Zwischen Schatten und Licht
Xander
Er zittert. Er will das nicht, aber er tut es. Das hier ist ein Albtraum. Ein absoluter, verschissener Albtraum. Es muss einer sein, denn so grausam kann die Realität eigentlich nicht sein. Er klammert sich an diesen Gedanken, dabei wurde er in den letzten Jahren sooft eines Besseren belehrt und weiß es schlichtweg besser. Als James sich lässig auf dem Stuhl ihm gegenüber sinken lässt und den Kopf auf die Hand stützt, als wäre das hier ein Kaffeekränzchen unter alten Freunden, will Xander nur noch weg. Er würde ja aufspringen, aber sein Körper gehorcht ihm gerade nicht mehr und er kann nichts anderes tun als den Mann mittleren Alters vor sich nicht aus den Augen zu lassen. Der hat noch immer ein überhebliches Grinsen auf den Lippen. Xanders Hals ist staubtrocken und seine Zunge ist schwer wie Blei, er kann nicht einmal irgendetwas sagen, was Raynolds dieses gottverdammte Grinsen aus dem Gesicht wischt.
James wird das Beobachten ganz offensichtlich zu langweilig. Er lehnt sich lässig in dem schwarzen Holzstuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Dabei spannt die Uniform an den Oberarmen. Der Mistkerl hat sich kein Stück verändert, schießt es dem Achtzehnjährigen durch den Kopf. Obwohl das nicht ganz stimmt. Das blonde Haar zeigt erste graue Strähnen und dabei ist James erst Anfang vierzig. Sonst hat sich in den letzten vier Jahren aber nicht viel verändert. Die Visage ist noch immer die gleiche, verabscheuungswürdige. Verabscheuungswürdig, denkt er und versucht dabei angsteinflößend auszublenden. Wieso zur Hölle kann er nicht aufhören zu zittern.
„Was ist denn los, hat es uns die Sprache verschlagen? Wo ist deine vorlaute Klappe, Kleiner? Oder hast du dir gerade vor Schreck die Zunge abgebissen?“
Nicht darüber nachdenken, versucht Xander sich selbst zu ermahnen. Es gelingt ihm nicht. Alles kommt wieder. Jedes Szenario wird in seinem Kopf wieder lebendig. Er will das nicht! Und noch immer fehlen ihm die Worte. Seine Hände ballen sich zu verkrampften Fäusten während sein Puls zu rasen beginnt. Die Bilder werden immer deutlicher. Die Stimmen immer lauter. Panisch blickt er sich im Raum um. Sieht zur Tür. Er will hier raus. Er muss hier raus. Ihm wird fast schwindelig, so fliegen die Erinnerungen in seinem Kopf umher. Sein eigener Herzschlag dröhnt ihm in den Ohren wieder. Die Tür. Er fixiert die Tür. Wie aus weiter Distanz dringt die kehlige Stimme an sein Ohr.
„Oh, ich würde mir nicht allzu große Hoffnungen machen. Diese Tür geht erst auf, wenn ich es sage, also haben wir Zeit zum Reden.“
Wie im Affekt presst Xander die Hände auf die Ohren und schließt die Augen. Er will nicht reden. Will nichts sehen und nichts hören. Nur weg.
Er nimmt die Bewegung wahr, obwohl er die Augen geschlossen hat. James ist aufgestanden. Xander ist mit einem Satz ebenfalls auf den Beinen, als James Richtung Tür geht. Er wirkt ausgesprochen genervt. Der Kollege von gerade eben, der den Xander zur Weißglut gebracht hat, steht vor der Tür. Er muss geklopft haben. Er sagt etwas zu James, dann sieht er, dass Xander steht und bellt ihn an, sich gefälligst wieder hinzusetzen.
Raynolds reagiert darauf mit süßlicher Stimme:
„Immer mit der Ruhe, Taylor. Brüll den Jungen doch nicht so an.“ Er wirft Xander bei diesen Worten einen vielsagenden Blick über die Schulter zu, bevor er diesem Taylor zunickt und den Raum verlässt. Wie ein nasser Sandsack fällt der Junge kraftlos in sich zusammen. Er kann nicht mehr. Er dachte dieser Albtraum sei endlich vorbei, aber er nimmt gerade einfach nur ganz neue Dimensionen an. Er wird ihn nie loswerden. James scheint überall. Ob Cape May, Jersey City oder New York. Xander weiß, dass James ihm hier auf der Wache nichts tun wird, er ist ja vieles, aber leider Gottes nicht blöd. Doch er weiß nun, dass Xander irgendwo hier in Manhattan ist. Wie lange wird er brauchen, um ihn ausfindig zu machen? Und Xander hat grotesker Weise keinen Zweifel daran, dass er ihn suchen und finden wird. Das in Jersey City damals war kein Zufall. Er ist sich jetzt sicher. Die Frage ist, was wird Raynolds tun, wenn er ihn hat? Will er ihm einfach das Leben zur Hölle machen? Hat er Angst Xander könne reden? Will er ihn loswerden? Er weiß es nicht. Nur eines ist sicher: Er muss abermals fort.
Nur am Rande nimmt er zwei laute Stimmen auf dem Flur wahr. Verstehen kann er nichts. Die eine Stimme gehört jedoch Officer Raynolds, das erkennt er. Absurderweise kommt ihm auch die andere Stimme bekannt vor. Die Stimmen scheinen über etwas zu streiten, oder zumindest aber miteinander zu diskutieren. Angestrengt versucht Xander etwas zu verstehen. Es gelingt ihm nicht. Wenn er zumindest die zweite Stimme zuordnen könnte.
