Begleitet von wenig mehr als guten Vorsätzen spaziere ich durch den Wald, zwischen Tannen mit rötlichen Stämmen, die die Spuren von Hirschgeweih tragen, über moosige Felsen und durch kiesige Flussbetten mit kühl dahinsprudelnden Bächlein. Der Nachmittag wird bereits müde. Ich versuche, die Sonnenfinger zu bewundern, die durch das Laub dringen.
Liegt das am näher rückenden Ende? Statt mich auf die tickende Uhr zu konzentrieren, die Lyssa kritzelt, will ich einfach den Moment genießen. Ich liebe diese goldenen Nachmittage!
Puh, nicht, dass ich noch das Bedürfnis kriege, Enten zu füttern …
So in Gedanken versunken tapse ich einen Hügel hinauf, nur, dass dieser Hügel sich aufbäumt und mich abwirft.
„Ahhh!“, schreie ich erschrocken.
„Ahhh!“, schreit der Hügel ebenso erschrocken.
Ich springe hinter einen Baum. Der Hügel dreht sich suchend um. Er hat lange Arme und kurze Beinchen, einen rundlichen Kopf und einen unförmigen Körper, graugrün wie mit Moos bewachsenes Gestein, sogar ein wenig schroff.
„Wer ist da?“
Die Stimme kenne ich doch! Oh nein – es ist Gully! Auf der Stelle will ich umkehren und ein Paar Kilometer zwischen mich und den Steintroll bringen. Wenn ich mich daran erinnere, wie wütend er auf mich war …
Ich halte inne, eine Pfote bereits in der Luft. Ist das wirklich der Weg, den der neue, verbesserte Marvin nehmen sollte?
Zögerlich wende ich mich zurück zu dem riesigen Steintroll. „Ähm. Hallo, Gully.“
Der wandelnde Felsen dreht sich um.
„Tut mir leid, dass ich über dich gelaufen bin. Aller guten Dinge sind drei oder so … Ich bin einfach schlecht darin, Trolle wahrzunehmen. Ist nicht böse gemeint.“
Schritt für Schritt kommt der Troll näher, wächst vor mir in die Höhe. Ich schlucke schwer.
„Marvin?“ Der Troll legt den Kopf schief.
Für einen Moment ist meine Kehle wie zugeschnürt, während zwei gegensätzliche Kräfte in mir ringen. Noch könnte ich einfach ‚Nein‘ sagen und abhauen. Aber, verflixter Idealismus, ich habe mir etwas vorgenommen!
„Ja“, krächze ich also nervös. „Ich bin’s!“
Der Troll streckt eine Hand aus und tastet durch die Luft. „Marvin? Der Marvin, der mir damals meine Augen bringen sollte?“
Es ist wohl auch gegen meine neuentdeckte Tugendhaftigkeit, einem blind tastenden Troll einfach aus dem Weg zu gehen. Der verdammte Heiligenwolf, den ich in mir entdeckt habe, stimmt Gully auch noch zu. „Ja, genau der.“
Der Troll findet mich endlich – und tätschelt meinen Kopf. „Ich bin froh, dass du nochmal zurückgekommen bist.“
„Häh?“ Ich hatte mich innerlich bereits auf gebrochene Knochen eingestellt! Sagt bloß, dieses Ding mit der Ehrlichkeit funktioniert wirklich!
Gully setzt sich ächzend ins Gras. „Ich hatte letztens Besuch von einer netten jungen Frau, einer gewissen Ceridwen.“
Ich stelle die Ohren auf. „Sie war hier?“
„Genau. Hat nach dir gefragt. Sie hat dich wohl um ein paar Tage verpasst.“
Wenn das hier vorbei ist, muss ich unbedingt mit ihr sprechen. Falls … das noch klappt.
„Jedenfalls hatte ich ihr von … nun, unserem Missverständnis erzählt. Und du wirst es nicht glauben, Ceridwen konnte mir erklären, dass das alles eine Verwechslung war.“
„Ja?!“ Erstaunt sehe ich den blinden Troll an.
