Ich wende mich wieder dem gebirgigen Wald zu, wo ich damals meine Suche nach dem Mondkalb begonnen hatte. Dort kenne ich mich immerhin besser aus.
Ich will nicht lügen – meine Laune ist ziemlich gedämpft. Niedergeschlagen schleppe ich mich durch die Wiesen, welche das Dorf umgeben. Es ist nicht nur der erneute Rückschlag auf meiner Mission, der mir zu schaffen macht. Mich verfolgen auch die Augen der Eltern. Dieser entsetzte, verständnislose Blick, weil sie sich nicht erklären können, warum jemand ihren Schützlingen solche furchtbaren Geschichten erzählen sollte.
Sie ahnen ja nicht, dass ich ihnen helfen wollte. Vielleicht hätte ich das alles etwas besser durchdenken und anders angehen sollen. In Absprache mit den Eltern, zum Beispiel.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber gemessen daran müsste ich langsam ein Genie sein!
Ich glaube, die vorwurfsvollen Blicke werde ich nicht wieder vergessen. Noch manche der verängstigen Kinderaugen. Vielleicht habe ich es doch übertrieben. Oder eher, ich hätte Lyssa etwas bremsen sollen. Sie kann manchmal etwas rücksichtslos sein. Deswegen schreibt sie auch keine Kinderbücher.
Meine Pfoten werden schwer. Ich glaube, dieses ungewohnte Gefühl ist Reue. Wenn ich die letzten Monate durchgehe, dann kristallisiert sich ein Muster heraus. Ich mache immer nur Fehler! Wohin ich gehe, mache ich mir Feinde. Egal, wie gut meine Intentionen sind, am Ende ist immer jemand enttäuscht.
Nun rinnt mir die Zeit in rasendem Tempo durch die Pfoten. Wenn ich die Angst nicht bekomme, die Sir Prise will, war all das am Ende noch umsonst!
Ich glaube, seit dem Tag auf der Klippe habe ich mich einfach sehr von dem Wolf entfernt, der ich eigentlich sein will. Vielleicht ist das jetzt ein ungünstiger Moment für eine Midlife-Crisis, gerade angesichts der Tatsache, dass es eher eine Endlife-Crisis oder sogar eine Pastlife-Crisis ist. Ich bin ja schon mal tot gewesen, für eine Weile.
Jedenfalls bin ich gar nicht mehr so glücklich damit, wer ich bin. Unsere Entscheidungen bestimmen ja unsere Natur, und ich habe in letzter Zeit wohl eine Menge doofer Entscheidungen getroffen. Oder Dinge getan, nur weil ich eine Deadline habe. Der Marvin von vor einem Jahr hätte sich niemals unter Menschen begeben, noch dazu mit der Absicht, ihnen Angst einzujagen. Es würde mich nicht wundern, wenn dieses Dorf jetzt neue Regeln aufstellen wird, damit die Kinder nicht mit Wölfen sprechen. Oder mit Fremden, die ihnen Kaninchen oder Süßkram versprechen. Vermutlich werden sie alle Wölfe für so bösartige Wesen wie mich halten!
Ich habe ihnen einen Grund gegeben, Wölfe zu hassen!
Frustriert schnappe ich nach einigen langen Gräsern und beiße sie ab, um darauf herumzukauen. Nein, irgendetwas muss sich ändern! Ich kann nicht länger herumlaufen wie die Axt im Walde, nur weil mir ein Dämon im Nacken sitzt! Wann bin ich eigentlich so gemein geworden, dass ich absichtlich Leute einschüchtere? Sir Prise ist drauf und dran, mich in eine Art Hilfsdämon zu verwandeln.
Und ich bin ein Wolf, kein Dämon! Das ist eine wichtige Unterscheidung, auf die ich mich wieder konzentrieren sollte.
Ich halte inne und hebe den Blick. Die Sterne sind noch nicht zu sehen. Solange Sol am Himmel steht, können gewöhnliche Wölfe die Sterne nicht erkennen. Nur die Sternwölfe können das.
Eine weitere treffende Metapher. Der Eridanus, der Rechte Weg, ist für mich unsichtbar. Ich bin von ihm abgewichen, statt ein sternentreuer Wolf zu sein. Ich hätte mich niemals mit einem Dämon einlassen sollen. Die bringen einen vom Licht ab.
