Ein lautes Klopfen an der Tür riss mich unsanft aus dem Schlaf. Sofort hellwach erfasste ich die Situation. Ich lag direkt neben Lucian im Bett meines Hotelzimmers. Die Uhr zeigte 9.27 Uhr an und vor meiner Tür stand jemand, der ziemlich ungeduldig schien.
„Zara, hier ist Ben. Geht es dir gut?“ Ben? Was machte der denn hier? Und woher wusste er überhaupt, dass ich hier war? Es war ein wenig beunruhigend, ich hatte ein wirklich komisches Gefühl bei der ganzen Sache – weshalb ich auch nicht antwortete und hoffte, er würde einfach wieder verschwinden.
„Wer zur Hölle ist Ben?“ flüsterte mir eine nur allzu vertraute Stimme ins Ohr. Ich bekam ein bisschen Gänsehaut, als sein Atem meinen Hals streifte, doch ich ignorierte sie, so gut ich konnte.
„Ein Werwolf. Er hat mich im Hotel schon angesprochen. Er dürfte eigentlich nicht wissen, dass ich hier bin“, flüsterte ich zurück, immer darauf bedacht, genug Abstand zu halten. Immer noch hoffte ich, dass der Werwolf einfach wieder verschwinden und mich in Ruhe lassen würde, doch noch immer hämmerte er an meine Tür und rief meinen Namen.
Lucian tippte mich an und wartet bis ich ihn ansah. Dann legte er einen Finger an die Lippen und bedeutete mir damit, mich ruhig zu verhalten und nichts Weiteres zu sagen.
„Zara, mach bitte die Tür auf, ich möchte nur sicherstellen, dass es dir gut geht. Entweder du machst jetzt die Tür auf oder ich mache sie gewaltsam au“, brüllte es von draußen. Langsam bekam ich ein ziemlich mulmiges Gefühl.
„Das würde ich an deiner Stelle lieber ganz schnell sein lassen“, gab Lucian mit bedrohlicher Stimme zurück. Beschützend strich er mir dabei über den Rücken und ich lehnte mich ein wenig dagegen. Ich hatte nicht vergessen, was gestern geschehen war, doch in der jetzigen Situation war ich einfach nur froh, Lucian hier zu haben. Wer weiß, was Ben wirklich von mir wollte.
„Zara, wer ist da bei dir? Geht es dir gut?“ Ben klang besorgt, doch ich vermochte nicht genau zu sagen, ob die Besorgnis echt war - oder nur gespielt.
„Es geht mir gut und jetzt geh bitte“, rief ich, in der Hoffnung, dass ihm das reichen würde.
Tat es nicht.
„Ich würde mich gern selbst davon überzeugen. Würdest du mich bitte hereinlassen?“ Konnte er denn nicht einfach verschwinden? Er wurde mir wirklich immer unheimlicher.
„Du hast sie doch gehört, es geht ihr gut. Und jetzt verschwinde endlich. Noch einmal werde ich es dir nicht sagen.“ Lucian klang wirklich angsteinflößend und er sah mich dabei so fürsorglich an, dass ich mir sicher war, er würde nicht zulassen, dass Ben hereinkam.
„Okay, ich werde verschwinden, aber wenn ich erfahre, dass du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast, werde ich dich finden und dann wirst du froh sein, falls du nicht allein bist.“ Darauf folgte Schritte, die immer leiser wurden und mein Puls beruhigte sich allmählich und ich atmete auf. Mit so einem Schreck am Morgen war der Adrenalinpegel direkt mal ganz oben.
Langsam wurde ich mir der Hand auf meinem Rücken und der Nähe zwischen mir und Lucian immer mehr bewusst, was meinen Puls wieder in die Höhe und mich aus dem Bett trieb. Ich murmelte eine Entschuldigung und flüchtete geradezu ins Bad.
