Wir fuhren nun schon zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen Raphael mir einen Vortrag darüber gehalten hatte, wie ich mich heute Abend verhalten sollte, was ich auf gar keinen Fall machen durfte und welche wichtigen Personen ich treffen würde. Ich hoffte währenddessen, dass ich mir alle Informationen bis dahin merken und nicht in eines der vielen Fettnäpfchen treten würde, vor denen er mich gewarnt hatte.
Wir unterhielten uns auch über einander, welche Hobbies wir hatten, Laster, Familie und welche Musik wir hörten. Ich begann ihn zu mögen und bekam das Gefühl, dass ich ihm vertrauen und mit ihm über Vieles reden konnte. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und ich hoffte, dass wir uns zu Freunden entwickeln würden. Ich fragte ihn auch über Lucian aus und er beantwortete jede meiner Fragen bereitwillig. So erfuhr ich, dass er schon ewig Klavier spielen konnte, es aber hasste, dies vor Leuten zu tun. Er las gern, liebte seine Autos, von denen er 5 hatte, Essen und entspannte Abende mit Freunden, aber er mochte Leute nicht, die unehrlich waren und andere mir zu ihrem Vorteil ausnutzten. Sein Sternzeichen war Steinbock, was laut Raphael sehr gut zu ihm passte, den er war der sturste Mensch den er kannte - wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nur schwer wieder davon ab.
Als mir schon fast nichts mehr einfiel, was ich noch fragen könnte, bogen wir in die Einfahrt einer Tiefgarage ein.
"Sind wir am Ziel?" fragte ich etwas aufgeregt.
"Fast. Ich muss nur kurz noch etwas holen und ein paar Sachen absprechen. Wenn du willst kannst du mitkommen", beantwortete er meine Frage.
Ich dachte kurz darüber nach, entschied mich dann aber dafür, im Auto zu warten. Raphael ließ die Musik weiterlaufen und versprach mir, sich zu beeilen.
Wie ich so allein im Auto saß, kam meine Aufregung hoch und ich realisierte, was heute Abend auf mich wartete. Was, wenn ich irgendetwas falsch machte und sie mich als ihr Mahl betrachteten? Oder Raphael und Lucian mich angelogen hatten und ich heute Nacht nicht überleben würde?
Nein, dass glaubte ich nicht wirklich. So sehr konnte meine Menschenkenntnis mich nicht täuschen.
Und trotzdem, ich brauchte jemanden, der mich beruhigte und mir sagte, dass all das nicht so schlimm werden würde.Und deshalb rief ich meine beste Freundin Mila an. Sie nahm nach dem dritten Klingeln ab und ich begann sofort wie ein Wasserfall zu reden. Ich erzählte ihr alles und sie hörte aufmerksam zu. Als ich fertig war, herrschte einen Moment Stille.
"Kannst du mir einfach sagen, dass alles gut wird?"