Ich habe einen Entschluss, wenn auch noch keine Ahnung, wie ich ihn umsetzen soll. Es ist nur klar, dass ich etwas ändern muss. Es ist nicht richtig, alle Wesen dieser Welt für meinen persönlichen Nutzen auszubeuten! Ich muss mich wieder auf die Werte eines Wolfes besinnen. Für mein Rudel da sein, die Schwächeren beschützen, so etwas eben! Gegen die Finsternis einstehen, die zwischen den Sternen zu sehen ist und unsere Welt verschlingen will. Jedes noch so kleine Licht ist angesichts dieser Dunkelheit wertvoll. Ich muss achtgeben, dass meine kleine Flamme nicht erstickt wird.
Denn aus der Dunkelheit kann mich niemand mehr retten. Die Finsternis ist allumfassend und gefräßig. Ich wäre für immer im Schatten gefangen.
Also brauche ich wohl eine neue Grundregel. Ich habe verspätet mein Gewissen wiedergefunden. Von nun an werde ich ihm folgen! Ich kann meine Seele nur vor dem Dämon retten, solange sie noch existiert. Dann sollte ich sicherstellen, dass es noch eine Seele ist, die gerettet werden sollte. Wenn ich zulasse, dass ich zu einem Monster werde, kann ich doch gleich aufgeben.
Als ich mich umsehe, bemerke ich kleine, blau leuchtende Blüten im Gras. Ich tapse testweise auf eine. Wie ich mir gedacht hatte: Sie sind nicht real. Aber wunderschön, das muss ich Lyssa lassen.
„Danke. Ich weiß das zu schätzen.“ Begleitet von leuchtenden Blumen und frühen Glühwürmchen setze ich meinen Weg fort. Meine Fantasie bemüht sich ehrlich, mir Mut zu machen. Ich weiß nämlich nicht, wie ich den Becher noch füllen soll, noch dazu, wenn ich niemandem mehr absichtlich Angst machen will. Ich weiß nur, dass ich das Richtige tun muss, so schwer es mir fällt.
Gerade weil es mir schwerfällt, sollte ich sagen. Es ist nicht das Richtige, weil es einfach ist.
Ich atme auf, als ich in den Wald tauche. Das ist vertrautes Terrain. Ich bin nicht für offene Wiesen gebaut. Vielleicht hilft mir der Wald ja dabei, zu meinem ursprünglichen Ich zurückzufinden. Ein Wolf, der treu dem Worte Lupus‘ folgt und nie vom Pfad des Lichts weicht. Der Lunis zum Lächeln bringt und Sol immerhin nicht noch wütender macht.
Jener Wolf, den Jupiter selbst zum Beta seines Rudels erwählt hatte. Ich bin sicher, mein alter Ziehvater würde den Kopf schütteln, wenn er den Geschichtenerzähler von diesem Nachmittag sehen würde. Und ich will Jupiter nicht enttäuschen!
Noch ist es sicherlich nicht zu spät, die Kurve zu kriegen. Als reumütiger Sünder zurück ins Licht zu krabbeln und Besserung zu geloben.
Ich bin ein guter Wolf! Das muss ich mir nur wieder klarmachen. Die letzte Zeit war ein Ausrutscher, bedingt durch Stress und eine Menge unglücklicher Zufälle.
Ich betrachte die Vergissmeinnicht, die nur für mich sichtbar an den Wurzeln großer Bäume glühen, die tanzenden, sterngleichen Lichter unter dem Blätterdach. Am blauen Himmel kann ich sogar vertraute Sternbilder ausmachen. Huch, wann hat Lyssa sich die alle gemerkt? Sonst findet sie so was immer langweilig. Das beweist, wie sehr sie sich im Moment ins Zeug legt.
Noch jemand, den ich nicht enttäuschen sollte. Und zu guter Letzt gehöre wohl auch ich auf diese Liste. Ich bin diesen Kampf leid. Es wird Zeit, dass ich wie ich handele. Marvin Grauwolf! Ein Wolf, der vielleicht nicht der Größte oder Stärkste oder Mutigste ist, aber trotz allem ein guter Beta für jedes Rudel wäre. Ein Beschützer, ein Freund.
Es wird Zeit, diese Od(d)yssee zu meiner zu machen!