Die Zunge hängt mir fast zwischen die Pfoten, aber das war es wert. Ich habe mich so sehr beeilt wie vermutlich noch nie zuvor. Und der Becher, den ich um den Hals gebunden trage, verrät mir, dass ich richtig bin. Schon jetzt füllt er sich tröpfchenweise mit dunkler, zäher Angst, ein schleichendes Grauen, das einfach so aus der Luft sickert.
Ja, eindeutig: Ich bin in den Karpaten!
Mein Ziel war das kleine Dorf aus Teil 1. Der Ort, wo ich die letzten Regeln meines mysteriösen Auftraggebers gebrochen hatte. Und so mein Team verloren habe.
Für die Reise habe ich ein paar Dimensionsportale unserer damaligen Reise genutzt, und mich einmal ein Stück von einem äußerst unfreundlichen Riesenvogel mitnehmen lassen. So habe ich es rechtzeitig in Draculas Gebiet geschafft.
Die Türen und Fenster des Dorfes sind geschlossen, viele Fenster sogar verbarrikadiert. Über den meisten Türen steht irgendeine Version von „Du bist nicht eingeladen!“
Auch über der Bar steht so etwas. Doch dieses Gebäude ist erfüllt von leisem Murmeln, während überall sonst verstohlene Stille herrscht. Die meisten Dorfbewohner sind offenbar in der Kneipe versammelt, und das schon am Nachmittag!
Zigarettenqualm und Bierdunst nebeln mir entgegen, als ich die Tür öffne. Leise Gespräche verstummen schlagartig. Schemenhaft kann ich Gestalten auf Barhockern und Stühlen sehen, die sich zur Tür umdrehen.
„Hallo.“ Puh, wieso werde ich auf einmal so nervös? Ist ja wie Lampenfieber. „Ähm. Mein Name ist Marvin und ich bin gekommen, weil ich von eurem Vampirproblem gehört habe …“
Ein Schuss verfehlt mein linkes Ohr knapp. Ich ziehe den Kopf ein und springe unter einen Tisch.
„Nicht schießen!“
„Weiche, Bestie des Vampirs!“
„Ich gehöre nicht zu Dracula!“
Die Tischplatte wird durchsiebt. Immerhin füllt sich der Becher, wenn auch schleichend.
„Ich will helfen!“
Ein leises Klicken folgt. Offenbar ist das Gewehr leer. Ich strecke den Kopf aus der Deckung. „Ich kenne Dracula, das stimmt. Ich habe mal aus Versehen für ihn gearbeitet. Aber die Zeiten liegen hinter mir!“
„Hmph.“ Der Barkeeper – der war das mit dem Gewehr nämlich – stellt die Waffe auf dem Kolben auf die Theke. „Und was willst du ausrichten?“
Gute Frage. Ich habe eigentlich nur irgendwas versprochen, damit er mich nicht erschießt. Alter Instinkt. Jetzt muss ich das wohl durchziehen.
„Ich werde versuchen … die Vampire zu verjagen. Heute Nacht. Ihr … ihr müsst gar nicht viel tun!“ Ich wage mich unter dem Tisch hervor. „Ich kann nicht versprechen, dass es klappt, aber ich will etwas versuchen. Auf jeden Fall bin ich ein Freund!“
„Der Wolf sieht tatsächlich etwas wie ein Hund aus“, merkt einer der Gäste an. „Nicht wie diese Bestien aus dem Wald.“
Ich lasse die Beleidigung mal durchgehen. „Also, habe ich recht? Dracula taucht hier nachts auf? Was könnt ihr mir noch sagen?“
Etwas zögerlich legt der große Mann hinter der Theke sein Gewehr ab. „Dracula – und drei seiner Bräute.“
Ups. Oh-oh.
„Sie kommen jede Nacht. So viel Knoblauch wir auch aufhängen, so viele Kreuze überall stehen, sie erwischen immer mal wieder jemanden. Junge Pärchen, die sich nachts nach draußen schleichen. Trunkenbolde. Kinder. Sie trinken ihr Blut und lassen sie völlig geschwächt zurück. Ein paar sind gestorben und wir können nichts tun! Wir werden wirklich jede Hilfe annehmen, die kommt.“
„Ich kann nichts versprechen“, wiederhole ich unwohl.
„Spielt keine Rolle. Schlimmer machen kannst du es nicht mehr.“
Das … wäre mal was Neues. Ich atme tief durch und hüpfe auf einen freien Stuhl bei der Theke. „Habt ihr einen Stadtplan? Wann greifen sie an? Wo wurden bisher Leute überfallen?“
Der Wirt sieht sich um. Ein paar Winks später läuft eine junge Frau los, die mit einer alten, fleckigen und an den Rändern eingerissenen Karte zurückkehrt. Gemeinsam mit den Dorfbewohnern beuge ich mich über das verhärtete Papier, das auf ein Holzbrett genagelt wurde. Das Ding riecht echt muffig!
