Anna saß in einer dunklen kleinen Zelle. Man hatte ihr alles weggenommen. Ihre Klamotten, die Schuhe, ihren Rucksack sowie ihr Smartphone. Sie trug nun einen schwarzen Einteiler. Es war so demütigend, kaum zu ertragen, dass Wildfremde sie ausgezogen und sie bis auf die Unterwäsche gesehen hatten. Anna schämte sich. Was wollten diese Leute nur von ihr? Schon während des Transportes war ihr diese Frage andauernd in den Kopf gekommen. Sie hatte noch nie etwas verbrochen! Das würde sie sich auch nie im Leben trauen! Sie könnte sich auch nicht vorstellen, dass sie oder ihre Familie irgendwelche Feinde hätten. Anna war ein ganz normales Mädchen, das niemandem richtig aufgefallen ist und ihre Familie war auch ganz normal, nicht einmal vermögend! Was wollten diese Leute nur von ihr? Plötzlich prallte die Erkenntnis, was mit ihr gerade geschehen ist, wie mehrere Faustschläge auf sie ein. Erst heute Morgen hatten ihre Mitbewohner sie noch davor gewarnt, dass es möglich wäre, auch ein Opfer der Entführungsfälle zu werden. Und nun, ja nun war sie entführt worden. Der Tag wurde immer schlimmer! Anna versuchte sich daran zu erinnern, was passiert war, nachdem sie in den Transporter gezerrt wurde.
Während des Transportes hatte man ihr die Augen verbunden. Es war komplett still. Niemand redete ein Wort. Man konnte nur das Geräusch des Motors hören. Anna war an den Armen und Beinen gefesselt. Wahrscheinlich waren es Kabelbinder. Sie taten an den gefesselten Stellen sehr weh und schnitten sich in Annas Haut. Sie saß nicht auf einem Autositz. Der Untergrund fühlte sich kalt an. Es musste sich um die Ladefläche des Transporters handeln. Irgendwann während der Fahrt packte jemand ihr rechtes Handgelenk, hielt es sehr fest und kurz darauf durchbohrte Anna ein stechender Schmerz! Sie schrie kurz auf. Aber sofort wurde ihr der Mund zugehalten. Kurz darauf wurde sie geknebelt. Anna konnte zusammen mit dem Motorengeräusch nun ein gleichmäßiges Summen hören. Als der Schmerz dann endlich aufhörte und das Summen verstummt war, ging es ihr nicht gerade gut. Anna dachte die ganze Zeit, sie müsste sich übergeben und ihr Kopf dröhnte. Ihr Handgelenk pochte vor Schmerz.
Anna wusste nicht mehr, wie lange die Fahrt bereits dauerte. Vielleicht waren es ein oder zwei Stunden. Es könnte aber auch ein viel längerer Zeitraum vergangen sein. Sie hatte das Zeitgefühl komplett verloren. Und als der Motor schließlich zum Stillstand kam, wusste sie nicht einmal mehr, ob es Tag oder bereits Nacht war und ob sie überhaupt noch in Deutschland waren oder nicht. Die Schwingtür des Transporters wurde geöffnet, jemand packte sie und schwang sich ihren Körper über die Schulter. Anna wurde eine Zeit lang getragen, bis sie dann hingestellt wurde und man ihre Hände und Beine von den Fesseln befreite. Jemand zog ihre Kleidung aus. Anna wollte sich wehren, aber sie bekam eine schallende Ohrfeige. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Ihr wurde ein Einteiler angezogen. Dann hörte Anna, wie eine schwere Tür ins Schloss fiel und abschlossen wurde. Sie nahm sich die Augenbinde ab und entfernte ganz vorsichtig das Klebeband auf ihrem Mund. Dann setzte sie sich in eine der Ecken der Kammer, legte den Kopf auf die Knie und weinte.
Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder beruhigt. Anna rieb sich ihre schmerzenden Handgelenke. Als sie über das rechte strich, fuhr der stechende Schmerz erneut hindurch. Sie schaute auf die Innenseite und fand dort ein „X“ wieder. Es war nicht gerade groß und es befand sich in etwa dort, wo ihr Handgelenk aufhörte und der Unterarm anfing. Die Stelle war knallrot und leicht geschwollen. Sie rieb darüber, rubbelte regelrecht daran. Sie versuchte dabei den Schmerz so gut es geht zu ignorieren. Es ging nicht weg! Ein Tattoo!, dachte Anna, auch das noch. Sie wollte zwar schon immer ein Tattoo, aber an ein „X“ hatte sie dabei nicht gedacht.
