jetzt reicht es aber Thomas! Bei mir bist du mit deinen Verschwörungstheorien an der komplett falschen Stelle! Ich glaube an so einen Scheiß nicht!“ entgegnete die dünne Frau genervt. „Das sind alles Fakten und keine Theorien! Es wurden sogar zahlreiche Bücher über diese Themen veröffentlicht!“ Die Frau stand auf und knallte ihre flache Hand auf den voll gestellten Frühstückstisch. Sie sah Thomas wütend an. „Wer von uns beiden war es denn, der letzte Woche fest davon überzeugt war, ein Ufo gesehen zu haben? Wer hat uns daraufhin alle aufs Dach geschleift, um stundenlang nach weiteren Ufos Ausschau zu halten? Und was war es zum Schluss? Ein Wetterballon!“ Der Mann wurde rot und sah beschämt zu Boden. „N… Nancy, d.. du weißt doch, dass meine Augen nicht die Besten sind… u… und es gibt genug Videos, die beweisen, dass es Ufos gibt! Die sind leider etwas verschwommen, aber irgendwann, wenn die Aliens uns angreifen, dann wirst du sagen: „Thomas, es tut mir leid, du hattest Recht!““ „Pah, als ob das jemals passieren wird!“
Maurice ging, bevor die Diskussion noch weiter eskalieren konnte, was häufiger der Fall war, zwischen die Beiden und begann zu schlichten. „Hey, jetzt beruhigen wir uns alle erst einmal, ja?“ Er sah zu der vierten Person am Tisch hinüber. Einem zierlichen Mädchen mit geflochtenem, braunen Haar. Ihre blauen Augen sahen teilnahmslos in ihre Müslischüssel. „Hey, Anna nun sag du auch etwas, um die beiden Streithälse zu beruhigen!“ Anna schien ihn nicht gehört zu haben. Sie sah weiterhin in die Schüssel und nahm einen Löffel voll in den Mund. Maurice seufzte, stand auf und ging zu ihr hinüber. Als er neben ihr stand, hob er seine rechte Hand, legte diese sanft auf ihren Kopf und begann ihre Haare zu verstrubbeln. „Aufwachen! Reallife an Anna! Hallo, aufwachen! Raus aus der Traumwelt zurück in die Wirklichkeit!“ ,sagte er mit einer lauten Stimme. Anna sah erschrocken auf, kniff die Augen zu und versuchte mit ihren Händen ihre Haare vor Maurices Angriffen zu schützen. „Hey, was soll das?“ „Du solltest besser aufpassen, wenn wir was zu dir sagen! Wir sind schließlich Mitbewohner, mit denen man sich auch unterhalten kann!“ Anna sah auf. Alle im Raum schauten sie an. Ihr war das total unangenehm. Sie lief rot an. „T…tut mir leid.“ „So und nun, da sich alle wieder beruhigt haben und Anna aus ihrer Traumwelt entfliehen konnte, was hältst du von den vielen Vermisstenfällen in Deutschland, Anna?“ Maurice sah sie erwartungsvoll an. Anna legte fragend ihren Kopf zur Seite. „Was soll ich denn davon halten?“ Maurice seufzte und kratzte sich am Hinterkopf. „Naja, du musst doch eine Meinung zu dem Thema haben oder etwa nicht?“ „Ach so… mhm… die Leute hatten einfach nur sehr großes Pech, würde ich sagen. Aber was hat das nun mit mir zu tun?“ „Äh, hast du keine Angst, entführt zu werden?“, fragte Thomas stirnrunzelnd. „Doch, schon, aber wenn ich vor allem Angst hätte, was mir so an einem Tag theoretisch passieren könnte, und mir unnötig deshalb Sorgen mache, dann würde ich ja gar nicht mehr vor die Tür gehen! Ich glaube, es ist wahrscheinlicher, von einem Auto angefahren zu werden, als am helllichten Tag entführt zu werden!“ Nancy nickte zustimmend. „Seht ihr, Anna ist der gleichen Meinung wie ich!“ Maurice schüttelte den Kopf und lachte. „Aber es könnte schon vorkommen, dass Frauen entführt werden, besonders in einer Weltmetropole wie Berlin! Ich könnte dir ja etwas Kampfsport beibringen oder du gehst mit mir gemeinsam ins Fitnessstudio, Anna.“ Anna sah in skeptisch an. Nancy verdrehte die Augen. „Ne, das lassen wir lieber. Ich bin in Sport schon immer eine Niete gewesen.“ Anna winkte nervös lachend ab.
„Oje, wir kommen zu spät zur Uni!“ Thomas stand hektisch vom Tisch auf. „Schnell, wir müssen die Bahn noch erwischen!“ Anna und Thomas räumten so schnell wie sie konnten den Tisch ab und liefen aus dem Raum, um ihre Sachen zu holen. Maurice sah traurig zu Boden und seufzte. Nancy stand auf und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ohne es zu merken, gibt sie dir jedes Mal einen Laufpass. Vielleicht solltest du ihr endlich mal deine Gefühle gestehen!“ Maurice sah sie nur nachdenklich an…