Anna war stinksauer. Der Tag fing ganz normal an. Sie gingen etwas verspätet los. Maurice hatte sie vor dem Eingang der Uni noch kurz aufgehalten. Er wollte sich mit ihr für den heutigen Abend kurz verabreden, um über etwas Wichtiges zu sprechen. Hoffentlich war es nicht der Putzplan für nächste Woche. Es war die einzige Woche, in der Anna mal keine Aufgaben hatte. Er will bestimmt, dass ich einen seiner Dienste übernehme. Die Vorlesungen waren auch nicht gerade ereignisreich. Doch während der Mittagspause nahm die Katastrophe ihren Lauf. Anna war mit ihren Kommilitonen in der Mensa und wollte gerade mit ihrem Tablett voller Essen einen Platz suchen gehen. Jedoch rutschte sie auf einer Wasserlache aus und ihr komplettes Tablett landete schwungvoll in ihrem Gesicht. Zuerst - Stille. Doch dann brach sie los, die reinste Hölle. Das Gelächter erschallte in der kompletten Mensa. Die Smartphones wurden gezückt und von ihr und dem Saustall Bilder und Videos gemacht. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis diese auf allen bekannten Social Media Plattformen viral gehen müssten. Selbst die Dozenten haben sich über Ihren Anblick amüsierte. Niemand kam ihr zur Hilfe! Anna war sauer auf sich selbst, auf ihre Kommilitonen, auf die Dozenten und die Uni. Maurice war zu diesem Zeitpunkt nicht bei ihr, da er heute nur am Vormittag Vorlesungen hatte. Somit konnte er ihr nicht wie sonst aushelfen. Sie war ganz alleine. Warum musste ihr das gerade heute passieren? Bis jetzt hatte sie sich so gut es ging im Hintergrund gehalten. Anna wollte nicht auffallen. Sie wollte einfach nicht, dass es ihr ging wie damals auf der Schule. Alle hatten sie gemobbt, weil sie so verträumt und schusselig war. Es gab nicht viele, mit denen sie befreundet war. Nur ihre besten Freunde Maurice und Luisa hatten zu ihr gehalten. Und nun musste so etwas passieren! Als Anna wieder an den Vorfall dachte, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Alle hatten sie ausgelacht und Witze über sie gerissen. Warum waren ihr nur keine frechen oder bösen Kommentare dazu eingefallen? Warum konnte sie nicht so cool und mutig wie die anderen sein? Nein, sie war der schüchterne Nerd, der alles mit sich machen lässt. Sie war die, die anders war. Sie hatte sich fest vorgenommen, diese Tatsache niemandem in der Uni zu zeigen. Sie wollte so tun, als würde sie auf ganz normales Zeug stehen. So wie die anderen Mädchen in ihrem Alter. Anna hasste gerade jetzt sich selber und ihren Charakter mehr denn je. Zum Glück war gerade die letzte Vorlesung vorüber und sie konnte die Uni mit ihren ganzen dummen Kommentaren verlassen. Zum Glück hatte sie vorgehabt, mittags noch im freiwilligen Sportprogramm der Uni mitzumachen. Daher hatte sie Kleidung zum Wechseln dabei. Wütend packte sie ihre Sachen und stapfte drauf los. Sie ignorierte die weiteren Kommentare in den Fluren. Der Vorfall hatte sich bereits wie ein Lauffeuer in der gesamten Uni herumgesprochen. Anna wollte am liebsten sofort zurück in ihre WG rennen, in ihr Zimmer gehen und sich auf ihrem Bett unter die Decke kuscheln. Einfach für den restlichen Tag unter der Decke liegen und sich vor der ganzen Welt verstecken. Aber sie war diese Woche mit dem Einkaufen an der Reihe. Anna seufzte. Warum war dieser Tag so verflucht?
Sie ging in Richtung Innenstadt. Zum Glück kannte sie ein paar Abkürzungen zum Supermarkt. Dazu nahm sie mehrere, enge Seitengassen. Diese waren völlig unbewohnt. Nach ungefähr zehn Minuten erreichte sie schließlich ihr Ziel. Vor dem Supermarkt fühlte sich Anna plötzlich beobachtet. Sie drehte sich in alle Richtungen und schaute sich um. Sie konnte aber niemand sehen, der sie anstarrte. Vielleicht war es jemand von der Uni, der ihr gefolgt war, um sich weiter über sie lustig zu machen! Nein, das konnte nicht sein! Die meisten hatten Besseres zu tun, als ihr zu folgen. „Komisch, da muss ich mich geirrt haben“, dachte sie sich. Sie betrat den Supermarkt und kaufte alle benötigten Lebensmittel ein.