Die Frage, was diese Leute nur von ihre wollten, kam Anna wieder in den Sinn. Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Sie war auch kein Teil der Entführungsfälle aus den Nachrichten. Die Entführer hatten sie bestimmt verwechselt. Ja, dass musste es sein! Nun hatten sie bestimmt Annas Fingerabdruck und konnten alles überprüfen. Gleich würde jemand kommen und sie frei lassen, dabei würden sie sich mehrfach entschuldigen. Oder ihr bester Kumpel hatte Anna bei „Verstehen Sie Spaß?“ angemeldet. Das würde auch das Szenario von der Entführung durch Fremde in einem Transporter erklären. Sie hatte sich am Anfang auch wie in einem schlechten Actionfilm gefühlt. Anna hob den Kopf und suchte die Ecken des Raumes nach Kameras ab. Aber sie konnte keine entdecken. Gleich kommt jemand und dann würde sie aufgeklärt werden. Man würde ihr alle Kameras zeigen, bestimmt neumodische Hightech Kameras, die so klein sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann. Und dann könne sie gehen und Maurice würde ihr entgegen kommen und sie lachend in die Arme schließen. Er würde sich sehr oft entschuldigen müssen. Sehr, sehr oft! Nun wartete Anna, dass jemand kommen würde, um sie aufzuklären. Doch es kam niemand.
Sie gab ihre Hoffnung auf ein Missverständnis oder eine Verarsche durch „Verstehen Sie Spaß?“ dann doch wieder auf. Niemand würde kommen. Nun sah sie sich in der kleinen, dunklen Zelle um. Sie war leer. Nichts war in diesem kleinen Raum. Die Wände waren aus kaltem Beton. Es gab nicht einmal ein Fenster nach draußen. Durch einen kleinen Spalt unterhalb der Stahltür am anderen Ende des Raumes kam etwas Licht. Eine andere Lichtquelle gab es nicht. Sie würde wohl oder übel darin sterben. Wahrscheinlich würde nie jemand kommen, um sie zu holen! Abgeschottet von der ganzen Zivilisation würde sie sterben. Wahrscheinlich verhungern oder verdursten. Oh nein, dachte Anna, das will ich nicht! Sie legte den Kopf wieder auf die Knie und konnte gerade so ein Schluchzen unterdrücken. Irgendwann schlief sie erschöpft mit Tränen in den Augen ein.
Anna schreckte aus einem sehr unwohlen Schlaf auf. Sie hatte sich, wie eine Katze, auf der Seite eingerollt und lag auf dem harten Beton. Ihr Rücken tat weh. Sie fühlte sich wie eine alte Frau. Anna wusste nicht, wie lange sie wohl geschlafen hatte, geschweige denn wie lange sie jetzt schon in der Zelle saß. Sie fragte sich, ob sie wohl schon jemand vermisste. Hatte jemand bemerkt, dass sie fehlte? Vielleicht ist es auch niemandem aufgefallen.