Dann wird die Tür wieder aufgerissen. Schneller war Xander selten auf den Beinen. Obwohl er für einen Augenblick bedenklich schwankt. Seine Beine wollen ihn nur mit Mühe tragen. Es ist Raynolds, der wieder in der Tür steht. Die Miene finster und verschlossen. Das widerliche Grinsen ist nicht mehr da. „Glück gehabt.“, zischt er wie eine Schlange. Die grauen Augen zu schlitzen verengt, die ihn fixieren, als könnten sie Xander hier auf der Stelle pulverisieren. James wird ungeduldig und jeder noch so geheuchelt freundliche Unterton ist aus seiner Stimme verschwunden. „Nun komm schon her. Wird’s bald?“ Wieder ist die Panik zurück und lähmt ihn. Xander bewegt sich keinen Milimeter. James macht gerade einen Schritt auf ihn zu, als sich ein massiger Körper an ihm vorbei ins Zimmer zwängt. Mike! Xander war noch nie in seinem Leben so erleichtert jemanden zu sehen. Er ist kurz davor zu heulen. Obwohl er nicht weiß, was hier los ist. Er kann Raynolds nur maulen hören, dass das Betreten des Verhörraums nicht gestattet sei, aber er lässt Mike gewähren. Und der zieht Xander, eher der sich versieht, in eine feste Umarmung. Unter normalen Umständen würde sich alles in dem Jungen dagegen sträuben, gerade kann er aber nur dastehen und nichts tun. Er kann es immer noch nicht begreifen. Und obwohl er James nicht sehen kann, weiß er, dass er sie mit Blicken taxiert. Mike drückt ihn noch ein Stück fester an sich. Ein leises flüstern in sein Ohr:
„Ich weiß nicht, was es mit diesem Kerl auf sich hat und woher ihr euch kennt, aber ich verspreche dir, dass er nichts tun wird, was du nicht willst. Du bist schließlich volljährig. Alles wird gut.“
Dann lässt er ihn los. Und lauter fügt er hinzu:
„Komm, wir gehen. Die Kaution ist bezahlt und die anderen warten schon auf dich.“
Die anderen warten tatsächlich schon. Sie sitzen im Vorraum des Präsidiums unruhig auf ihren Stühlen, als Mike und Xander ihnen entgegen kommen, springen sie auf, bereit zu gehen. Und obwohl Xander gerne auf sie zu gehen würde, sitzt der Schreck ihm noch in den Gliedern. Noch dazu wird er im wahrsten Sinne des Wortes von seinen Dämonen verfolgt. James ist ihnen den ganzen Weg vom Vernehmungszimmer bis zum Tresen an dem Mike noch etwas unterzeichnen musst, gefolgt. Er bleibt im Türrahmen stehen und fängt ein seichtes Gespräch mit einer der Mitarbeiterinnen an, aber es ist offensichtlich, dass er Xander mit jedem Blick verfolgt. Der versteckt sich fast schon hinter Mike. Sucht Schutz. Obgleich er weiß, dass das lächerlich ist. Aber es fühlt sich zumindest für den Moment wie eine Lösung an. Erst nachdem Mike das Formular unterzeichnet hat und sie sich zum Gehen wenden, macht es bei Xander Klick. Er sieht geradewegs in Niles funkelnde grünen Augen. Er hat Mike angerufen, um sie hier rauszuholen. Nile zuckt nur locker mit den Schultern. Er Sie treten aus dem Präsidium und endlich fühlt es sich zumindest ein Stück weit so an, als könne er wieder freier atmen. Erst jetzt fallen Xander die Personen auf, die Daniélle begleiten. Danny muss darauf bestanden haben, auf ihn zu warten, denn sonst hätte er längst gehen können. Die eine Person muss seine Schwester sein, die Danny vorhin erwähnt hat. Sie ist mindestens genauso gutaussehend wie er und sie sind beide etwa gleich groß. Sie hat außerdem die gleichen dunklen Locken, wie ihr Bruder und auch dieselben Augen. Die beiden könnten glatt Zwillinge sein. Jedenfalls können sie einander nicht verleugnen. Der junge Mann neben Dannys Schwester muss ihr Freund sein, Denn er hat seinen Arm um ihre Hüfte gelegt und dirigiert sie langsam die Stufen der Wache herunter. Offensichtlich mögen Danny und der junge Mann sich nicht besonders. Jedenfalls bedenkt der junge Mexikaner den anderen Mann mit einem Todesblick. Der hat allerdings nur Augen für seine Freundin. Und selbst wenn er die nicht hätte, so wild wie ihm die Locken ins Gesicht fallen, ist Xander sich nicht sicher, wie viel der Kerl von seiner Umgebung wahrnimmt. Xander versucht sich auf alle diese Nichtigkeiten zu konzentrieren, weil es ihm hilft nicht an etwas anderes zu denken. Die Personen in seinem Blickfeld genauestens zu betrachten lenkt ihn davon ab, sich selbst beobachtet zu fühlen. Er versucht sogar, trotz des eher spärlich ausreichenden Lichts der Laternen die Haarfarbe des fremden jungen Mannes zu beurteilen. Ist das nun eher Rot oder wohl doch Kupfer? Okay, das wird lächerlich. Er muss damit aufhören. Das ist auch nicht weiter schwer, denn kaum auf dem Bürgersteig angekommen trennen sich die Wege der Truppe. Auch wenn Xander am liebsten kein Wort mehr sagen würde und sich am liebsten so schnell wie möglich in die hinterste Ecke seines Zimmers verkriechen will, reißt er sich zusammen und bedankt sich bei Danny. Dafür, dass er da war, denn der ganze Ärger ist ja seine Schuld. Danny schüttelt nur den Kopf und sagt irgendetwas auf Spanisch, bevor er Xander auf Englisch zu verstehen gibt, dass er sich keine Vorwürfe machen soll, weil es niemandes Schuld ist. Nein, das sieht er ganz klar anders.
„Nein Danny“, er wirft einen Blick von ihm zu Marie – so hat Danny sie gerade angesprochen -, was auch immer die beiden auf Spanisch besprochen haben, klang nicht besonders freundlich „egal was du sagst, es war meine Schuld. Aber ich bin froh, dass du und Nile offensichtlich CSI Qualitäten habt, auch wenn wir uns alle eine Menge Ärger hätten ersparen können, wenn ich nicht mal wieder mein Gehirn ausgestellt hätte.“
Daniélle und auch Nile werfen energisch ein „Xander!“ ein. Aber dieses Mal ist es an ihm, nur mit den Schultern zu zucken. Er meint einen kurzen Augenblick lang einen verdutzten Blick von Maries Begleitung aufgeschnappt zu haben, weiß der Kuckuck, was das zu bedeuten hat. Mike gibt ihm jedoch zu verstehen, dass er ganz auf seiner Seite ist.
„Mir fällt schon gar nicht mehr ein, wie ich das irgendwie in Konsequenzen vergelten soll“, schnaubt er und fügt mit einem Blick auf Nile hinzu: „… wenn ich könnte würde ich dich auch mindestens einen Monat zum Küchendienst einteilen, verstanden?“
Nile grinst nur sein entwaffnendes Grinsen und räumt ein, dass er das wohl verdient hätte. Dann verabschieden sie sich wirklich endgültig voneinander. Danny ruft noch: „Wir sehen uns morgen früh in Senor Delgardos Unterricht!“ Dann ist er hinter der nächsten Hausecke verschwunden und Mike deutet auf den Van der Einrichtung, den er am Straßenrand geparkt hat. Es hängt ein Strafzettel daran und Mike flucht und murmelt, dass es ja jetzt nur noch besser werden kann. Xander würde Mike gerne fragen, wieso er ihm überhaupt schon wieder eine Chance gibt, er hat es nun doch wohl schon oft genug verbockt aber er traut sich nicht zu fragen. Auch Nile ist plötzlich still, als sie im Auto sitzen und so herrscht die Rückfahrt über betretendes Schweigen. Mike konzentriert sich auf die Straße. Obwohl Xander zu sehen meint, - Nile und er sitzen gemeinsam auf der Rückbank - wie der Sozialarbeiter ein ums andere Mal einen zu prüfenden Blick in den Rückspiegel wirft. Auf einmal ist er zu müde und zu kraftlos um sich wirklich weiter Gedanken darum zu machen. Also starrt er die restliche Fahrt nur noch aus dem Fenster. Als sie ihm Himterhof vor der Wohngruppe parken, bedankt sich Nile noch einmal förmlich bei Mike, schwört dass er die Kaution morgen Mittag vorbeibringen wird und macht sich dann auf leisen Sohlen auf den Weg in seine WG. Nicht ohne Xander vorher aber noch ein Handzeichen zuzuwerfen, was sowohl so viel heißen soll, wie: Ich behalte dich im Auge also lass diesen Scheiß in Zukunft. Es verfehlt seine Wirkung nicht. Xander fühlt sich gleich wieder beobachtet, Wenn das so weiter geht, entwickelt er noch Paranoia. Dann gibt Mike ihm ein Handzeichen, er solle ihm folgen. Xander gehorcht. An der Eingangstür holt Mike seinen Schlüssel hervor. Das Schloss knackt leise, als er die Tür öffnet. Dann schiebt er Xander durch die Tür ins Foyer. Im Flüsterton erklärt er, dass er heue Abend keinen Dienst habe, er den Diensthabenden Erziehern allerdings erklärt hätte, dass es in seinem Fall eine Sonderregelung gäbe und das sie morgen Mittag, wenn Mike wieder zu arbeiten anfängt, dringend reden müssen. Xander kann sich denken warum, er beißt sich auf die Lippen, nickt aber. Dann schickt Mike ihn ins Bett.
