Ich sehe Tarzan skeptisch an. Der Affenmann weicht meinem Blick aus, gräbt mit den kräftigen Fingern in der Erde und zieht ein paar Brotchipstüten zur Seite, um einen ordentlichen Müllhaufen zu bauen. Ein Müllhaufen, der verdächtig schnell groß zu werden droht.
„Also?“, hake ich nach, bevor ich noch ein schlechtes Gewissen kriege. „Was für ein Problem? Was ist mit dem Becher?“
Hoffentlich ist er nicht kaputt. Ich weiß nicht, wo ich einen zweiten Kürbis herbekommen soll, um die Voodoo-Lady auszuzahlen!
„Becher ist heil“, sagt Tarzan, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Alles gut. Aber Affe nicht wollen Tarzan geben. Affe sein … störrisch.“
Ich atme auf. Immerhin ist mein Becher heil! „Du hast mir aber versprochen, dass du mir den Becher bringst!“
„Tarzan helfen!“, beteuert der Affenmann schnell. „Tarzan … stehlen, wenn Affe schläft! Oder in ein paar Tagen, Affe wird vergessen.“
„Ich habe aber keine paar Tage!“ Entsetzt sehe ich ihn an. „Ich habe noch …“ Ich rechne kurz nach. „Vier Tage. Eher dreieinhalb!“
„Das tut Tarzan leid. Ist Krebs?“
„Was? Nein! Ich habe nur … eine Deadline. Eine sehr strenge Deadline.“
„Oh.“
„Also, es könnte Krebs sein – stell dir vor, dass der Becher zu meinem Heilmittel gehört. Ich brauche ihn!“
„Tarzan versteht!“ Er nickt ernst. „Trotzdem schwierig. Affe jetzt wissen, dass Tarzan wollen Becher!“
„Und lass mich raten – der Affe ist sehr misstrauisch?“
Der Affenmann legt den Kopf schief. „Komm, Wolf. Tarzan zeigen!“
Wir laufen eine Weile durch den Urwald, die Klippen wieder hinauf. Langsam wird es dunkler und kühler. Ich versuche, die aufsteigende Nervosität zu bekämpfen. Ich habe noch Zeit, sage ich mir immer wieder. Drei volle Tage – das ist massig Gelegenheit, Leute mit Angst zu finden. Diese Menschen am Strand hätten super geklappt, und da hatte ich nicht mal aktiv gesucht! Es wird also wirklich leicht, wenn ich den Becher erst einmal habe.
Und mit Tarzans Hilfe sollte auch das nicht zu lange dauern.
Als wir schließlich eine große Lichtung erreichen, sinkt mein Optimismus jedoch. Tarzan zieht mich in ein Versteck unter großen, fleischigen Blättern, von wo aus wir eine große Freifläche mit einem hohen Baum in der Mitte bewundern können. Verschiedene Affenarten turnen hier herum. Junge Affen spielen unter lautem Gekreisch miteinander, andere dösen im Schatten, hängen (wortwörtlich) in den Baumkronen herum oder lausen sich gegenseitig. Es wirkt wie eine große Familie. Zwar bilden sich Grüppchen, die sich nur aus einer Affenart zusammensetzen, doch die Kinder spielen alle miteinander und auch sonst bemerke ich keine Feindseligkeiten – von ein wenig Streit um herabgefallene Früchte des Baumes einmal ausgenommen.
Es gibt auch einen Bachlauf auf der Lichtung und einen riesigen Stapel verschiedener Früchte an einer Seite. Ab und zu kommen Affen aus dem Wald, die etwas auf den Stapel werfen, worauf andere es sich nehmen können.