Auf einmal hörte Anna Stimmen vor ihrer Zelle. Quietschend öffnete sich die schwere Stahltür. Drei Männer in schwarzen Uniformen betraten die Zelle und standen nun vor ihr. Sie eskortierten sie von ihrer Zelle durch mehrere Gänge bis hin zu einer anderen, großen Tür. Anna war sehr nervös und wollte wissen, wo sie hingebracht wurde. Was mochte sich hinter dieser Tür verbergen? Sie blieb kurz vor der Tür stehen. Anna hatte Angst. Was würde hinter der Tür mit ihr passieren? Würde dort jemand auf sie warten, um sie dann umzubringen? Man hatte ihr ja nicht gesagt, wo man sie hinbrachte. Einer der drei Männer schubste sie unsanft nach vorne und bedeutete ihr, dass sie durch die Tür gehen solle. Anna wollte zwar nicht gehen, musste es aber. Sie ging durch die Tür und dahinter war ein sehr großer Raum. Darin standen schon sehr viele Leute. Die meisten hatten wie Anna einen schwarzen Einteiler an. Beim näheren Betrachten der Leute bemerkte Anna, dass sie ungefähr im gleichen Alter waren, wie sie und an den verschiedensten Körperstellen auch Tattoos hatten. Anna zählte so um die fünfzig Personen in schwarzen Einteilern. Es konnten aber auch mehr sein. Nun bemerkte Anna, dass das Tattoo auf ihrem Handgelenk kein X war, sondern eine nach dem römischen Alphabet geschriebene Zehn! Und dass jede der schwarz gekleideten Personen eine andere Zahl tätowiert hatte. Bei einem der Jungen sah Anna die Zahl auf dem Hals. Er war recht dünn und hatte grau-blondes Haar. Das Tattoo zeigte die Zahl dreißig, also „XXX“. Ein anderer Junge hatte sie auf der Stirn und ein Mädchen mit lockigem, langem, braunem Haar hatte das Tattoo in ihrem Dekolleté. Alle sahen wie Anna sehr nervös und verängstigt aus. Manche, die etwas kräftiger und muskulöser waren, sahen so aus, als ob man sie zusammen geschlagen hätte. Manche hatten Verbände, um den Kopf oder an den Armen. Andere wiederum hatten ein blaues Auge oder blutige Lippen. Sie schienen sich bei der Entführung gewehrt zu haben!
Anna sah sich in dem großen Raum etwas um. Er ähnelte einer Halle. Der Raum hatte hohe Wände, welche alle kahl und weiß waren. Es gab keine Fenster. An zwei Seiten sah Anna eine Art Belüftung hängen. Am anderen Ende der Halle war eine erhöhte Plattform. Darauf standen ein Rednerpodium und ein Mikrofon mit Halterung. Vor dieser Erhöhung waren zwei Reihen mit Stühlen aufgestellt worden. Die Stühle würden jedoch nicht für alle reichen. Es waren vielleicht nicht mehr als zwanzig Sitzgelegenheiten. Ein paar Stühle waren schon besetzt von Leuten in weißen Laborkitteln. Von Annas Gleichgesinnten traute sich niemand, sich auf einen der Stühle zu setzen. Sie standen alle nur reglos und ängstlich umher schauend da. Sie wussten wahrscheinlich so wie Anna nicht, was hier los war. Was würde nur mit ihnen passieren?
An der rechten Wand war eine kleine Nebentür. Aus dieser Tür betraten vereinzelt noch mehr Leute in Laborkitteln die Halle. Vielleicht waren das ja alles Wissenschaftler, dachte sich Anna. Aber was wollten diese Leute von ihnen? Waren sie etwa Versuchskaninchen von der Regierung? Im Gegensatz zu den Entführten waren diese nicht nervös oder ängstlich. Sie sahen so aus, als könnten sie ihre Vorfreude gerade so im Zaum halten. Zudem sahen sie sehr neugierig zu Anna und den anderen hinüber und redeten energisch miteinander. Anna konnte nicht alles hören, was diese Wissenschaftler zueinander sagten, aber einige Wortfetzen konnte sie erhaschen. „… Das sind sie also… Da sind aber schmächtige Würmchen dabei…. Ob sie das alles aushalten werden?…. Ich kann nicht länger warten…. Wann beginnt es endlich….Ich will wissen, wen ich bekomme…“. Anna konnte sich daraus keinen Reim machen. Was sollten sie aushalten? Was sollte beginnen? In ihrem Kopf schwirrten Fragen um Fragen umher, die sie nicht beantwortet bekam. Sie konnte nachdenken und grübeln, solange sie wollte, aber das einzige, was sie dadurch bekam, waren sehr starke Kopfschmerzen.
Von der großen Tür erklangen laute Geräusche. Die Tür wurde aufgeschwungen und mehrere uniformierte Männer kamen herein. Sie stellten sich entlang der Wände auf. Sie fungierten wahrscheinlich als Wachen, denn sie beobachteten Anna und ihre Gleichgesinnten mit wachsamen Augen. Sie waren alle groß, muskulös und breit gebaut. Jeder von ihnen hatte einen Schlagstock in der Hand und eine Pistole in ihrem Holster. Anna hatte Angst vor den Wachen. Sie sahen alle sehr gefährlich aus. Bestimmt hatten sie schon mehr als einen umgebracht.
