Ich blinzele. Es ist dunkler als in meiner Zelle – was schon was heißt. Als erstes rieche ich Staub, dann Rauch. Schließlich erkenne ich eine ferne, nahezu abgebrannte Fackel.
Wer die wohl entzündet hat? Denn auf den ersten Blick ist hier niemand zu sehen. Ich stehe in einem Gang aus Sandsteinquadern, der leicht schräg in eine unbekannte Tiefe führt. Allerdings wende ich mich lieber in die andere Richtung, nach oben. Wenig später starre ich in grellen Sonnenschein, eine rechteckige Öffnung, hinter der sich endlose Wogen goldener Dünen unter einem offenen, blauen Himmel erstrecken.
Mist. Ich kehre um. Hier finde ich wohl nichts, dass mir eine Flucht aus der Zelle ermöglicht.
Nervös trotte ich nach unten. Ich mag es echt nicht, in die Tiefe zu gehen. Das fühlt sich an, als würde ich in ein Grab marschieren. Vielleicht habe ich auch zu viel Zeit in der Nähe von Dämonen und Unterwelten und so verbracht …
Der Weg nach unten führt an eine Kreuzung. Zum Glück handelt es sich nicht um ein Labyrinth, ich brauche nämlich nicht lange, um die drei Gänge zu erforschen. Der eine ist eingestürzt, die andere Seite führt in eine Kammer, wo es bloß Gold und Edelsteine und so gibt. Nichts Hilfreiches also. Seit der Fluchmünze bin ich von allem weltlichen Besitz geheilt, ehrlich! Ich nage nur einmal kurz an einem Saphir – aber auch nur, weil Lyssa den hübsch findet und mit so einem roten Kreis wie Clickbait-Thumbnails auf YouTube umkreist. Als Fantasie kann sie allerdings nichts mit einem Stein anfangen, also lassen wir ihn liegen.
Der dritte Gang, der mittige, führt dann wirklich in ein Grab. Zum Glück nicht meines. In der Mitte steht jedoch ein großer, steinerner Sarkophag. Er ist mit Gold, Bemalung und Steinhauerei verziert, für meinen Geschmack viel zu prunkvoll, doch jedem das seine. Lyssa hat außerdem Spaß daran, die kleinen Figürchen, die hier als Schrift fungieren, tanzen zu lassen. Dann führen mehrere Menschen mit eckigen Bewegungen einen epischen Kampf gegen die Figuren mit Tierköpfen. Die Tierköpfe gewinnen. Zwei Liebende, die sich in einem Kornfeld verstecken, werden entdeckt und getrennt, der Mann in den Krieg eingezogen, wo er stirbt, während die Frau weiterhin am Weizenfeld auf ihn wartet. Eine Mutter legt einen Korb auf den Fluss – hm, ob das irgendwie vom echten Leben inspiriert ist? – und sieht ihm mit tränennassen Augen nach. Doch die Flusspferde rücken vor …
Ich wende den Blick ab. Lyssa kann mich echt ablenken! Aber momentan sollte ich mich wirklich konzentrieren.
Ich suche den zweiten Raum ab, ohne viel zu finden. In meinem Sichtfeld tauchen mehr und mehr blinkende Pfeile auf, die sich interessanterweise immer im gleichen Abstand zu meinen Augen befinden und ein wenig verzögert bewegen, wann immer ich woanders hinsehe. Leicht schlierend – weil ich die Augen eben die ganze Zeit bewege – deuten sie auf den Sarkophag in der Mitte.
„Ja, ja“, brumme ich. „Ist ja gut, Lyssa.“
Eigentlich wollte ich das vermeiden, denn es ist nun mal nicht besonders höflich, einen fremden Sarg zu öffnen. Was, wenn da jemand drinhockt wie Dracula damals? Und wenn er über mich lacht?
Allerdings habe ich nichts anderes gefunden, nur eine Flasche Honigmet. Also stemme ich mich schließlich schicksalsergeben gegen den Steindeckel des Sarkophags.
Dieser gleitet erstaunlich leicht zur Seite. Ich rutsche erschrocken in den Sarg. Der Deckel knallt dumpf auf die Erde.
„Aaaahhh“, stöhnt jemand in mein Ohr.
„Ieeek!“ Ich starre auf die Gestalt, die sich unter mir regt. Eingewickelt in Bandagen wie eine Raupe in ihren Kokon.