Am nächsten Morgen fühlt Xander sich wie gerädert. Irgendwie tut ihm alles weh und er hat die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Stattdessen hat sich jedes noch so undenkbare Horroszenario in seine Hirnwindungen verirrt und ihn so um den Schlaf gebracht. Außerdem traut er sich kaum runter zum Frühstück. Es gibt da ein zwei Typen mit denen Xander ohnehin nicht besonders gut klar kommt und die der Meinung sind, er könnte sich hier alles raus nehmen und spätestens seit gestern Abend müssen sie sich in ihrer Annahme bestätigt fühlen. Insbesondere wenn Xander jetzt dort unten aufkreuzt. Er hat natürlich trotzdem keine Wahl. Also kämpft er sich müde ins Bad. Nach allem was in letzter Zeit war, sollte er nicht für noch mehr Ärger sorgen, indem er seine Badzeit verschläft.
Das warme Wasser der Dusche tut ihm wahnsinnig gut. Zumindest für einen Moment atmet er tief durch und denkt einfach mal an nichts und beim trocken reiben seiner Haare bekommt er kurweilig seinen Kopf frei. Ein kurzer Blick in den Spiegel lässt ihn beinahe auflachen. Gott, er sieht echt scheiße aus. Sein Haar ist echt lang geworden. Er schluckt, als er daran denkt, dass Angel es zuletzt geschnitten hat. Das war irgendwann im November. Vielleicht. Er ist sich nicht sicher. Da hatte sie ihm die Haare gestutzt, weil von dem Side-Cut, den er einmal getragen hat, nicht mehr viel übrig war. Die eine Seite der Haare ist immer noch etwas länger, aber mittlerweile sind die Haarseiten doch relativ ausgeglichen. Die zotteligen schwarzen Strähnen sind einfach insgesamt viel zu lang. Hinten bedecken sie schon seinen Nacken und sein Pony hängt ihm im Auge. Ganz toll. Er sieht anders aus, als damals in Cape May. Und doch hat Raynolds ihn gleich erkannt. Bei diesem Gedanken dreht sich Xanders Magen gleich wieder um und alle Bedenken und Ängste sind auf einem Schlag zurück. Er flüchtet regelrecht aus dem Bad, um nicht länger in den Spiegel sehen zu müssen.
Er schleicht die Treppe zum Essensaal fast hinunter. Er will da echt nicht rein. Aber zu seiner eigenen Überraschung würdigt ihn niemand auch nur eines Blickes, als er herein kommt. Das läuft besser als er erwartet hat. An der Tür wird er nur kurz von irgendeinem namenlosen Betreuer aufgehalten, der ihm mitteilt, dass er an sein Gespräch mit Mike heute Mittag denken soll. Da war ja was. Mist. Die einzige Person, die er vielleicht gerne sehen würde kann er nirgendwo erblicken als er sich am Esstisch niederlässt. Nirgends sind pinke Haare zu sehen. Jade scheint noch beschäftigt zu sein. So sitzt er stillschweigend vor einem Frühstücksteller ohne auch nur einen einzigen Bissen zu essen. Er müsste am Verhungern sein, die letzte Mahlzeit war gestern Vormittag, doch er hat nicht den geringsten Appetit. Zu viele Dinge liegen ihm im Magen und machen ihn nervös. Obwohl er es möchte bekommt er nichts runter. Also steht er wenig später mit einem unbenutzten Teller in der Küche. Das Mädchen, das mit dem Küchendienst dran ist freut sich, als Xander ohne ein Wort zu verlieren den Abwasch übernimmt. Er kann den Blick der Betreuerin im Rücken spüren, es ist Charlotte und versucht ihn zu ignorieren. Sie sagt nichts, aber Xander weiß ja, was sie von ihm hält. Sobald er mit dem Spülen fertig ist, verlässt er schnellen Schrittes die Küche. Bloß weg. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er getrödelt hat. Mit der U-Bahn kein Problem, aber so kommt er wahrscheinlich wieder zu spät zur Schule. An der Eingangstür fängt ihn zu seiner Verwunderung Jade ab. Die blauen Augen strahlen ihm entgegen, als er die Treppe runterkommt und ehe er sich versieht, wird er umarmt. Er weicht zurück. Jade ist nicht verwundert.
„Sorry“, murmelt sie nur.
„Kein Ding“, sagt Xander verlegen.
Erleichtert flüstert sie fast:
„Ich bin nur so froh dich zu sehen. Ich habe gehofft, dass Nile und Daniélle dich finden.“
Xander starrt sie überrascht an.
„Und woher kennst du jetzt Danny? Was habe ich eigentlich alles verpasst.“
Völlig irritiert fährt der Junge sich durch die Harre, während Jade nur sanft lacht und meint, sie könne ihm das auf dem Weg zur U-Bahn erzählen, aber sie müssten sich beeilen, sonst kämen sie zu spät zu den Zügen. Xander will ihr schon sagen, dass er nicht mit der Bahn fährt und das sie dieses Gespräch wohl auf später verlegen müssen, aber seine Neugier siegt. Außerdem kommt er so vielleicht noch pünktlich und vermeidet weiteren Ärger.
Der Hälfte von dem was Jade da gerade erzählt, kann er nicht folgen. Aber er versucht es zumindest. Jade hat wohl gegen Abend mitbekommen, wie sich Mike mit einem anderen Mitarbeiter darüber unterhalten hat, dass er noch nicht nach Hause gekommen sei und das habe sie dann – wohl nach langem hin und her, weil sie ihn nicht ansprechen wollte – Nile erzählt, als sie ihm im Hinterhof gesehen hat. Und als sie sich endlich überwunden hatte Nile anzusprechen tauchte dieser andere Junge auf. Der hat behauptet er sei ein Schulfreund von ihm. Er hat sich als Daniélle vorgestellt und als er gehört hat, dass Xander nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist, war er Feuer und Flamme ihn zu suchen. Xander kann nicht glauben, was er da gerade zu hören bekommt. Woher wusste Daniélle eigentlich, wo er ihn suchen muss? Und gleichzeitig findet er es vielleicht auch einen Hauch belustigend, das Jade zwar klingt, als hätte sie volle Panik bekommen, als Danny dazugekommen ist, obwohl es ebenfalls so scheint als habe er es ihr irgendwie auch angetan. Ihre Stimmenlage war für den Moment ganz anders.
Xander kommt aber nicht dazu, noch weiter nachzufragen, denn kurz darauf, an der nächsten Haltestelle der Bahn muss Jade umsteigen, trennen sich ihre Wege. Xander wird nervös, weil er nun alleine ist und weil er gleich ebenfalls aussteigen wird und dann alleine den U-Bahnhof durchqueren muss. Aber irgendwie schafft er es. Mit einem Blick stur gen Boden gerichtet und einem Laufschritt der – wie heißt der Typ noch gleich? - Usain Bolt neidisch machen würde. Tatsächlich kommt er so sogar noch pünktlich ins Schulgebäude.