Plötzlich wurde die große Tür erneut aufgerissen. Ein großgewachsener Mann mittleren Alters kam herein. Er hatte einen Dreitagebart und verstrubbeltes braun-graues Haar. Sein Laborkittel war voller Kaffeeflecken und sein Hemd war zerknittert. Es war nur zur Hälfte in seine Hose gesteckt. Der Mann sah total übermüdet aus und als er an Anna vorbei ging lächelte er sie freundlich an. Er ging schnellen Schrittes zu den anderen Wissenschaftlern. Anna hörte ihn sich lautstark dafür entschuldigen, dass er schon wieder zu spät sei. Die anderen Wissenschaftler sahen ihn vorwurfsvoll an. Die Blicke sagten: Wie kann man nur an so einem wichtigen Tag zu spät kommen? Viele der Wissenschaftler schüttelten genervt den Kopf. Wie konnte man nur „so“ zu einer Bekanntmachung kommen?
Als jemand gegen das Mikrofon klopfte, zuckte Anna vor Schreck zusammen. Sie hatte den Mann, der auf die Erhöhung getreten war und nun am Podium stand, nicht bemerkt. Er war nicht gerade groß, hatte einen kleinen Wohlstandsbauch und trug eine Nickelbrille. Der Mann hatte kein freundliches Gesicht. Er sah sehr verbittert aus. Anna schätzte ihn so um die sechzig. Im Gegensatz zu den anderen Wissenschaftlern hatte er keinen Laborkittel an, sondern einen Anzug mit einer schwarz-roten Krawatte. Der Mann sah sehr gepflegt aus. Anna schloss aus seinem Aussehen und dass er eine Rede hielt, dass er der Vorsitzende oder Anführer von alldem hier war. Sie mochte ihn nicht. Der Mann begann zu reden.
„Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. Heute ist der Tag gekommen, der, den wir uns lange nur erträumt haben. Heute beginnen wir endlich mit unserem großen Projekt.“ Alle Wissenschaftler applaudierten begeistert. "Wir haben uns im Vorstand für den Namen „Hells Gate“ entschieden. Nun, da wir alle in Frage kommenden Probanden an uns gebracht und hier versammelt haben, kann das Experiment starten!“ Der Redner zeigt bei dem Wort Probanden auf alle schwarzgekleideten, einschließlich Anna. „Als wir vor kaum neun Monaten die dreizehn Fragmente der vor Jahrhunderten verschollenen Dämonen fanden und diese bergen konnten, hätte ich mir nicht denken können, dass wir schon heute mit dem Projekt starten können!“ Die begeisterten Wissenschaftler applaudierten jetzt noch angeregter. „Der Vorstand und ich haben den dreizehn besten Wissenschaftlern von Ihnen die Fragmente zugeteilt. Jeder von ihnen bekommt je eines. Die anderen von Ihnen werden sich nach Belieben den jeweiligen Wissenschaftlern zuteilen. Sie bekommen mehrere Probanden zugewiesen, mit denen Sie die Tests rund um das Fragment durchführen können. Die Listen mit den zugewiesenen Exemplaren werde ich Ihnen nach meiner Rede austeilen.“
Die Wissenschaftler sahen nun noch neugieriger nach hinten zu Anna und den anderen. Sie sahen aus wie hungrige Raubtiere, die sich gleich auf ihre Beute stürzen würden. Der Redner fuhr fort. „Bitte gehen Sie mit den Fragmenten äußerst vorsichtig um! Wir wissen immer noch nicht, zu was sie im Stande sind, geschweige denn wie mächtig sie sind! In den nächsten zwei Monaten wird sich zeigen, ob wir die richtigen Exemplare an Probanden hier haben. Sie sollen für uns die Kontrolle über die Fragmente übernehmen. Wenn sie nicht in der Lage dazu sind, sind wir gezwungen, unsere Suche nach den perfekten Probanden auszuweiten.