"Es wird alles wieder gut. Und wenn nicht, dann komme ich dich holen und wir betrinken uns zusammen." Ich musste lachen und ein Teil meiner Aufregung fiel von mir ab."Danke.""Nicht dafür. Dafür bin ich doch da.""Oh, tut mir leid, aber Raphael kommt wieder, ich sollte auflegen." Wir verabschiedeten uns kurz, bevor ich auflegte. Raphael startete den Wagen und wir fuhren wieder aus der Tiefgarage ans Tageslicht."Okay, ich habe alles erledigt und in circa 20 Minuten sollten wir eigentlich am Ziel sein", ließ er mich wissen. Ich hatte also nur noch 20 Minuten, um meine Aufregung halbwegs in de Griff zu bekommen. Ruhig bleiben und tief durchatmen. Wie schlimm konnte es schon werden? Tatsächlich erreichten wir unser Ziel - ein riesiges barockes Hotel - nach etwa 20 Minuten. In der zum Hotel gehörenden Tiefgarage parkte Raphael direkt neben Lucians Camaro und wir gingen gemeinsam zum Treppenhaus, dass uns in Hotel führte. Dort blieb Raphael stehen und drehte sich zu mir um. "Dein Zimmer ist von hier aus gerechnet im dritten Stock. Du gehst aus dem Treppenhaus raus, nach links, den Gang entlang, bis zum Zimmer Nummer 109. Das ist euer Zimmer, klopf einfach an, Lucian müsste schon auf dich warten. Hast du alles verstanden?" Keine Ahnung, warum er mich nicht einfach dahin brachte, aber ich hatte mir seine Wegbeschreibung gemerkt und war relativ sicher, dass ich das Zimmer ohne Pobleme finden würde. Ich schob den Träger meines Rucksacks wieder ein Stück nach oben und nickte."Gut, dann sehen wir uns später." Er umarte mich freundschaftlich, drehte sich um und ging noch eine Treppe weiter nach unten. Na dann mal los, dachte ich und ging langsam die Treppen nach oben. Gerade als ich dachte, dass ich den dritten Stock erreicht hatte, rief mich eine unbekannte Stimme von hinten beim Namen. Ich erschrak fürchterlich und hielt mir de Hand vor die Brust."Ich, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Hey, ich bin Ben."
"Kein Problem...Ben. Entschuldigung, kennen wir uns irgendwo her?" Ich war etwas verwirrt, denn er sprach so, als würden wir uns kennen, doch ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Und er war definitiv niemand, den man so schnell vergaß. Hellblonde, schon fast weiße Haare lagen nach hinten gegelt auf seine Kopf, seine Augen waren eisblau und seine Statur war wohl dass, was man als 'Schrank' bezeichnete. Nein, ihn konnte man defintiv nicht vergessen.
"Nein, nicht direkt. Da du hier bist, nehme ich an, du weißt von deiner Besonderheit. Ich bin Ben, der Nachfolger des größten hier in der Nähe angesiedelten Werwolfsrudels. Du solltest nicht hier sein. Du gehörst zu uns. Egal, was dir die Vampire erzählt haben, es diente nur ihren eigenen Zwecken. Du als Mensch bist ihnen egal, es geht nur um dich als außergewöhnliche Laune der Natur. Komm mit mir und ich zeige dir, dass du bei uns besser aufgehoben bist als hier, bei diesen arroganten Blutsaugern."
Fast fing ich wieder an zu lachen, wie gestern, als mir erzählt wurde, was ich scheinbar war, doch diesmal konnte ich mich beherrschen. Vielleicht auch, weil ich ein bisschen Angst vor ihm hatte und davor, was er vielleicht mit mir anstellen würde."Versteh mich bitte nicht falsch, aber bis jetzt fühle ich mich hier eigentlich ziemlich wohl und habe nicht das Bedürfnis, mich noch einmal in die Hände eines vollkommen Fremden zu begeben, der noch dazu behauptet ich gehöre zu ihm. Ich würde jetzt lieber auf meine Zimmer gehen und mich auf heute Abend vorbereiten."
Er wirkte kein bisschen zufrieden mit meiner Aussage, schien es aber zu akzeptieren, dass ich nicht mit ihm gehen würde.
"Haben sie dir erzählt, warum du heute hier bist?" fragte er etwas gehässig schnaubend.
"Man hat mir nur gesagt, ich soll heute Abend einige der höherrangigen Vampire kennen lernen und mir ein Bild davon verschaffen, wie ihr Leben aussieht." Er begann zu lachen ud ich sah in seinem Blick, dass er etwas Wichtiges wusste, was ich nicht wusste. Dennoch war ich nicht bereit ihm zu trauen oder mit ihm zu gehen.