So unauffällig wie möglich schlängelt er sich durch die Gänge. Nicht besonders schwierig. Es ist nicht so als ob ihn jemand beachten würde, aber es geht ihm auch vor allem darum Zusammenstöße mit unaufmerksamen Mitschülern zu vermeiden. Wenig überraschen ist Danny schon im Musiksaal. Er sitzt mit einer Gitarre auf der Bühne im hinteren Teil des Raumes und spielt eine Melodie, die Xander noch nie zuvor gehört hat. Er nutzt offensichtlich jede freie Minute zum Musizieren. Er scheint praktisch hier zu wohnen. Nur das der Raum vor dem zweiten Klingeln noch gar nicht offen sein dürfte. Dann entdeckt er Señor Delgardo. Er sitzt auf einem Stuhl am rechten Bühnenrand und sieht Danny versonnen beim Spielen zu. Xander überlegt einen Moment, ob der die Tür einfach wieder schließen und davor warten soll, er will nicht stören, da hört Danny auf zu spielen, blickt auf und hebt die Hand zum Gruß. Jetzt ist umdrehen auch keine Option mehr also erwidert er den Gruß und betritt den Saal.
„Hey“, murmelt er halblaut. Es ist ihm immer noch unangenehm, dass Danny wegen ihm gestern so viel Ärger hatte.
„Hey“, kommt es mindestens 20 Dezibel lauter zurück und Daniélle verkündet aufgeregt „ich muss mit dir reden.“
Er kommt allerdings nicht dazu, ihm zu sagen, was ihm unter den Nägeln brennt, denn da klingelt es. Xander kann sich nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren. Er versucht es, aber irgendwie bekommt er immer nur die Hälfte von dem mit, was der Lehrer vorne sagt. Allerdings entgeht ihm, ganz zu Dannys Leidwesen, nicht nur was Delgardo vorne sagt. Er bekommt generell nicht viel um sich herum mit, weshalb er auch eine Weile braucht um zu verstehen, dass Danny schon seit einer Weile versucht ihm im Flüsterton irgendetwas zu erzählen. Das endet dann damit – und nur deshalb ist es überhaupt bei Xander angekommen – das Danny Rüge vom Lehrer und eine Verwarnung erhält. Auch Xander weist er daraufhin, dass er es schätzen würde, wenn er sich mehr auf den Unterricht als auf den Laubbaum vor dem Fenster konzentrieren würde. Durch den Kurs geht leises Gelächter. Xander ist es egal. Daniélle scheint jeglichem Scham erhaben und der kleine Musiklehrer mit dem grauen Haar geht nun dazu über den gesamten Kurs für seine Arbeitsmoral zu kritisieren. Sofort wird es still im Raum. Auch wenn er nicht so aussieht, Delgardo verschafft sich problemlos den Respekt seiner Schüler. Er hat eine Ausstrahlung an sich, die wenig Widerspruch duldet. Xander kann es nicht in Worte fassen.
Als das Klingeln die Doppelstunde beendet, treffen sich Daniélles und sein Blick. Die Entschuldigung kommt zeitgleich. Der Mexikaner lacht und Xander lächelt. Zwei Dumme ein Gedanke. Die restlichen Schüler haben ihren Kram bereits zusammengepackt. Während sie noch dabei sind, geht Señor Delgardo beschwingten Schrittes an ihnen vorbei.
„Ich müsste abschließen“, sagt er „aber das habe ich wohl vergessen.“ Und schon ist er mit einem Augenzwinkern fort. Xander sieht ihm nur verdutzt hinterher. Und dann glaubt er es zu erkennen. Es ist nur eine einzige Linie eines Tattoos im Nacken, aber instinktiv weiß er, dass es dasselbe ist, wie das, welches auch Daniélle im Nacken trägt. Auf der Wache hat er nichts dazu gesagt und eigentlich hat er genug andere Probleme, die gerade definitiv existenzieller sind, aber jetzt muss er es wissen:
„Von welcher Gang ist das Tattoo in euren Nacken das Erkennungszeichen?“
Daniélle schaut einen Moment zur Seite, fährt sich mit der Hand in den Nacken und sagt dann ohne ihn anzusehen:
„Die Diavolo Bloods.“
Xander nickt und sagt dazu nichts. Er überlegt nur. Diavolo Bloods. Es gibt eine Menge Gangs in New York, aber der Name sagt ihm gerade nichts. Er weiß nicht, was er davon halten soll.
„Verstehst du dich deshalb so gut mit Señor Delgardo?“
Danny lacht. Es klingt bitter.
„Nein. Dafür hat er mir die Scheiße aus dem Leib geprügelt und genau deshalb bin ich jetzt hier. Weil er nicht will das ich irgendetwas mit den LD zutun hab.“
Xander sieht ihn überrascht an.
„Warte, er hat dich hergeholt? Und er hat ein Problem damit, obwohl er selbst ein Gangmitglied ist?“, fragt er und begreift nicht so recht. Daniélle steht ihm Rede und Antwort, sieht ihn allerdings nicht an.
„Sí. Er ist mein Onkel. El era un miembro.* Er war sogar ein OG. Als er ausgestiegen ist, haben sie ihn fast todgeprügelt. Er lag wochenlang im Krankenhaus.“
Xander schluckt. Sie sehen sich in die Augen und ihm ist klar, dass er fürs Erste nicht mehr von Danny erfahren wird.
„Danke“, sagt er schlicht.
„Wofür?“, fragt Danny überrascht.
„Dafür, dass du mir das gesagt hast.“
Danny zuckt mit den Schultern und meint, wenn er will, dass sie Freunde sind, muss er wohl ehrlich sein. Ja, ehrlich sein, denkt Xander und fühlt sich gleich wieder wie ein Arsch. Er ist nie ganz ehrlich. Wird es wohl nie sein. Um nicht weiter darüber nachzudenken, fragt er Danny, was der eigentlich vor dem Unterricht von ihm gewollt hat. Er hätte besser nicht fragen sollen. Denn es bricht aus Danny heraus, wie aus einem Wasserfall. Er sei auf der Suche nach einer Band und gestern habe er von Nile erfahren, dass er Schlagzeug spielt und ebenfalls nach einer Band suche und er wisse das Xander auch Songs schreibe und deshalb könnten sie sich ja einfach zusammentun und eine Band gründen. Ganz bestimmt nicht. Er ist viel zu mies für sowas. Aber Danny will keine Bedenken hören und redet ohne Punkt und Komma weiter. Als Xander sich auf dem Weg zu seinem nächsten Kurs macht, lässt der Mexikaner noch immer nicht locker und wenn er ihm weiterhin so folgt, dann wird das ein verdammt langer und anstrengender Schultag.
Er behält Recht. Keine Ahnung, wie Danny es schafft ihn jedes Mal zu finden – in der einen Pause hat er sich sogar auf dem Klo im zweiten Stock verschanzt – aber er tut es und er lässt einfach nicht locker. Als sie um 16:30 Uhr das Schulgebäude verlassen, hat Xander einfach keine Geduld mehr.
„Gott, Danny, was willst du von mir hören?“, entfährt es ihm genervt. Der schmunzelt nur. Das hier ist alles andere als amüsant. nSo ein Bastard.
„Nur ein kleines ja. Ist doch nicht schwer, Xander.“
„Ich hab’s doch schon gesagt. Ich habe ewig nicht mehr gespielt und vermutlich bin ich mittlerweile richtig mies. Such dir doch jemand anderen.“, jammert Xander jetzt. Mann, er denkt sich das doch nicht aus.
„Vermutlich heißt nicht, dass du es weißt. Tío Juan lässt uns sicher in den Musiksaal. Bitte, Xander. Probiere es doch zumindest“. Lässt Danny nicht locker und Xander hat schlichtweg keine Kraft und keine Lust mehr, um sich weiter zu währen. Er hebt entwaffnet die Hände.