“ In der Menge der Wissenschaftler breitete sich unruhiges Gemurmel aus. Der Redner wartete geduldig, bis alle wieder ihre Gespräche beendet hatten. Anna bemerkte, dass das alte, verbitterte Gesicht des Redners während der Rede andere Züge annahm. Seine braunen Augen begannen verschwörerisch hinter seiner Brille zu funkeln. Er war anscheinend so wie die anderen Wissenschaftler gespannt und voller Vorfreude darauf, was in der nächsten Zeit passieren würde. Der Redner fuhr mit seiner Ansprache fort. „Wenn wir es schaffen sollten, jedem der Fragmente einem Probanden zuzuordnen, so können wir die zweite Phase starten. In dieser Phase werden wir schauen, welcher der Probanden der Stärkste ist und welche Kräfte sie haben. So wären wir wieder einen Schritt weiter, uns gegen die großen Mächte zu behaupten. Da wäre zum einen China mit ihren sechs Teufeln. Diese Verräter! Und zum anderen die USA mit ihren sieben Todsünden. Wir dürfen uns aber nicht zu auffällig verhalten, sonst kommt uns der Exorzisten-Verband in die Quere! Wir müssen uns gegenüber diesen Mächten behaupten und nutzen unsere Probanden dann dafür, um sie alle zu bezwingen! Wir werden sie ausrotten!“ Wieder breitete sich unter den Wissenschaftlern ein angespanntes Gemurmel aus. Anna und die anderen Gefangenen sahen den Redner verängstigt an und wussten nicht, was sie tun sollten. Fliehen kam nicht in Frage, denn die Wachen waren ja noch da. „Seitdem wir in diesem geheimen Kampf eingestiegen sind, haben wir unzählige Verluste einbüßen müssen und waren immer auf dem letzten Platz. Aber nun, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, werden wir zurückschlagen! Nun ist unsere große Zeit gekommen!“ Der Redner deutete während seines letzten Satzes in die Luft und alle Wissenschaftler applaudierten ihm mit Begeisterung zu. „Aber nun möchte ich Sie nicht weiter aufhalten. Die Listen und die Unterlagen bekommen Sie jetzt ausgeteilt.“ Das war anscheinend das Stichwort für einen kleinen, schmalen Mann, der die ganze Zeit an der Seite der Plattform stand. Er begann, Unterlagen zu verteilen.
Als er damit fertig war, nickte er dem Redner auf der Plattform zu. „Nun hat jeder seine Unterlagen erhalten und kann sich auf die kommenden Experimente vorbereiten. Morgen früh um 8.00 Uhr beginnen wir. Und nun, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag! Sie können sich ja schon einmal ihre Probanden hinter Ihnen etwas genauer in Augenschein nehmen und Ihre Exemplare zusammen suchen. Also dann, bis bald!“
Und somit war seine Rede beendet und er stieg die Plattform hinab. Unten warteten schon einige begeisterte Leute, um ihn für seine tolle Rede zu beglückwünschen. Andere Wissenschaftler standen auf und gingen, mit Zetteln in der Hand, auf die Probanden zu. Es musste sich um die in der Rede erwähnten Listen handeln. Viele der Probanden wichen instinktiv vor den begeistert auf sie zumarschierenden Menschen ein paar Schritte zurück. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah zu, wie viele der Wissenschaftler an ihr vorbei liefen. Manchmal wurde ihre Nummer mit deren Liste verglichen. Als die Wissenschaftler kein „X“ auf ihrem Zettel fanden, gingen sie enttäuscht weiter.
Nach einiger Zeit hatten alle Wissenschaftler ihre Probanden gefunden und zu kleinen Grüppchen zusammen gestellt. Anna stand immer noch alleine da. Niemand hatte sie auf ihrer Liste stehen. Vielleicht hatten sie sich ja doch mit ihr geirrt und sie wurde nur aus Versehen hier her gebracht? Anna drehte sich nun etwas mutiger im Kreis. Viele ihrer Gleichgesinnten waren nicht mehr übrig. Nur noch vereinzelt liefen Wissenschaftler umher und suchten ihre „Exemplare“. Die meisten, die ihre Grüppchen schon vollständig hatten, begannen mit ihnen aus der Halle zu gehen. Nun wurde es immer leerer und leerer.