„Ja! Sie hat nämlich herausgefunden, dass ein Gestaltwandler die Rolle des Stinthengstes übernommen hatte. Daher hattest du doch die Augen, nicht wahr?“
Ich nicke, ehe mir einfällt, dass Gully das nicht sehen kann. „Genau! Ich habe ein bisschen Schmuck gegen zwei Flusskiesel getauscht. Der Fischkönig meinte … Das war ein Gestaltwandler?“
„Ja! Der hat dich hereingelegt.“
Ich klappe das Maul auf und zu. „Dieser Mistkerl!“
„Ganz genau! Ceridwen wusste noch nicht, was genau vorgefallen ist – aber mir ist klargeworden, dass du mich damals gar nicht ärgern wolltest.“
„Ich habe nicht wirklich nachgedacht, das stimmt – aber ich wollte helfen!“
„Und dafür möchte ich dir danken“, sagt Gully ernst. Ich muss mich unauffällig zwicken. Doch ich wache nicht auf. „Ich habe auch etwas überreagiert.“
„Das … ist doch völlig verständlich“, bringe ich hervor. „Du bist von diesen bösen Zwergen gemobbt worden. Das macht ja was mit einem!“
„Ich konnte nicht glauben, dass jemand einfach mal nett ist“, murmelt der Troll leise. Ich stupse sanft gegen seine Hand, um ihn zu trösten.
Dann beginnen wir, eine Weile über alles Mögliche zu sprechen. Gully erzählt von seiner Schulzeit und davon, wie er sich in letzter Zeit mit netteren Leuten abgegeben und eine Reise der Heilung begonnen hat. Ich erzähle ausführlich von meinem misslichen Abenteuer und ernte ein wenig Mitleid.
Am Ende tauschen wir noch Tipps aus. Brotchips von meiner Seite, Granitkrümel von Gullys Seite. Irgendwie bezweifele ich, dass wir kompatible Geschmäcker haben …
„Ich muss wohl weiter“, sage ich schließlich. „Es wird dunkel und … nun, ich brauche noch die Angst.“
„Dunkel?“ Gullys Stimme zittert mit einem Mal. „Ich … entschuldige, ich habe Angst vor der Dunkelheit.“
Ich lege den Kopf schief. „Du bist doch blind?“
„Ja, aber Schattierungen kann ich noch wahrnehmen. Hell oder dunkel. Ich … ich werde besser in meine Höhle gehen.“
Ich nicke abgelenkt. Nämlich habe ich bemerkt, dass sich der Becher erneut mit dunkler Flüssigkeit füllt. Gully hat wohl wirklich Angst vor der Dunkelheit!
„Marvin, in welche Richtung liegt der eine Beerenstrauch?“
Ich konzentriere mich auf Gully. Nur einen Moment zögere ich. Wenn ich ihm den Weg weise, wird er gehen und meine kostbare Angst mit sich nehmen! Dabei könnte ich den Becher endlich füllen, wenn ich ihn nur eine halbe Stunde oder so hinhalte. Ich muss meinen Freund nur in seiner Todesangst im Stich lassen und hereinlegen, nachdem er mir gerade verziehen hat.
Ach, Fiddlesticks! Wieso muss mich ausgerechnet jetzt das Gutmenschentum überkommen? (Oder eher Gutwolftum.)
„Hier entlang, Gully. Leg einfach die Hand auf meinen Rücken.“
Der Strom der Angst versiegt, als ich den Troll zu seiner Höhle führe. Im Eingang bleibe ich stehen.
„Ich werde dann mal gehen. Hoffentlich sieht man sich mal. Also … pass auf dich auf, Gully.“ Ich trotte los.
„Marvin?“
„Ja?“ Ich bleibe stehen.
„Danke. Ich … weiß, dass du Angst brauchst. Ich wollte es dir sogar anbieten, aber dann habe ich mich so sehr gefürchtet, ich konnte es nicht.“ Gullys Stimme klingt traurig. „Ich hätte dir gerne mehr geholfen.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Gully. Der Becher ist schon zu einem Drittel voll!“ Ein wenig übertrieben, aber ich habe immerhin ein bisschen Angst geerntet. „Ich werde den Rest schon irgendwo finden.“
Mit einem merkwürdigen Gefühl irgendwo zwischen Zufriedenheit und Leere, und mit nur ganz wenig Angst, gehe ich in die Nacht hinaus.
Was für ein ungewohntes, neues Leben!