„Okay, okay. Aber nicht heute. Wenn ich heute schon wieder zu spät in die Einrichtung komme, tötet Mike mich sicher!“
Oh Mist. Da fällt es ihm wieder ein. Er muss ja noch dieses Gespräch mit Mike führen. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er sich beeilen muss, um die Bahn noch zu kriegen. So schnell wie er sich verabschiedet, kann Danny gar nicht gucken. Schon sprintet er Richtung U-Bahn Station. Dort angekommen ist er völlig außer Atem. Scheiß Raucherlunge. Obwohl er schon ewig nicht mehr geraucht hat. Er hatte ja was Besseres. Jetzt gerade wäre eine Kippe aber nicht schlecht, denkt er, während er darauf wartet, dass die Bahn kommt.
Er rechnet beim Betreten des Büros mit einer Standpauke aller ersten Klasse. Stattdessen steht Mike auf, überprüft an der Tür wohl, dass wirklich niemand im Flur ist und stellt dann fest: „Wir müssen etwas klären.“
Xander schluckt. Ein Teil von ihm schreit: Ja, unbedingt. Der andere brüllt allerdings noch viel lauter: Nein, auf keinen Fall. Er setzt sich auf den dargebotenen Stuhl und reibt sich nervös die Handgelenke. Starrt an Mike vorbei einen unsichtbaren Punkt an der Wand an. Als würde das irgendetwas ändern. „Xander“, murmelt Mike und legt eine Hand in den Nacken. Dann blickt er zur Decke als könnte er dort Xanders unausgesprochene Antworten ablesen. Xander beißt sich auf die Lippe. Die Stille ist kaum zu ertragen. Sie ist schlimmer als jede Standpauke es hätte sein können.
Es raschelt leise. Mike klaubt einige Papiere auf dem Schreibtisch zusammen, um sie zu ordnen. Er sieht nicht auf als er sagt: „Officer Raynolds meinte-“
„Egal was er sagt, es ist absolute Scheiße“, bricht es aus dem Achtzehnjährigen hervor, noch ehe Mike seine Ausführung zu Ende bringen kann. Einen Moment blickt er in Mikes vor Überraschung geweiteten Augen, dann wird seine Miene wieder undurchschaubar. Der Sozialarbeiter schüttelt nur mit dem Kopf, als er fragt: „Willst du nicht erst Mal hören, was er gesagt hat?“
Die Antwort ist leicht. ‚Nein‘. Denn was auch immer James gesagt haben mag, es kann nichts Positives sein. Er schüttelt also vehement den Kopf und krallt sich mit den Händen im Stoff seiner Jeans fest. So fest, dass er spüren kann, wie seine Fingernägel sich ins Fleisch seiner Oberschenkel bohren. Mike seufzt laut.
„Erinnerst du dich an dein Aufnahmegespräch, Xander? Ich habe gesagt, dass du mir nicht alles sagen musst. Dass ich nicht einmal deine vollen Personalien wissen will, ich will nur wissen was dich auf die Straße getrieben hat. Und weißt du noch, was du geantwortet hast?“
Mike macht eine Pause. Gibt Xander Zeit zum Antworten. Er lässt einige Sekunden verstreichen, bevor er flüstert: „Die Tatsache das ich kein richtiges Zuhause habe.“
Xander weiß, dass Mike ihn ansieht, obwohl er selbst noch immer Stur zu Boden sieht. Als er den Kopf hebt, nickt Mike beiläufig. Die Hände bewegen sich fahrig. Schieben Dokumente von links nach rechts und streichen das Papier unablässig glatt.
„Ich will, dass du mir jetzt zuhörst Xander. Und ich will, dass du in diesem Gesprächs ehrlich zu mir bist, okay?“, Mikes Stimme ist ernst und seine Worte hängen schwer in der Luft.
Er hat keine Wahl. Denn er will hier nicht weg. Nicht mehr. Er will hier bleiben. Bei Mike, auch wenn der ein Arsch sein kann. Bei Nile und Danny, die seine Freunde geworden sind. Obwohl sie ziemlich Lebensmüde sein müssen, weil sie mit ihm befreundet sind. Bei Jade, die den Tag zum Leuchten bringt, wenn sie lacht. Und er bringt sie gerne zum Lachen. Nein, umso mehr er darüber nachdenkt, desto mehr will er bleiben. Was bleibt ihm jetzt auch anderes übrig? Ein Nicken signalisiert das er verstanden hat.
„Gut“, sagt Mike. Er zögert kurz, legt sich die richtigen Worte zurecht, bevor er fortfährt: „Du heißt Alexander Knight Junior und bist am 31. Dezember 1990 in Cape May County geboren?“
Xander schnaubt. Ja, das sind seine Personalien. Herzlichen Glückwunsch. Das kann er nur schlecht antworten. Denn er merkt, das ist es was Mike hören will. Antworten.
„Ja.“
„Dein Vater ist Alexander Knight Senior, Sherriff of Cape May County. Bei ihm bist du aufgewachsen?“
Verdammt. Er versteht nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen soll. Aber natürlich stimmt auch das.
„Ja“, sagt er also wieder. Mike nimmt auch das zur Kenntnis. Er richtet sich in seinem Bürostuhl auf und fixiert Xander.
„Als du zwölf warst hat sich euer Verhältnis rapide verschlechtert. Du hast neue Freunde gefunden. Hast angefangen zu rauchen, Graffitis zu sprayen, zu Randalieren und kleine Einbrüche zu begehen. Die volle Palette, richtig?“
Er schließt gequält die Augen. Ja, auch das stimmt natürlich. Gott, er wird auf jeden Fall hier raus fliegen. Dieses Mal bringt er nur ein Nicken zustande. Er kann Mikes Reaktion nicht sehen, denn als er die Augen wieder öffnet, redet der schon weiter.
„Und weil du so viel Scheiße gebaut hast, seid ihr aneinander geraten. Als Sherriff musste dein Vater ja auch Konsequenzen walten lassen. Das hat zu Ärger geführt. Ihr habt ständig über deine Freunde und die Straftaten gestritten und dann hast du die Schule geschmissen und bist Sylvester 2005 einfach abgehauen. Weil du genug von deinem Alten hattest.“ Es klingt nicht nach einer Frage, sondern nach einer Feststellung und dieses Mal wartet Mike auch nicht auf eine Antwort, er macht einfach weiter.
„Dein Vater will trotz allem, dass du nach Hause kommst. Er hat sich in den letzten drei Jahren wahnsinnige Sorgen um dich gemacht und dich gesucht. Deine Jugendsünden hat er längst vergessen. Er will, dass ihr euren Streit beendet, sagt Officer Reynolds’.“
Jetzt macht Mike eine Pause. Er wartet vielleicht auf irgendeine Reaktion Xanders.
Xander starrt Mike an. Zu mehr ist er nicht im Stande. Sein Vater will, dass er nach Hause kommt? Niemals! Das ist doch nur, was James behauptet. Welchen Plan er auch immer damit verfolgt.
Maiks nächster Satz soll das Gespräch wohl beenden:
„Du stimmst mir zu, das klingt schon nach einem Zuhause. Also, gehst du nach Hause?“
Xander achtet nicht auf die Wortwahl oder den Klang von Mikes Stimme, er hört nur diese, in seinen Ohren Aussage und da verlässt ihn jede Fassung.