Erst dort fiel mir auf, dass Raphael gar nicht da war und ich fragte mich, was er wohl gerade tat. Ob er womöglich Wogen glätten musste, nach meinem Verschwinden gestern oder ob er einfach noch irgendwo in einem weichen Bett lag und schlief? Da ich darauf im Moment keine Antwort bekommen würde, verschob ich die Fragen auf später und beschloss, erst einmal duschen zu gehen. Ich wusste, was es anrichten konnte, wenn wir nebeneinander schliefen. Lucian würde sonst wieder total durchdrehen, wenn unsere Gerüche an mir hafteten. Ich duschte ausgiebig und fühlte mich danach gleich viel besser. Meine Zahnbürste befand sich leider in meinem Rucksack und der lag irgendwo im Zimmer, also musste ich das sichere Bad verlassen.
Und das tat ich doch natürlich auch gerade zu dem Zeitpunkt, als Lucian sich ohne Shirt in jede erdenkliche Richtung streckte und ich das Spiel seiner Muskeln beobachten konnte. Für einen Moment war ich total darin versunken. Mit einem Kopfschütteln erwachte ich aus meiner Trance und blickte mich nach meinem Rucksack um. Er lag ans Fußende des Bettes gelehnt und ich kramte darin nach meiner Zahnbürste und -pasta. Ich fand sie schließlich und ging zurück ins Bad, ohne hinter mir abzuschließen. Vor dem Spiegel standen zwei Gläser und ich nahm eins und füllte es mit Wasser, nachdem ich meine Zähne geputzt hatte. Ich gurgelte ein paar Mal damit und spuckte es schließlich ins Waschbecken. Als ich mich wieder im Spiegel anblickte, sah ich Lucian hinter mir. Er stand jetzt so nah, dass ich seine Wärme im Rücken spüren konnte. Ich ertrug es nicht.
„Kannst du...würdest du bitte raus gehen?“ stotterte ich ein wenig vor mich hin. Er bewegte sich keinen Zentimeter und ich presste meine Kiefer zusammen in der Hoffnung mich unter Kontrolle zu halten. Seine Nähe war zu viel für mich nach dem gestrigen Abend.
Doch zu allem Übel legte strich er mir jetzt noch sanft die Arme hinab. Ich atmete tief durch um mich zu beruhigen.
„Geh“, quetschte ich noch durch meine zusammen gebissenen Zähne, bevor ich spürte, wie das Wasserglas in meiner Hand zerbarst. Der Schmerz schoss durch meine Hand und der Geruch on Blut stach mir in die Nase. Auch Lucian schien er zu erreichen, denn er trat einen Schritt zurück und atmete unregelmäßig. Meine Eckzähne bohrte sich in meine Unterlippe und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Blut.
Langsam öffnete ich meine Hand und die Scherben fielen klirrend ins Waschbecken und auf den gefliesten Boden. Scheinbar riss das Geräusch Lucian aus seiner Trance, denn er drehte den Wasserhahn auf und führte meine Hand unter den Wasserstrahl, bevor er ins andere Zimmer hastete. Mit dem Blut verschwand auch der Geruch ein wenig und meine Gedanken wurden wieder fokussierter. Lucian kam unterdessen mit einem Verbandskasten wieder.
„Habe ich im Schrank gefunden. Zeig mir mal deine Hand.“
Mit der unverletzten Hand drehte ich das Wasser ab. Augenblicklich sammelte sich neues Blut in meiner Handfläche, doch Lucian tupfte es weg und desinfizierte meine Hand. Das Desinfektionsmittel stach in meiner Nase und überdeckte zum Glück den metallischen Geruch des Blutes. Er verarztete meine Hand mehr oder weniger fachmännisch mit einigen dünnen, klebestreifenartigen Pflastern. Die Schnitte sahen tief aus, taten aber erstaunlich wenig weh.
Als er fertig war, packte er alles Übrige wieder zurück in den Verbandskasten und warf die blutigen Tupfer und Verpackungen in den Mülleimer.