"Dann wünsche ich dir viel Glück beim 'kennenlernen' der Vampire. Aber falls du es dir noch anders überlegen solltest: unsere Türen stehen dir immer offen." Er drehte sich um und ich starrte ihm hinterher. Schnell war er die Treppe hinunter verschwunden und ich besinnte mich wieder auf meine egentliches Ziel: mein Zimmer. Ich trat durch die Tür auf den Flur und es kam mir fast so vor, als wäre ich in einer komplett anderen Welt gelandet. Die Wände waren in einem satten rot, mit goldenem Dekor und alles war wahnsinnig prunkvoll und sah aus, als wäre es schon vor mehreren Jahrhunderten von Adligen durchschritten worden. Ehrfürchtig ging ich den Gang entlang, ohne dabei zu vergessen, auf die Zimmernummern zu achten. 107...108...109. Das musste mein Zimmer sein. Ich klopfte an, wie Raphael es mir gesagt hatte und nach gefühlt ewigen Sekunden, in denen ich schon dachte, an der falschen Tür geklopft zu haben, öffnete Lucian, nur mit einem Handtuch um die Hüften. Mein Gesicht lief sofort rot an und ich konnte meinen Blick nicht von seinem nackten Oberkörper abwenden. Was in meinem Kopf vorging, schien man mir ablesen zu können, denn Lucian begann zu grinsen. "Na, gefällt dir, was du siehst?" fragte er mit rauer Stimme. Und ob es das tat. Aber ich wollte es nicht wirklich zugeben, dass ich ein Kribbeln am ganzen Körper spürte."Pff..." Ich drehte mich um schloss die Tür hinter mir, um irgendwie aus der Situation heraus zu kommen. Als ich mich wieder zurück drehte, sah ich Lucian nur noch von hinten, wobei auch diese Ansicht nicht wirklich gegen das Kribbeln und die Anziehung half. Das Gefühl, das ich im Gang der Polizeistation hatte, als er mich ansah, war wieder da und ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Irgendetwas drängt mich in seine Richtung, doch ich blieb standhaft und dachte nur an die Dinge die geschehen würden, sollte ich mich ihm nähern.Meinen Rucksack legte ich vorsichtig auf einen der antik aussehenden Sessel und lief ein wenig im Zimmer umher sah mich um. In den aus dunklem Holz gearbeiteten Regalen standen ordentlich sortierte Bücher, die von William Shakespeare über J.R.R. Tolkien bis hin zu Suzanne Collins reichten. Schwere cremefarbene Brokatvorhänge verdeckten die Wände zwischen den Fenstern und gaben dem Raum ein wenig Helligkeit. Über mir hing ein riesiger Kronleuchter der den ganzen Raum erhellte. Vorsichtig setzte ich mich auf eines der Sofas und schaute mich weiter im Raum um. Plötzlich klopfte es an der Tür und ich erschrak mich halb zu Tode."Das müssen meine Mutter und meine Schwester sein. Sie werden dir helfen dich für heute Abend einzukleiden. Öffnest du den beiden bitte die Tür?" rief Lucian aus dem Nebenraum. Von seiner Familie hatte ich bisher nur wenig gehört und war erstaunt, dass ich so heute kennenlernen würde. Mein Herz schlug wie wild, als ich die Tür öffnete, so angespannt war ich.