„Nein!“ ruft er aus blankem entsetzten Er schreit definitiv mehr, als das er spricht. Die Stimme ist brüchig als er erwidert „Mach was du willst, schmeiß mich hier raus, aber ich gehe ganz sicher nicht zurück. Ich glaube davon kein Wort. Mein Vater ist ein gottverdammtes, versoffenes Arschloch. Wenn er irgendetwas vermisst, dann seinen Alkohol, aber ganz bestimmt nicht mich. Bevor ich mich von ihm todprügeln lasse verrecke ich lieber auf der Straße!“
Sein Körper bebt. Seine Schultern zucken und er heult. Er kann es nicht kontrollieren. Wenn er hier weg muss und all die Leute die ihm mittlerweile wichtig sind zurücklässt, dann ist es so, aber niemand bringt ihn dazu, jemals zurück zu gehen.
„Xander.“
Mikes Stimme dringt nur gedämpft zu ihm. Die Berührung an seiner Schulter bringt ihn zurück. Er weicht so schnell zurück, wie er kann und fliegt dabei fast mit dem Stuhl um. Mike hebt beschwichtigend die Hände. „Alles ist gut“, beeilt er sich zu sagen, obwohl gar nichts gut ist. Das ist lächerlich.
„Gut?“, fragt Xander mit Panik in der Stimme. Ist das ein Witz? Mike nickt und ringt scheinbar selbst um Fassung, dann flüstert er fast: „Mehr muss ich nicht wissen.“
„Was?“, Xander versteht nicht.
„Du bleibst. Du bleibst auf jeden Fall.“
Das restliche Gespräch mit Mike ist ernüchternd. Zu seiner Überraschung will ihn wirklich niemand rausschmeißen. Er fragt sich, warum sich Mike so für ihn einsetzt. Er wird einfach nicht schlau aus diesem Kerl. Er weiß nur eins, noch ein Ding, egal wie klein es auch sein mag und er fliegt. Im hohen Bogen und dann wohl auch hochverdient.
Abgesehen davon, dass Xander neben weiterem extra Küchendienst auch noch Baddienst aufgebrummt bekommen hat und die nächsten Wochen damit beschäftigt sein wird alle Fenster im Haus zu putzen, hält sich Mikes Bestrafung in Grenzen. Okay, wenn man es genau nimmt, übernimmt Xander so ziemlich alle anfallenden Dienste, aber trotzdem. Das ist Nichts im Vergleich zu den Ängsten, die er noch vor ein paar Minuten ausgestanden hat. Es gibt nicht einmal mehr eine richtige Moralpredigt und die hat Xander ja für das Mindeste gehalten. Er wird danach lediglich auf sein Zimmer geschickt. Mike erklärt ihm nämlich noch, dass er nun selbstredend Hausarrest für die nächsten Wochen hat. Er darf zur Schule und das war es. Aber was soll‘s? Am Liebsten will Xander ohnehin keinen Schritt mehr vor die Tür setzen. Für den Moment ist er überglücklich.
Dieses Hochgefühl hält allerdings nicht lange an. Als er nachts in seinem Bett liegt, fühlt sich die Dunkelheit auf einmal erdrückend schwer an. Er würde seine eigenen Gedanken gerne zum Schweigen bringen. Nur ein einziges Mal. Aber es gelingt ihm nicht und so kreisen sie um all die Dinge, die Xander eigentlich viel lieber vergessen will. Irgendwann fallen ihm allerdings vor Erschöpfung die Augen zu. Er hat so lange nicht mehr richtig geschlafen. Unruhig wälzt er sich von einer Seite zur anderen.
Als er aus dem Schlaf fährt, ist es mitten in der Nacht. Er kann kalten Angstschweiß auf seinem Rücken spüren und seine Hände sind feucht. Sein Atem geht schwer, die Luft im Raum ist so dünn. Obwohl er weiß, dass es nur ein Traum war, ein Albtraum, kann er sich nur schwer beruhigen. In ihm kriecht die Angst immer weiter hoch. Es macht ihn noch verrückt. Und alles in seinem Kopf ist so durcheinander. So wirr wie der Traum. Da war sein Vater, den Xander seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat, er lag über dem Küchentisch gebeugt. Die braunen Augen starrten ins Leere. Eine Flasche Schnaps noch auf dem Tisch. Er hat sich totgesoffen. Da war Nikki, sie lief vor ihm an der Bucht. Xander war wieder elf. Er hat nach ihr gerufen, aus vollem Hals, aber sie ist einfach weiter gelaufen und plötzlich hat sich das Kinderlachen in einen grauenvollen Angstschrei verwandelt und sie war weg. Dann war da nur noch er selbst. In einem weißen Raum aus Nichts. Vor ihm eine schwarze Tür. Er hat sie geöffnet und dahinter stand Jesse. Lächelnd. Doch als Xander einen Schritt auf ihn zumachte, veränderte sich Jesses Gesichtsausdruck. Plötzlich wurde der Blick aus den sonst so warmen, grünen Augen eiskalt. Die Miene Wut verzerrt schrie er Xander an. Worte die nicht bei ihm ankamen. Denn auf einmal trennte sie eine Glaswand und als Xander sie berühren wollte zerbrach sie in tausende Scherben. Und Jesse war dahinter verschwunden. Wieder der leere Raum. Wieder eine Tür. Als Xander sie öffnete war dahinter nur Dunkelheit. Er hat zögerlich einen Schritt hinein gemacht und schon legten sich stählerne Ketten über ihn. Raynolds kam grinsend auf ihn zu. Xander konnte sich nicht bewegen, nicht einmal schreien und die Tür hinter ihm schloss sich.
Jetzt ist er wieder wach und erträgt die Dunkelheit nicht länger. Er stolpert zum Lichtschalter. Das macht die Situation etwas erträglicher. Aber es hilft nur bedingt und obwohl er das allein sein gerade kaum erträgt, hat er keine Wahl. Leise schleicht er hinunter in die Küche. Vielleicht hilft ein Glas Wasser? Gerade dreht er den Wasserhahn auf, da geht das Licht an. Er fährt zusammen. Sein Puls schnellt auf 200 und das Glas rutscht ihm fast aus der Hand. Charlotte steht in der Tür und Xander fragt sich Unweigerlich, wie sie es schafft aus dem Nichts aufzutauchen. Er erwartet Ärger zu bekommen aber sie schaut nur auf das Wasserglas in seiner zitternden Hand. Das hier ist echt nicht gut für seine Nerven. Er zittert wieder genauso schlimm, wie nach dem Aufwachen. Als sie ihn fragt, ob alles in Ordnung ist, braucht Xander eine Weile um die Frage zu verarbeiten. Solange starrt er sie nur wie ein verschrecktes Kaninchen im Scheinwerferlicht an. Sein genuscheltes ‚Ja‘ kommt als Antwort ziemlich verspätet. Nichts wie weg hier. Als er an Charlotte vorbei zurück nach oben will, räuspert sie sich. Fragt ihn, ob er nicht was trinken wollte. Xanders Blick fällt auf das Glas in seiner Hand. Es ist leer. Gott, er ist so durch den Wind. Kopfschüttelnd nimmt Charlotte ihm das Glas aus der Hand und weist ihn an, am Küchentisch Platz zu nehmen. Sie stellt das Glas zurück in den Schrank. Stattdessen nimmt sie eine Tasse heraus und setzt einen Tee auf. Xander kommt, dass sie heute Nacht gar nicht hier sein sollte. Sie war doch heute Morgen schon da. Als er sie darauf anspricht seufzt sie laut. Sie ist eingesprungen. Während das Wasser für den Tee vor sich hin kocht, verschwindet die Betreuerin kurz. Als sie zurückkommt, hat sie eine Decke dabei. Mit einem Lächeln legt sie ihm diese über die Schultern. Xander ist erst überrascht und lächelt dann vorsichtig zurück. Tatsächlich wird ihm dadurch warm und das Zittern nimmt ab. Dann holt sie den Tee. Kamille. Für sich selbst holt sie eine Cola aus dem Kühlschrank. Während sie trinken ist es still zwischen ihnen, aber es ist kein schlechtes schweigen. Ab und zu schauen sie einander an und es tut ihm gut, nicht alleine zu sein. Langsam fährt Xander runter. Trotzdem muss er den ganzen Tee austrinken, bevor sie zufrieden ist und ihn wieder gehen lässt. Dies Mal legt er sich hin und schläft traumlos bis zum nächsten Morgen durch.