„Es tut mir leid. Es war ein Fehler. Ich hätte dir sagen sollen, was Sache ist und warum der gestrige Abend so wichtig war. Keine Ahnung, wie ich das wieder gut machen kann und dein Vertrauen gewinnen kann, außer dir zu versprechen, von nun an mit offenen Karten zu spielen und nichts mehr vor dir zu verheimlichen. Falls du jetzt überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben möchtest. Ich werde dich zu nichts zwingen, was du nicht von dir aus wirklich willst und wenn du jetzt lieber wieder nach Hause möchtest, kann ich dich verstehen und werde dir dabei nicht im Weg stehen. Aber egal, für was du dich entscheidest – bleiben oder nach Hause fahren – ich mag dich. Wirklich.“ Er sah mir tief in die Augen, bevor er aufstand und den Verbandskasten an seinen Platz zurückbrachte.
Mein kleines einsames Herz hatte natürlich nur den Teil gehört, in dem er sagte, dass er mich mag und machte ein paar Sprünge.
Mein Kopf hingegen hatte alles andere vernommen und ratterte jetzt. Sollte ich das Abenteuer aufgeben und einfach so nach Hause fahren? Ich würde es wahrscheinlich mein Leben lang bereuen. Aber was, wenn es irgendwann kein Zurück mehr gab? Sollte ich es wagen?
Und vor allem: Sollte ich ihm verzeihen und ihm noch einmal mein Vertrauen schenken? Ich mochte Lucian irgendwie und auch Raphael war mir in der wirklich kurzen Zeit ans Herz gewachsen.
Ich könnte ja einfach noch ein paar Tage bleiben und sehen, wie sich alles entwickelte. Dann könnte ich immer noch nach Hause, zurück in mein altes Leben.
Mit diesem Entschluss ging ich aus dem Bad, packte meinen Rucksack wieder zusammen und hängte ihn mir über die Schultern.
„Wollen wir?“ fragte ich.
Lucian sah mich verblüfft an, als hätte er mit allem gerechnet – nur nicht damit.
Wortlos reichte er mir eine kleine Schachtel. „Keine Ahnung, ob das jetzt tatsächlich bedeutet, dass du noch bleiben und mir noch eine Chance gibst, aber ich möchte, dass du das hier bekommst.“
Verdutzt blickte ich ihn an, doch er bedeutete mir nur, die Schachtel zu öffnen. Was ich tat. Und was mir die Sprache verschlag. Mit offenem Mund starrte ich ihn an.
„Lucian, das kann ich unmöglich annehmen.“ Ich machte Anstalten, es ihm zurück zu geben, doch er verschränkte die Arme vor der Brust und weigerte sich.
„Doch, kannst du. Er ist noch nicht wieder ganz heil, aber heute Abend, spätestens morgen Vormittag, sollte er wieder wie neu sein.“
Er wollte mir tatsächlich seinen Camaro schenken. Er war verrückt geworden.
„Ich…du…OH MEIN GOTT…“ Ich war total überfordert damit.
„Also - wollen wir?“ fragte er grinsend. „Freut mich, dass es dir gefällt. Und keine Möglichkeit es zurück zu geben.“
Er hielt mir die Tür auf und ich lief, immer noch völlig perplex, hinaus auf den Flur. Gemeinsam gingen wir die Treppen hinunter, bis zur Theke, wo mich die freundliche alte Dame von gestern Abend anlächelte. Ich bekam das Gefühl, dass sie etwas damit zu tun hatte, dass Lucian und Raphael mich so schnell hier gefunden hatten, sagte jedoch nichts und lächelte ihr ebenfalls zu. Lucian öffnete mir wieder die Tür und ich trat auf die Straße hinaus, wo Raphael in seinem Auto schon auf uns wartete. Er stieg aus und umarmte mich so fest er konnte, dann hielt er mir wortlos die Beifahrertür auf und ließ mich einsteigen. Lucian nahm auf der Rückbank Platz, während Raphael um die Motorhaube lief und selbst einstieg.