Als Anna sich einmal ganz langsam im Kreis gedreht hatte und nun wieder an ihrem Ausgangspunkt stand, bemerkte sie den Wissenschaftler, der vorhin zu spät gekommen war. Er war von seinem Stuhl aufgestanden, streckte sich und rieb sich verschlafen die Augen. Hatte er etwa ernsthaft geschlafen? Der Wissenschaftler ging, ohne sich vorher umzusehen, direkt auf Anna zu. Er lächelte sie an und sagte: „Hallo, mein Name ist Professor Eisenhardt und ich glaube, du gehörst zu meiner Gruppe!“ Er nahm, während er sprach, sehr behutsam Annas Handgelenk in seine Hand und sah sich ihre Nummer an. Dann verglich er diese mit seiner Liste und grinste breit. „Oh ja, die Zehn steht auf meiner Liste! Dann bist du wohl die Erste, die in meinem kleinen Club ist!“ Anna war verdutzt. Er war so nett! Der Professor war ganz anders als die anderen Wissenschaftler! Er ging nicht wie ein Meister mit seinem Sklaven um.
Dieser Mann war behutsam und verströmte eine angenehme Ausstrahlung, die etwas freundliches und leicht kindisches an sich hatte.
„Es tut mir sehr leid, dass wir so grob mit euch umgegangen sind! Ich kann es dir und den anderen nachher etwas genauer erklären. Also was das alles mit euch zu tun hat und was wir mit euch vorhaben. Es kann leider nichts entschuldigen oder verbessern, aber ich hoffe, ich kann eure Unklarheiten dadurch beseitigen!“ Er entschuldigt sich? Es stimmte schon, was er sagte, die anderen Wissenschaftler waren alle sehr grob zu Anna und den anderen und hatten kaum ein Wort mit ihnen gewechselt. Auch die Gesamtsituation hatte niemand von ihnen so richtig verstanden. Das einzige, was Anna wusste, war, dass sie eine Art Versuchskaninchen waren und dass mit ihnen Tests durchgeführt werden würden! Sie sah dem Professor direkt in die Augen. Sie waren blau-grau und hatten etwas sehr freundliches an sich. Der Professor war über den direkten Augenkontakt erstaunt, denn er blickte direkt zurück und seine Pupillen weiteten sich etwas. „Oh, du scheinst keine Angst vor mir zu haben! Das ist sehr schön zu sehen, denn ich möchte nicht, dass ihr Angst vor mir habt!“, sagte der Wissenschaftler zu Anna. Er lächelte nun wieder. Anna war sich nun sicher. Der Professor war anders als die anderen Wissenschaftler. Sie mochte ihn! „Komm, lass uns die anderen fehlenden Mitstreiter aus unserem kleinen Club suchen.“, sagte Professor Eisenhardt und schaute sich suchend um. „Zu unserer Gruppe gehören noch drei weitere.“ Er schaute auf die Liste. „Das währen die Nummer Fünfundzwanzig, die Vierzig und die Nummer Drei. Komm, Kleine, lass uns mal schauen, ob wir sie hier finden können!“, sagte er zwinkernd zu Anna.
Nun drehte sich der Professor suchend umher und lief dann schnurstracks auf einen schmächtigen, groß gewachsenen Jungen zu, der sehr verängstigt in einer der Ecken stand und zu Boden sah. Er hatte eine abwehrende Haltung angenommen und hielt seinen Arm mit der anderen Hand fest. Auch hier ging der Professor wie bei Anna sehr behutsam mit dem Jungen um. Er redete ganz ruhig und bedacht mit ihm, um ihn nicht zu verängstigen. Anna sah etwas Schwarzes an dem Arm des Jungen. Es war seine Nummer! Der Junge wollte anscheinen das Tattoo auf dem Unterarm verbergen, sodass es niemand sehen konnte. Eisenhardt nahm ganz sanft die Hand des Jungen von seinem Unterarm und sah sich seine Nummer etwas genauer an. Es war die Nummer Vierzig. „Es tut mir leid, junger Mann, aber ich glaube, dass du zu unserem kleinen Club hier“, er deutete dabei auf Anna und sich, „gehörst. Und ich hoffe, dass du vor uns irgendwann keine Angst mehr hast, aber fürs Erste musst du wohl mitkommen. Mein Name ist Professor Eisenhardt und diese kleine Dame hier ist ähm… Nummer Zehn. Wir wollen nun noch die anderen beiden Fehlenden aus unserer Gruppe suchen gehen. Kommt mit, ihr beiden.“
Die Nummer Vierzig nickte zögernd, dann folgten Anna und er dem Professor. Diese waren auch recht schnell gefunden, denn während der Professor auf die Nummer Vierzig eingeredet hatte, waren bis auf zwei junge Männer bereits alle Wissenschaftler mit ihren Probanden aus der Halle gegangen. Die Nummer Drei war ein sehr muskulöser junger Mann, der nicht gerade sehr intelligent aussah. Er hatte einen Armeehaarschnitt und sein rechtes Auge war blau und angeschwollen. Zudem waren seine Lippen aufgeplatzt und blutig. Er musste sich bei der Gefangennahme sehr gewehrt haben. Die Nummer Drei funkelte mit seinem gesunden Auge den Professor böse an, als wäre er an all dem, was ihm passiert war, Schuld. Zudem war er kein großer Redner, er hörte dem Professor zu und gab nur ein böses Grummeln von sich, als dieser meinte, sie würden nun noch den Letzten von ihrer Gruppe suchen. Aber eigentlich gab es da nichts zu suchen. Sie waren ja nun alleine in der Halle und die Nummer Fünfundzwanzig stand etwas schräg hinter der Nummer Drei.