"Du bist also Zara. Wie wunderhübsch du bist, Kind", begrüßte mich eine große, schlanke Frau Mitte vierzig, mit langen blonden Locken, die kunstvoll auf ihrem Kopf arrangiert waren. Sie umarmte mich herzlich, wobei ich einen Blick auf Lucians Schwester werfen konnte. Sie sah ihrer Mutter unglaublich ähnlich, die gleichen blonden Locken, das gleiche freundliche Gesicht. Nur ihre Statur war etwas anders. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war sie etwas kurviger, aber beide hatten ein wirklich tolle figur und strahlten eine ungeahnte Wärme aus. Auch sie umarmte mich, sobald ihre Mutter mich frei gegeben hatte. Dann liefen beide aufgeregt ein paar Mal im Raum hin und her, holten einen ganzen Stapel von Kleidern, stellten Spiegel auf und packten Schmink- und Frisieruntensilien aus. Das musste wirklich ein wichtiger Abend sein, wenn selbst um mich - eine eher unbedeutende Person unter ihnen - so hergerichtet wurde. Sie bedeuteten mir, mich vor einen der Spiegel zu stellen und probierten einige Frisuren aus, bis sie sich scheinbar für eine entschieden hatten. Dann hielten sie ein paar Kleider hoch und berieten sich darüber, welches meinem Hautton am ehesten schmeichelte und meine Figur am besten zur Geltung bringen würde. Sie fragten ich kein einziges Mal nach meiner Meinung, aber ich hätte auch nicht wirklich etwas Produktives dazu beitragen können, außerdem erschien es mir sehr wichtig, dass ich heute Abend so gut wie möglich aussehen sollte, aus welchem Grund auch immer. Aber sie wussten was sie taten und so stand ich einfach nur da und ließ sie tun, während meine Gedanken abdrifteten. In eine seeeeehr gefährliche Richtung. Ich fragte mich, wie Lucian wohl in einem maßgeschneiderten Anzug aussehen würde. Wahrscheinlich wie eines dieser männlichen Models aus Parfumwerbungen, bei denen man sicher immer fragte, wie ein Mensch so gut aussehen konnte. Irgendwann, als ich schon dachte, die beiden würden nie fertig, traten sie ein Stück zurück und begutachteten mich. "Was sagst du? Gefällt es dir?" fragte mich Lucians Schwester, die, wie ich aus einem ihrer Gespräche entnehmen konnte Ayanna hieß. Ich blickte mich selbst im Spiegel an und erkannte mich kaum wieder. Meine Haare waren kunstvoll geflochten und an meinem Kopf festgesteckt worde. Dezentes Makeup hebte meine Augen hervor und das Kleid saß wie angegossen. Es hatte lange Ärmel, die wie das gesamte Oberteil aus goldener Spitze waren, die nach unten hin weniger wurde und schließlich in den marineblauen Rock aus weichem, fließendem Tüll endete. Ich dreht mich ein Stück und sah, das es einen tiefen Rückenausschnitt hatte, der ebenfalls von goldener Spitze gesäumt war. Es war wunderschön und ich fühlte mich großartig. "Es ist wirklich umwerfend. Danke." Ich war den beiden wirklich seh dankbar, denn durch das Kleid fühlte ich mich dem Abend gewachsen. Wieder umarten mich die beiden, bevor sie sich verabschiedeten und mir versicherten, dass wir uns dann auf jeden Fall sehen würden. Als ich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, stand Lucian plötzlich im Raum. Und er sah wirklich unglaublich gut aus, in seinem schwarze Smoking. Er saß wirklich wie maßgeschneidert, was ich angescihts meines Kleides und dieses Hotels nicht verwunderlich fand."Du siehst aus wie eine Königin. Wunderschön und stark." Er kam näher und ich konnte sein Parfum riechen. Es passte perfekt zu ihm, dunkel und männlich. Wenn ein Kerl so gut roch, konnte ich einfach nicht klar denken. Lucian legte seine Hand an meinen Kiefer und sah mir in die Augen. Dann kam er langsam näher, ich schloss die Augen und wartete auf den Moment in dem seine Lippen meine berühren würden. Doch bevor sie es tat legte er seine freie Hand an meine Hüfte und ich legte meine Hände an seine starke Brust. Dann endlich berührten sich unsere Lippen und ich ging noch ein Stück näher an ihn heran, sodass sich unsere Körper berührten. Es war ein sanfter, zögerlicher Kuss und er endete meiner Meinung nach viel zu schnell. Langsam öffnete ich meine Augen wieder und fühlte mich so sicher in seinen Armen, wie sonst kaum irgendwo.