Es sind vier Gestalten, die sich aus dem Himmel schwingen. Sie haben menschliche Gestalt, die Arme ausgebreitet, und ignorieren die Schwerkraft mit einer Eleganz, dass man ihnen diese Dreistigkeit verzeihen will.
Draculas drei ‚Bräute‘ sind Frauen mit langem Haar. Eine ist blond, eine rothaarig, die dritte schwarzhaarig. Ihre Kleidung ist hell, irgendwas mit flatternden Gewändern und zerrissenen Schleiern, ziemlich vielen getrockneten Blumen und ein paar braun-beigen Akzenten. Irgendwie sieht es herbstlich aus, ein wenig nach Leichenmode. Ich bin sicher, Menschen würden die drei Frauen trotzdem bildhübsch finden. Sie haben alles, was man dafür braucht. Ebenmäßige Züge, nicht zu dick, nicht zu dünn, gute Haut.
Mir fallen dagegen vor allem ihre Augen auf, die rot und kalt sind. Mörderisch böse. Brrr! Das sind die Augen eines berechnenden Raubtiers auf der Jagd. Ich würde das ja mit Krokodilen vergleichen, aber selbst Krokodile haben eine mütterliche Seite und beschützen ihren Nachwuchs und so. Und sie lassen sich gerne mit Bürsten schrubben! (Nicht zuhause nachmachen, Kinder …)
Das da, das sind Monster. Kein Wunder, dass sich der Becher zusehends mit Angst füllt. Ich muss nicht einmal in der Nähe der Menschen sein.
Ja! Mein Plan funktioniert!
Einige Sekunden später geht mir die Schwachstelle des guten Plans auf. Nämlich dann, als die drei Bräute in der Nähe der Kneipe auf der Erde landen, die unebene Pflasterstraße entlang aufgereiht, einige Meter auseinander. Dracula schwebt weiter und sinkt hinter eines der Dächer. Die drei Frauen drehen sich, leicht in die Knie gegangen, und wittern. Sie bewegen sich ein wenig wie unter Wasser, die Arme ausgebreitet.
Dann richten alle drei ihre Blicke auf mich.
„Das ist kein Mann“, säuselt die Rothaarige.
„Das ist ein Wolf, Schwestern“, sagt die Blonde.
„Aber Wölfe haben auch Blut!“, beendet die Schwarzhaarige die Diskussion.
Fauchend springen die drei Vampirinnen los. Ich mache auf der Hinterpfote kehrt und hetze in die Seitengasse neben der Kneipe. Zu beiden Seiten gleitet verschwommenes Fachwerk vorbei. Ich springe über ein Regenfass und lande in einer kalten Pfütze. Etwas Angst schwappt aus dem Becher auf die Erde, doch das spielt keine Rolle. Der Becher füllt sich schneller, als ich ihn verschütten könnte.
Sobald er voll ist, muss ich Sir Prise rufen! Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass die drei Frauen aufschließen.
Sie sehen gar nicht mehr freundlich aus. Ihre Haut wirkt aus der Nähe eher geschuppt, durchzogen von grauen Falten, die besonders ihre Stirnen bedecken. Zu Klauen gekrümmte Finger haschen nach meinem Fell. Sie laufen nicht mal, sondern fliegen flach durch die Luft, als würden sie an unsichtbaren Seilen von einem großen Kran getragen werden. Der Kran der Metapher ist auch unsichtbar.
Ich erreiche das Ende der Gasse und werfe mich um die Ecke. Krallen streifen mein Rückenfell, obwohl ich mich auf die leicht mit Schnee besetzte Erde werfe. Die drei Frauen kreischen auf – und krachen in das Haus gegenüber der Gasse. Dabei fliegen sie leicht hoch, als … ja, als ob der Kran zu einem abrupten Halt gekommen wäre und das Seil sie weitergependelt hätte. Dann schwingen die drei zurück. Sie pendeln wirklich an einem unsichtbaren Seil! Vermutlich können selbst Vampire nicht völlig ohne Flügel fliegen.
Ehe ich jedoch weitere physikalische Erkenntnisse erlangen kann, kriegen die drei Frauen wortwörtlich die Kurve und jagen mir wieder hinterher. Ihr Kranflug ist irre schnell, das ist nicht mehr fair! Zum Glück habe ich ihren Schwachpunkt jetzt herausgefunden. So renne ich Haken schlagend durch die Gassen, werfe mich gerade außer Reichweite der zugreifenden Krallen, wenn eine Vampirin überholt, oder drücke mich am Rand der Pendelbewegung auf den Boden, sodass sie nicht zu mir herunterkommen.
In den engen, verwinkelten Gassen kann ich die drei schließlich abhängen und schlüpfe in einen penetrant nach Räucherwurst stinkenden Keller. Dort lege ich mich auf den Bauch und atme erst einmal tief durch. Meine Güte, die drei sind hartnäckig! Ich höre sie draußen säuselnd rufen, während sie mich suchen. Ich bin aber nicht doof. Solange sie mir keine Brotchips versprechen, bleibe ich hier!