Ich höre mir die Geschichten über verletzte Angehörige und Verstorbene an, nicke ernst und versuche dabei, den Gedanken an den Becher zu verdrängen. Ab und zu muss ich doch nachsehen, und das Ergebnis ist in mehr als einer Hinsicht bedrückend.
Der Becher leert sich langsam wieder. Die Menschen verlieren ihre Angst! Was ich zunächst nicht verstehe, ergibt nach einer Weile allmählich Sinn. Sie haben Hoffnung, so schwach sie auch ist, dass sich ihre Lage endlich bessert.
Eigentlich wollte ich ihnen keine falsche Hoffnung machen. Ich bin nur hier, um etwas Angst mitzunehmen. Aber ich kann ja wenigstens versuchen, Dracula einen Schrecken einzujagen oder so. Um ihn zu vertreiben, fehlt mir ein richtig guter Plan. Aber ich muss es versuchen!
Immerhin habe ich eine Superkraft. Wenn alles schiefläuft, kann ich immer noch Sir Prise rufen, um ihm die Angst zu geben. Ich bin zuversichtlich, dass sich der Becher heute Nacht wie von selbst füllen wird. Wenn nicht … nun, dann ist Dracula nicht mehr mein Hauptproblem.
Ich sauge alle Informationen auf, die die hilfsbereiten Dorfbewohner mir geben. Jedes Detail, egal, wie unwichtig oder unheimlich.
Oh, Dracula mag eine bestimmte Art Blume nicht? Super! Die wächst hier nicht? Egal!
Er kann sich in einen Schwarm Fledermäuse verwandeln? Klar, warum nicht?
Vampire beherrschen auch noch Hypnose? Bring it on!
Die Stunden verstreichen, während wir arbeiten. Schließlich zeigt sich draußen der erste Schatten der Dämmerung und ich kann meine eigene Angst nicht länger bezähmen.
Das hier ist der letzte Tag der Zeitspanne, die Sir Prise mir gegeben hatte. Mein Plan mit dem Dorf hängt vor allem davon ab, dass der Dämon mich nicht direkt zum Sonnenuntergang holen kommt. Ich brauche wenigstens eine Stunde mehr, vor allem, da der Becherinhalt inzwischen ziemlich geschrumpft ist. Ich vertraue einfach mal darauf, dass dieses Buch so lang wird wie die bisherigen. Dann habe ich noch acht Kapitel – das muss doch heißen, dass alles klappt! Ich werde die Angst abliefern und habe dann noch sieben Kapitel, um mich von den Strapazen zu erholen.
Mit wehmütigem, hallendem Ton schlägt die Kirchturmuhr im Dorf. Ein Schauer geht durch mein Fell.
„Es ist jetzt bald so weit“, murmelt der Besitzer der Kneipe besorgt. „Kommt, Leute, es wird Zeit, nach Hause zu gehen.“
In Schweigen leert sich der Schankraum. Außer dem kräftigen Besitzer bleibe nur ich zurück. Nervös nage ich an meinen Fußkrallen.
„Hunger?“, fragt der Wirt mit tiefem Brummton.
„Ich bin eigentlich nur … Whoa.“ Eine Holzplatte mit Haufenweise Resten landet vor mir auf der Erde. Der Wirt drückt sich ächzend wieder hoch und lässt mich mit der überwältigenden Auswahl aus Rippchen, Hühnerschenkeln, Würsten und anderem zurück. Wortlos.
Ein paar gekochte Möhren und etwas trockenes Brot, das mich tröstlich an Brotchips erinnert, gehören auch zum Menü. Während ich futtere, merke ich, wie hungrig ich eigentlich bin. Wann habe ich zuletzt etwas gegessen? Das war vor dem Piratenschiff, oder? Und das wiederum ist fast drei Tage her!
Somit verschlinge ich die Probierplatte begeistert. Ein tolles Henkersmahl!
Als ich mir schließlich abgekühlten Bratensaft aus dem Fell lecke, nähert sich bereits der nächste Glockenschlag. Die Sonne ist unter den Horizont gesunken. Sterne umringen den nahezu abgewendeten Mond. Nur noch eine Haarlinie ist zu sehen.
Als dröhnende Kupferschläge den Anbruch der Nacht verkünden, stehe ich auf und trete auf die Tür zu, hinaus in die Nacht.
Stille legt sich über das Dorf. Dann sehe ich die raschen Fledermausschatten vom nahen Gebirge herunterjagen.