Dieser Morgen startet besser als der Letzte. Obwohl er heute den gesamten Abwasch machen muss. Es macht ihm überraschend wenig aus. Er hat sogar gegessen und fühlt sich halbwegs gut. Vor der Tür wartet wieder Jade auf ihn und unvorhergesehener Weise auch Nile. Er hat extra auf ihn gewartet und begleitet sie heute Morgen zum U-Bahnhof, weil er zu seinen Vorlesungen muss. Xander witzelt, dass er bloß in die richtige Bahn einsteigen soll und er lacht laut. Jade scheint Niles Anwesenheit gar nichts auszumachen und Xander freut sich auch darüber still und heimlich. Natürlich kommt er nicht umhin, sich auch von Nile Bandpläne anhören zu müssen. Offensichtlich haben Nile und Danny Handynummern ausgetauscht und sind Feuer und Falle für ihre Idee. Xander blickt hilfesuchend zu Jade die nur versonnen vor sich hin lächelt und meint, wenn es soweit ist, wolle sie die noch namenlose Band spielen hören. Xander seufzt. Aus der Nummer kommt er nicht mehr raus.
In der langen Pause zum Nachmittagsunterricht treffen Danny und Xander sich wirklich mit Nile in der High School. Er hat nicht so wirklich viel Zeit, weil er später noch zu einem Seminar muss. Señor Delgardo überlässt ihnen wirklich für eine Dreiviertelstunde den Musiksaal. Am Anfang sind sie etwas planlos. Es braucht eine Weile bis sich die drei Jungen auf einen Song einigen. Was vor allem daran liegt, dass sie erst einmal einen finden müssen, von dem sie alle wissen, wie er gespielt wird. Daniélle drückt ihm wenig später eine Gitarre in die Hand und dabei fällt ihm zum ersten Mal auf das der Mexikaner Linkshänder ist. Nile klemmt sich hinters Schlagzeug. Erst spielt jeder für sich. Ein kurzes einspielen. Dann probieren sie es zusammen. Es ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Niles Rhythmus ist viel zu schnell, Danny kommt deshalb andauernd raus und Xander hat generell damit zu kämpfen die richtigen Griffe auf der Gitarre zu spielen. Es ist Katzenjammer vom Feinsten. Doch trotz des schrecklichen Resultats halten Nile und Danny an ihrer Idee fest. Nile betitelt das Ergebnis mit „Es ist Ausbaufähig aber es bietet Potential“. Xander fragt sich, wo sich das Potenzial versteckt hat. Laut spricht er das allerdings nicht aus. Dann muss der Schotte schon wieder zur Uni und die beiden Schüler zurück in den Unterricht. Es ist in Xanders Augen zwar weiterhin eine Schnapsidee, aber er kann nicht leugnen, dass es trotz allem unheimlich Spaß gemacht hat.
Obwohl diese Woche absolut beschissen angefangen hat, ist Xander am Freitagnachmittag fast gewillt zu glauben, dass wirklich alles gut werden könnte. Auf eine komische, für andere Leute vermutlich wenig nachvollziehbare Art, gut. Daniélle kommt jeden Abend zum Tellmanns Square und obwohl Xander Hausarrest hat, beschwert sich keiner, wenn er beim Küchendienst eine halbe Stunde im Hof bleibt um den Müll rauszubringen. So haben Nile, Danny und er Zeit sich auszutauschen. Und das tun sie. Laut und viel über alles Mögliche. Musik. Schule. Politik. Sie haben trotz so verschiedener Hintergründe echt einiges gemeinsam. Allem voran lieben sie Punk Rock und Musik im Allgemeinen. Darüber könnten sie sich tagelang unterhalten. Solche Gespräche hat Xander sonst nie mit jemandem geführt und er liebt es. Oft kann er auch Jade am Fenster erspähen. Mit Nile kommt sie klar, aber wegen Danny traut sie sich nicht wirklich raus. Der hat allerdings auch schon gemerkt, dass sie des Öfteren beobachtet werden und hat dafür nur sein charmantestes Lächeln übrig, das er Jade, mit einem Blick zu ihrem Fenster hoch, zuwirft. Xander schwört das er selbst aus der Distanz sehen kann, wie ihr Kopf hochrot anläuft, bevor sie hinter dem Vorhang verschwindet.
Zwar lauert die Angst wie ein Raubtier tief in seinem Inneren und insbesondere in der Nacht scheint es auf die Jagd zu gehen, aber alles in allem fühlt er sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten angenommen. Selbst der Gedanke an diese furchtbar dämliche Gruppentherapie kann ihm nichts mehr anhaben. Und ja, ungeachtet des Hausarrests, da muss er hin. Es ist alles in Ordnung. Komisch das zu denken, geschweige denn es auszusprechen, vor allem mit Raynolds im Hinterkopf. Aber irgendwie ist es das. Seit Montagnacht sind seine Sinne geschärft, aber wenn Raynolds versucht haben sollte, irgendwie in seine Nähe zu kommen, dann muss er sich dabei unsichtbar gemacht haben. Ganz leise keimt die Hoffnung in ihm, dass diesem Dämon die Lust an seinem Spiel vergangen ist. Aber er traut sich nicht, diese Hoffnung wirklich zuzulassen. Dennoch ist er glücklich, ein Zustand, von dem er fast vergessen hat, wie er sich anfühlt. Nur eins fehlt ihm. Und er verflucht sich dafür, dass es sich dabei um einen Medizinstudenten mit viel zu grünen Augen handelt. Er versteht es ja nicht einmal. Jesse hat sich wie ein Arschloch verhalten. Wenn nicht sogar wie das Größte auf Erden. Na gut, das ist vielleicht zu viel des Guten. Aber er hat sich falsch verhalten und trotzdem würde er ihm so gerne von der letzten Woche erzählen. Von Jade, Nile und Danny. Davon das er wieder Bass spielt – gestern hatte er zum ersten Mal seit vier Jahren wieder einen in der Hand – und von der Therapie. Weil er im Gefühl hat, dass Jesse verstehen würde, was ihn so glücklich macht, aber auch, was ihm solche Sorgen bereitet. Außerdem ist Jesse der einzige Mensch, obwohl es vermutlich töricht wäre, dem Xander gerne sagen würde, was noch alles in Cape May passiert ist. Dem er sagen würde, was ihm seit diesem April Tag vor sieben Jahren auf der Zunge brennt. Nur das Jesse nichts mehr von ihm wissen will. Und das obwohl dieser Mistkerl ihn geküsst hat. Zwei Mal! Weil er verlobt ist, mit dieser Cassie. Dieser bildhübschen jungen Frau mit den dunklen Locken und den strahlenden Augen. Kein Wunder also, dass Xander abgeschrieben ist. Vielleicht ist Jesse nicht einmal schwul? Torschlusspanik, oder wie man das nennt. Kann gut sein, dass er nur noch mal sicher gehen wollte, bevor er heiratet. Und jetzt? Xander steht da wie ein Depp. Denn nun wo er ahnt Jesse nie wieder zu sehen, sehnt er sich mehr denn je nach seiner Stimme, seiner Wärme und diesen Gott verdammten Lippen, die ihn irgendwie um den Verstand bringen. Was auch immer plötzlich in ihn gefahren ist, es macht ihm ein bisschen Angst. Denn eigentlich ist Jesse ein Arschloch und er offen gestanden grenzlabil. Sie passen nicht zusammen. Nicht in diesem Leben. Aber wenn Xander jetzt an Jesse denkt, wird ihm heiß und kalt zugleich und er wünscht sich noch so einen Abend, wie den auf der Veranda in Wisconsin. Und mag sein, dass es lächerlich ist und das er sich damals geirrt hat, aber er hat geglaubt da ist irgendetwas zwischen ihnen. Etwas Besonderes. Denn er dachte auch Jesse hätte ihm in dieser Nacht Dinge anvertraut, über die er sonst nicht spricht. Scheinbar irrt er. Nur gut, das er Jesse nicht hat merken lassen, wie sehr dessen Nähe ihm etwas bedeutet hat. Denn sonst wäre der vermutlich noch mehr auf seinen Gefühlen rumgetrampelt, als er es nicht eh schon ist.