Nummer Fünfundzwanzig war ein Junge, der sehr gebildet und vornehm aussah. Er hatte schulterlanges, glattes, hellbraunes Haar und trug eine Designerbrille. Ziemlich groß war er nicht und schmal konnte man ihn auch nicht nennen. Er war eher normal gebaut, nicht zu dick und auch nicht zu dünn. Anna schloss aus seinem Auftreten, dass er aus vornehmem Haus sein musste. Die Fünfundzwanzig schaute alle wie von oben herab an, als wäre er etwas Besseres als alle anderen Anwesenden. „Er ist ein arroganter Schnösel!“, dachte Anna. Auch hier stellte der Professor sich noch einmal vor und entschuldigte sich bei dem Jungen. Dieser sah ihn jetzt noch missbilligender an. Dem Professor schien das aber nicht zu stören, er redete einfach weiter, als wäre nichts gewesen. „Wir sind ja ein bunter Haufen! Aber das ist ja egal“, meinte der Professor grinsend. „Ich werde euch allen gleich in meinem Büro alle Einzelheiten erklären und eure Unklarheiten beseitigen. Die meisten meiner Kollegen haben ihr eigenes Team hinter sich stehen. Zudem haben sich die restlichen Wissenschaftler auf sie aufgeteilt, um sie zu unterstützen. Dann gibt es auch noch viele Assistenten, die ihnen bei ihren Vorbereitungen helfen.“ Der Professor seufzte. „Nun, das ist bei mir leider nicht der Fall. Ihr müsst euch mit mir alleine begnügen. Ich habe keine Assistenten, die mir helfen auch kein Team, aber das ist auch egal. Wir schaffen das auch alleine in der Gruppe. Ihr müsst wissen, die meisten meiner Kollegen mögen mich nicht sehr und verachten mich. Sie sagen, mein Auftreten wäre nicht professionell und meine Methoden viel zu veraltet und verweichlicht. Aber das ganze Gerede von ihnen ist mir völlig egal, solange ich meine Forschungen auf meine Art vorantreiben und meine Methoden anwenden darf, bin ich zufrieden.“
Eisenhardt kratzte sich nachdenklich am Bart. „Naja, das ist unnötiges Zeug, was ich euch hier erzähle. Das Wichtigste werde ich euch, wie schon gesagt, gleich erzählen. Ihr werdet auch neue Räume zugewiesen bekommen, welche näher an meinem Büro und Labor sein werden. Nun lasst uns gehen, damit wir in Ruhe über alles reden können und ich eure Fragen beantworten kann. Ich wette, ihr habt Unmengen an Fragen in euren Köpfen, die es zu klären bedarf.“ Der Professor sah alle noch einmal eindringlich an und ging dann in Richtung großer Tür. Die drei Jungen und Anna folgten ihm ohne zu zögern. Dies lag wahrscheinlich an seiner sehr freundlichen Art. Der Weg zu dem Büro von Professor Eisenhardt dauerte gefühlt fünf bis zehn Minuten und führte durch endlose, gleich aussehende Gänge. Der Professor blieb dann plötzlich vor einer Tür stehen. Anna betrachtete das Türschild. Dort stand der Name „Professor Theodor Eisenhardt“ darauf. Sie waren endlich am Büro angelangt. Aber was würde sie hinter der Tür erwarten?