Doch mit Abstand die meisten Affen versammeln sich vor dem Stamm des großen Baumes. In ihrer Mitte sitzt der diebische Lemur und wirbelt den Becher herum. Meinen Becher! Er geht damit um wie mit einem Spielzeug, wirft ihn durch die Luft und fängt ihn wieder, beißt in den Rand und setzt ihn sich sogar auf den Kopf. Ich knurre unwillkürlich. „Mistkerl!“
„Leise!“, mahnt Tarzan. „Wenn sie sehen uns …“
„Ich weiß, ich weiß.“ Ich seufze leise. „Hm. Das ist in der Tat knifflig. Zu viele Augen auf dem Becher.“
„Ist unmöglich zu stehlen. Und auch kämpfen“, erklärt mein Helfer. „Tarzan kann anderen Becher holen!“
„Nein!“ Ich sehe ihn ernst an. „Es muss dieser sein! Und ich habe bereits einen Plan!“
Denn vor meinen Augen zeichnen sich plötzlich die geisterhaften Linien einer Konstruktion ab. Ein Stolperseil hier, eine Ablenkung dort und ein Fluchtweg. Lyssa malt mir meine Rettung in schimmernden, blauen Linien auf die Welt. Erstaunlich, dass sie sich mal einbringt.
Es ist ein typischer Lyssa-Plan. Als ich Tarzan die wirren Ideen erkläre, macht er daraus jedoch mit wenigen Vorschlägen einen deutlich kleineren Plan, der tatsächlich funktionieren könnte.
Dann lässt er mich in meinem Versteck allein und rennt nach vorne. Er trommelt sich auf die Brust und keucht wie nach einem Dauerlauf.
„Leute! Leute! Gefahr!“ Er springt auf uns ab. „Elefanten haben gestohlen Heilige Kokosnuss!“
Die Affen lassen vor Schreck alles fallen – Essen, Läuse, Affenkinder. Die Affenkinder können sich zum Glück ihrerseits festhalten. Und natürlich hält der Dieb meinen Becher fest.
Wäre ja zu leicht gewesen!
„Wir müssen zurückholen!“, verkündet Tarzan laut und deutet in den Wald. Die ganze Affenbande stürmt ihm hinterher.
Während Lyssa mir das nächste Lied ins Ohr brüllt – ihr wisst, welches – packe ich eine Liane mit den Zähnen und ziehe in jenem Moment kräftig, als die Affen an mir vorbeistürmen. Die Liane lag da halt schon, das war recht praktisch und hat Lyssa erst zu ihrer Idee inspiriert.
Es folgt das Gekuller des Jahrtausends. Affen purzeln übereinander. Ich springe mitten ins Chaos, schließlich kenne ich mich da ja aus, und stürze mich auf den dreisten Becherdieb. Der Sturz hat ihn nämlich endlich dazu gebracht, meinen Becher freizulassen. Ich packe ihn mir und flitze weiter. Mehr als ein schneller, dankbarer Blick zu Tarzan bleibt nicht mehr. Über eine Lawine verschiedener kreischender Affen durchquere ich die Lichtung und husche in die Deckung des Waldes.
Ich halte erst inne, als ich den Strand erreicht habe. Dort spucke ich den Becher in den Sand, lege mich kurzerhand darauf und hechele erst einmal eine Weile.
Die Sonne ist bereits weg. Das Meer ist tiefschwarz eingefärbt und ich merke, wie ich müde werde. Mit vollem Magen noch durch den Wald zu rennen, war wirklich keine gute Idee …
Doch ansonsten war der Tag erfolgreich! Ich kuschele mich in den Sand, der noch angenehm sonnenwarm ist, um meinen Becher zusammengerollt. Das leise Rauschen der Wellen ist ein Wiegenlied. Die wütenden Affen habe ich weit hinter mir zurückgelassen – Tarzan hat ihnen sicher erklärt, was genau los war. Ich bin satt, zufrieden und meinem Ziel einen Riesenschritt näher.
Ich habe noch drei Tage. Morgen werde ich irgendjemandem ein wenig Angst einjagen und dann meinen Becher bei Sir Prise abliefern. Dann bin ich diese schreckliche Deadline endlich los! Ich weiß gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, keinen Dämon im Nacken zu haben. Das wird eine tolle neue Erfahrung.
Ich schnorchele leise ins Reich der Träume hinüber, erfüllt von Plänen, wie ich die restlichen vierzehn Kapitel meines Buches nutzen soll, wenn ich den Becher erst einmal gefüllt und dann abgegeben habe.