Ich kontrolliere den Becher erneut. Er ist beinahe voll. Ich muss nur noch eine Weile abwarten …
Allerdings hat meine Jagd durch die Stadt eine ganze Weile gedauert. Ich sagte ja, diese Frauen sind hartnäckig. Die haben mich stundenlang durch die Straßen gehetzt. Zum Glück habe ich vorher in der Kneipe meine Kräfte sammeln können, sonst wäre das echt knapp geworden.
Ich betrachte den Becher, der sich aufreizend langsam füllt. Immerhin habe ich die Vampire eine halbe Nacht oder so abgelenkt. Ich wünschte, ich hätte mehr für das Dorf tun können. Vielleicht komme ich nochmal wieder, sobald ich diese eine Sache erledigt habe.
Der Becher füllt sich quälend langsam. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Unruhig schlage ich mit dem Schwanz auf die staubige Kellererde. Ich weiß nicht, wie lange Sir Prise noch warten wird.
Komm schon. Komm schon! Komm schon!
Plötzlich höre ich triumphierendes Kreischen. „Schwestern! Kommt her!“
Ein entsetzter Schrei folgt. Dann rennt jemand über eine Straße, mit auf den Boden hämmernden Stiefeln. Ein Mann schreit: „Ich wollte doch nur aufs Klooo!“
Das Gekicher der drei Vampirinnen folgt ihm.
Ich zögere einen Moment, dann seufze ich und renne auf die Straße. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die drei Frauen einen verängstigten Bauern einkreisen. Ich glaube, er hat in der Kneipe Musik gespielt. Jetzt kauert er auf der Erde, hebt abwehrend eine Hand und wimmert.
„Hey!“, brülle ich in die Sackgasse. „Hier bin ich!“
Desinteressiert drehen sich die Vampirinnen um.
„Was sollen wir mit einem Wolf?“, fragt die Blonde abfällig. „Du schmeckst nicht halb so gut wie ein Mensch.“
Zum Glück bin ich im Training, was rasche Ausreden angeht. „Ihr wollt also, dass dieser kleine Wolf geht und überall herumerzählt, wie lahm ihr drei seid? Wie leicht man euch davonlaufen kann?“
Das klappt sofort. Die drei wirbeln herum und jagen auf mich zu. Ich starte auf Comicart – indem ich in die Luft springe und mit den Pfoten vorwärme, bevor ich überhaupt das Pflaster berührte – und jage in eine Seitengasse, ohne noch einen Blick auf den Geretteten werfen zu können.
Die biestigen Frauen haben offenbar bisher nur gespielt, jetzt machen sie ernst. Sie sind mir dicht im Nacken, meine Haken wirken gar nicht mehr so gut wie zu Beginn der Nacht!
Als ich in eine Seitengasse fliehe, sehe ich endlich die Rettung vor mir: Ein kleiner Torbogen, der die Gasse in der Mitte trennt. Ich werde noch einmal schneller, während dreifaches Kreischen mir in den Nacken weht. Unter dem Torbogen hindurch flitze ich auf einen unebenen Marktplatz.
Die drei Frauen schwingen durch den Torbogen, dann abrupt nach oben und stoßen mit den Köpfen an den steinernen Bogen. Das unsichtbare Seil, an dem sie hängen, wickelt sich rasch um den Steinbogen und fesselt die drei, bis ein fauchendes, zappelndes Bündel entstanden ist.
Erleichtert trete ich rückwärts zurück. „Ha! Erwischt!“ Ich sehe in den Becher. Er ist voll! Ich verliere keine Zeit. „Sir Prise?“ Ich drehe mich, den Blick zum Himmel gerichtet. „He, Sir Pr…aaahhh!“ Ich starre direkt in Draculas totenbleiches Gesicht.
„Du!“ Mit einem bebenden Finger deutet der untote Graf auf meine Nase.
Ey! Nackter Finger auf angezogene Wölfe und so!
„Du! Du hast meine Bräute festgesetzt!“
Ich weiche zurück. Der schwarzgewandete Graf scheint in den Himmel zu wachsen. Mit einem langen Schritt schließt er zu mir auf.
„Du! … Moment, bist du nicht … ich kenne dich doch!“ Er kichert. Dann hält er inne. Dann kichert er etwas mehr. Dann lacht er lauthals. „Du bist … der Wolf im Pferdegeschirr! Der meinen Sarg transportieren sollte! Hahaha. Du warst das doch! Ich erinnere mich an den dummen Ausdruck in deinen Augen!“
Ich sollte mich freuen, dass er sich vor lauter Lachen kaum noch auf den Beinen halten kann. Die perfekte Gelegenheit, um abzuhauen. Es gibt nur ein Problem:
Durch das alberne Gekicher leert sich mein Becher!