„Wer wagt es, mich zu wecken?“ Puh, hat der Kerl ein Organ. Als würde man mit einer Orgel sprechen! „Mich, Pharao Ptahotepbnmn!“
„Gesundheit.“
„Häh?“ Die Kreatur hebt ihren Kopf, um mich anzustarren. Ich sitze auf ihrer Brust und nun, da die Panik nachlässt, erkenne ich langsam, was genau ich vor mir habe. Wie hypnotisiert betrachte ich die Leinenbänder.
Leinenbänder …
„Wer bist du?“, fragt die Mumie etwas sanfter.
„Tut mir echt leid.“ Ich schnappe mir einen Mumienbindenzipfel und renne los. Lautes Gebrüll folgt mir, als der Pharao abgewickelt und dabei im Sarkophag herumgeworfen wird wie eine Spindel auf der Nähmaschine. Ich sacke nur noch rasch den Met ein, denn dafür habe ich einen Plan, dann flitze ich zurück zum Portalriss, der brav im Gang auf mich wartet.
Es dauert eine gefühlte Stunde, bis ich die ganzen Leinenbänder durch den Riss gezogen habe. Das wäre sehr viel schneller gegangen, wenn ich Arme gehabt hätte. So muss ich mit dem Maul ziehen, das Band ablegen, ein paar Schritte auf den Riss zu machen, das Band an einer anderen Stelle packen und wieder ziehen …
In anderen Worten, Menschen haben echt keinen Grund, jemals zu jammern. Die haben Daumen!
Aber schließlich habe ich genug Stoffband, um es als Seil zu verwenden. Ein Ende wickele ich mehrmals um das Gitter, dann werfe ich den Rest zum Fenster hinaus, hüpfe hinterher und klettere wirklich genial nach unten, indem ich mich mit den Beinen an der Wand des Gefängnisses abstütze und das Band langsam durch die Zähne gleiten lasse. Sogar die Metflasche kann ich unversehrt mit nach unten bringen.
Mir tut nur echt das Maul weh, als ich endlich unten bin. Doch das ist ein kleiner Preis für die Freiheit!
Meine Flucht wurde noch nicht bemerkt. Soweit ich weiß, kommt der nette Wärter erst am Abend wieder. Zu gerne wäre ich noch ein Weilchen geblieben und hätte eine weitere Schale von den leckeren Brotdingern gegessen. Die muss ich mir echt merken!
Aber – wie so oft – es scheitert an der Zeit. So eile ich zurück zum Haus des Bürgermeisters, wobei ich die Deckung von kleinen Seitengassen und Schneewehen ausnutze. In dem Gebüsch unter dem Fenster, wo ich erwischt wurde, finde ich dann die Schatulle mit dem Zahn.
Glück gehabt! Die Fee hat den Zahn wohl nicht mehr gefunden. Oder sie musste abhauen, damit das Menschenkind sie nicht sieht. Solche Wesen müssen sich immer an zig Vorschriften halten.
Mit der Schatulle und dem Met kehre ich zu Ifrit zurück. Bis ich ihre Höhle erreiche, wird es bereits dunkel. Verdammte Zeit!
„Was hat so lange gedauert?“, fragt der Tiger gedehnt, als ich keuchend ankomme.
„Ich wurde verhaftet“, knurre ich. „Hier, dein Zahn. Und ein Geschenk.“ Ich schiebe den Met hinterher. Ifrit liebt Met nämlich!
„Lass sehen!“ Zunächst öffnet sie die Schatulle und begutachtet den Zahn. Ein fieses Grinsen tritt auf ihr Gesicht. „Perfekt!“
Ich lasse mich auf den Bauch fallen und atme durch. „Ich werde nie wieder mit dir wetten! Nie wieder, hörst du!“
„Wirst du wohl.“
„Garantiert nicht.“
„Wetten?“ Sie grinst.
Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu.
Ifrit entkorkt die Flasche mit einem Biss. „Komm, zieh nicht so ein Gesicht. Du hast noch Zeit. Und wie versprochen werde ich dir verraten, wie du deinen Becher kriegst. Besser noch, ich komme mit. Die Voodoo-Priesterin muss nämlich auch noch etwas für mich erledigen.“ Sie nimmt den Flaschenhals ins Maul und wirft den Kopf zurück, um den Met zu exen. Dann spuckt sie die Flasche gekonnt nach draußen in den Schnee. Es klirrt, als diese aufschlägt. Offenbar liegt da noch mehr Glas unter den weißen Flocken.
Der Tiger rülpst leise. „Guter Jahrgang. Also, entspann dich, Wolf. Morgen holen wir den Becher.“
Ich nicke und strecke mich aus. Ich bin echt platt nach diesem Tag. Ich bin noch nie verhaftet worden. Das war eine Erfahrung, auf die ich hätte verzichten können.