Es ist spät am Abend, als Xander von einer verlegten Gruppentherapie zurückkommt. Eigentlich hätte ihn ein Betreuer hinbringen und wieder abholen sollen, denn er hat ja Hausarrest, aber irgendwie war die Zeit heute knapp. Mike hätte ihn bringen soll, aber der arbeitet sonntags nicht und Charlotte – er versteht sie einfach nicht - hat sich wohl dafür ausgesprochen, dass er den Weg hin und zurück auch alleine schafft. Er holt sich gerade das Abendessen aus dem Kühlschrank um es in der Mikrowelle aufzuwärmen, da hört er leise, tapsende Schritte hinter sich. Sie gehören zu Jade. Dafür muss er sich nicht umdrehen. Er kennt ihre Schritte einfach. Während er also versucht die Mikrowelle aus dem gefühlten letzten Jahrhundert zu bedienen, dieser eine scheiß Regler klemmt immer, wartet er darauf angesprochen zu werden. Nichts passiert. Er dreht sich um und sieht in Jades leichenblasses Gesicht.
Verschreckt sieht sie ihm aus Azurblauen Augen entgegen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ein eingehender Blick und ihm fällt auf, dass sie die Haut an ihren Unterarmen blutig gezwickt hat. Er weiß aus einem Gespräch von ihren Mitbewohnern, das Jade als sie herkam Probleme mit solchem Verhalten hatte. Etwas muss sie aus der Bahn geworfen haben. Sie sagt noch immer nichts, Sieht betreten zu Boden und flüstert dann kaum hörbar, sie müsse ihm diesen Zettel geben, auch wenn sie das nicht wolle. Der Mann habe das gesagt. Ihre Stimme zittert. Sie wimmert fast und Xander begreift, dass Jade den Tränen nahe ist. Dann drückt sie ihm einen kleinen weißen Zettel in die Hand und läuft aus der Küche, den Flur hinunter, als wäre der Teufel hinter ihr her. Erst starrt er ihr hinterher, dann wie gebannt auf den kleinen Zettel. Das letzte Mal, als ihm jemand einen Zettel in die Hand gedrückt hat, war es Jesse, der ihm eine Telefonnummer hinterlassen hat. Unweigerlich denkt er also an Jesse. Ist es, was er hofft? Er sieht noch einmal zu der Stelle, an der Jade bis vor wenigen Sekunden noch gestanden hat. Aber wäre sie dann so durcheinander gewesen? Auf einem Schlag bekommt er Panik. Oder ist das …? Als er den Zettel auffaltet stehen dort nur drei Dinge und Xander hat sofort das Gefühl, seine Beine können ihn nicht länger tragen. Ein Ort, eine Zeit – heute um Mitternacht - und ein Satz. „Du hast die Wahl.“ Er kennt diese Schrift. Er hat sie schon so oft gesehen. Solche Nachrichten hat er früher schon bekommen. Keiner außer ihnen beiden hat sie jemals gelesen. Und Xander weiß, es hat keinen Sinn sie zu ignorieren. Es macht keinen Sinn Raynolds zu ignorieren.
Der Appetit ist Xander schlagartig vergangen. Er stellt den unberührten Teller zurück in den Kühlschrank und versucht mit aller Kraft gegen den Drang anzukämpfen total auszuflippen. So eine Scheiße. Fuck! Es funktioniert nicht. Er sprintet zur Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal und kommt erst für eine Sekunde zur Ruhe, als er die Zimmertür hinter sich schließt. An der lässt er sich kraftlos herunterrutschen. Er will schreien, so laut er kann und verhindert das nur, indem er sich so fest wie irgendwie möglich in den Handrücken beißt. Nein. Nein. Nein. Das darf doch nicht wahr sein. Gerade eben war alles noch gut. Es war gut! Und jetzt ist es vorbei. Xander zögert. Denkt nach. Doch er muss. Er springt auf, zerrt die Sporttasche aus seinem Schrank hervor und tastet nach dem Geld im Seitenfach. 100 Dollar. Jesse hat ihm gesagt, dass das Geld da drin ist. An dem Tag, als sie aus Wisconsin zurückgekommen sind. Er meinte, vielleicht bräuchte er das noch. Je nach dem, was sich in den nächsten Wochen ergeben würde. Er meinte auch, als Xander es nicht haben wollte, er könnte es ihm zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeben. Xander wollte davon nichts wissen. Jetzt sieht die Sache anders aus. Jesse wird dieses Geld nie wieder sehen. Xander rappelt sich hoch, er muss weg von hier. Im schnelldurchlauf geht er alle Optionen durch. Mit Mike reden? Macht das Sinn? Der will sicher zur Polizei gehen. Und die ist Raynolds. Und selbst wenn sie auf ein anderes Revier gehen, kann er James irgendetwas beweisen? Nein. Was sagt dieser Zettel schon aus? Nichts. Kann er über das Sprechen, was gewesen ist. Er weiß es nicht. Aber auch hier lautet die Antwort eher nein. Und Aussage würde am Ende gegen Aussage stehen. Nächste Option. Die Stadt verlassen. Das macht mehr Sinn, oder? Raynolds muss ihm doch erst Mal hinterherkommen.
Ohne weiter darüber nachzudenken stopft Xander sich das Geld in die Tasche. Er nimmt nichts sonst mit. Fast lautlos gelangt er zum Hinterausgang. Als er an diesem Abend leise die Hintertür aufstößt hält niemand ihn auf. Xander bewegt sich im Schatten der Nacht. Erst an der Straßenecke dreht er sich noch einmal um. Mist. Das wollte er vermeiden. Er sieht zum Gebäude, indem in so manchem Zimmer noch Licht brennt. In einen von ihnen sitzt Jade. In einem anderen, oben in der letzten Etage, sitzt Nile. Bei den Gedanken an die beiden zieht sein Herz sich so schmerzhaft zusammen, das ihm fast die Luft ausgeht. Er will zurück. Alles in ihm schreit danach, zurück zu gehen. Aber er kann nicht. Er muss weiter. In einer halben Stunde werden die Betreuer einen Rundgang durch das Haus machen und feststellen, dass er weg ist. Los jetzt, ermahnt er sich. Er rennt los.