Es war zum Glück nur eine Tragetasche voller Dinge. Viel mehr hätte sie zusammen mit ihrem Rucksack nicht tragen können. Muskulös war sie ja auch nicht. Maurice machte sich immer darüber lustig, dass sie selbst zu schwach war, um ein Marmeladenglas zu öffnen.
Als Anna aus dem Laden trat, wurde ihr sofort wieder ganz unbehaglich. Das konnte doch kein Zufall sein! Anna schaute sich noch einmal gründlich um. Auf dem Parkplatz des Supermarktes standen ein paar Autos. Auf dem Gehweg davor lief immer mal wieder ein Passant vorbei. Sonst war niemand zu sehen. Niemand, der Anna anstarrte. Sie schüttelte den Kopf, um die schlechten Gedanken loszuwerden. Jetzt fing sie auch noch an zu halluzinieren. Was für ein scheiß Tag!
Anna trat den Heimweg an und lief wieder durch ihre Abkürzungen. Sie musste erneut an der Uni vorbei, um zu ihrer WG zu gelangen. Als Anna gerade in eine leere Nebenstraße abbog, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Zudem verstärkte sich das Gefühl, beobachtet zu werden! „Was konnte das nur sein?“, fragte sie sich. Sie blieb kurz stehen und schaute sich ein weiteres Mal um. Niemand zu sehen! „Entwickle ich gerade übernatürliche Vorahnungen? Würde morgen etwas Schlimmes passieren? Was spinnst du dir nun wieder zusammen, Anna Roos?“, dachte Anna. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Langsam verlierst du den Verstand! Was sollte denn passieren?“ Ihr kamen die Bilder von heute Morgen mit den vermissten Personen in den Sinn. Sie lachte laut. „Jetzt bin ich total übergeschnappt! Zum Glück sieht mich so keiner!“ Anna drehte sich prüfend noch einmal im Kreis. „Wie ich wohl für Fremde gerade aussehe? Drehe mich um mich selbst, bleibe plötzlich stehen, fange ohne Grund an, laut zu lachen. Jap, ich gehöre definitiv in die Klapse!“ Tief in Gedanken versunken lief Anna die leere Straße entlang. Sie bemerkte den weißen Transporter erst, als dieser genau neben ihr anhielt. Anna blieb aber nicht stehen, sondern lief weiter. Sie dachte sich nichts dabei. Es fuhren ja schließlich viele Transporter durch Berlin. Jemand rief ihr aus dem Auto nach: „Hey, Mädchen!“ Anna drehte sich um und schaute zu dem Transporter. „Was will der denn?“, fragte sich Anna. „Kannst du mir vielleicht erklären, wie ich zum Bahnhof komme?“, rief der Fahrer ihr zu. Anna ging zurück zu dem Transporter und blieb an der Fahrertür stehen. Sie nickte und wollte gerade in eine Richtung zeigen, als die Schwingtür des Fahrzeuges aufgestoßen wurde. Drei Männer komplett in schwarz gekleidet sprangen heraus und packten Anna, die sich verzweifelt versuchte zu wehren. Sie rissen Anna von den Füßen, hoben sie hoch und sprangen mit ihr wieder in den Transporter zurück. Anna fing an zu schreien, aber ihr Mund wurde von einem der Männer zugehalten. Sie biss ihm in die Hand, aber das schien ihn nicht zu stören. Ihre Schreie waren eh umsonst, denn die Straße war immer noch wie leer gefegt.
Während des Handgemenges zwischen Anna und den Männern hatte Anna die Einkaufstasche fallengelassen. Einer der Kerle hatte ihr den Rucksack vom Rücken gerissen und in den Transporter geworfen. Die Schwingtür wurde zugeworfen und der Transporter fuhr mit quietschenden Reifen davon. Nur die Tasche mit den Lebensmitteln blieb auf dem Gehweg zurück.