„Wie wär‘s mit Frühstück?“ fragte Raphael gut gelaunt und ich nickte zustimmend. Von hinten meldete sich nur Lucians Magen mit einem lauten Grummeln, was mich irgendwie zum Lachen brachte. Wir fuhren los und erreichten nach kurzer Fahrt ein kleines Bistro, welches Frühstück anbot. Raphael parkte den Wagen am Straßenrand und gemeinsam betraten wir das Bistro.
Drinnen wurden wir von einer kleinen, etwas rundlichen Frau begrüßt, die uns herzlich anlächelte und an einen Tisch bat. Sie reichte jedem von uns eine Speisekarte, die alles beinhaltete, was das Herz begehrte. Pancakes, Rührei mit Speck, Milchshakes, Kaffee, Omeletts, Muffins, …
Ich bestellte einen herzhaften Muffin, einen Cappuccino mit Haselnusssirup und eine Portion Rührei mit Speck und Toast. Dann lehnte ich mich zurück und staunte darüber, was die Jungs alles bestellten. Die beiden mussten wirklich hungrig sein. Nach einer gefühlt ewig lange Liste entschieden sie, dass es wohl erst einmal reichen würde.
„Und konntest du alle ein wenig beruhigen?“ fragte Lucian mit einer kleinen Sorgenfalte auf der Stirn.
„Ach, es war halb so wild. Niemand war wirklich sauer“, beruhigte Raphael ihn. „Auch wenn deine Ex versucht hat böses Blut zu schaffen, waren doch alle ziemlich gelassen.“
Das schien ich sehr zu beruhigen. Sie unterhielten sich noch eine Weile über mögliche Verbesserungen ihrer Wagen – denen ich aufmerksam folgte – bis eine Kellnerin voll beladen mit Tellern an unseren Tisch kam und die erste Ladung Essen brachte. Den Rest brachte die Frau von vorhin, wobei sie Probleme bekam, alle Teller auf den Tisch zu bekommen. Als alles seinen Platz gefunden hatte, biss ich in meinen Muffin und kaute zufrieden. Er war wirklich köstlich und ich genoss ihn bis zum letzten Bissen. Der Cappuccino war ebenfalls ein Traum und ich wurde immer fröhlicher. Was so ein Frühstück alles ausrichten konnte.
Inzwischen hatten Raphael und Lucian ihre Bestellungen schon um die Hälfte reduziert und ich fragte mich, wo sie das alles hin aßen. Ich jedenfalls war nach dem Muffin und dem Rührei pappsatt, während die beiden immer noch aßen. Zu guter Letzt kam die Kellnerin noch mit zwei Bechern mit etwas, dass aussah, wie Erdbeermilchshake. Die Kellnerin nickte in meine Richtung, doch Lucian schüttelte den Kopf.
„Möchtest du einen Schluck probieren?“ fragte Lucian, als die Kellnerin wieder verschwunden war.
„Das ist kein Erdbeermilchhake oder?“ versicherte ich mich, bevor ich das Glas von Lucian annahm.
„Nein, ist es nicht. Eher ein Blutmilchshake.“
Ich nippte am Glas und schmeckte sofort das Blut in meinem Mund. Aber es war kein schlechter Geschmack. Eigentlich schmeckte es sogar ziemlich gut, doch ich wollte es lieber nicht übertreiben und schob das Glas wieder an seinen Platz zurück. Die beiden leerten ihre Gläser zügig und Lucian ließ die Rechnung kommen. Er bezahlte mit reichlich Trinkgeld – nachdem ich versucht hatte, ihn davon zu überzeugen mich mein Essen selbst bezahlen zu lassen. Vergeblich.
Gemeinsam verließen wir das Bistro und fuhren in Richtung Hotel. Ich hoffte währenddessen inständig, dass es stimmte, was Raphael gesagt hatte – dass wirklich alles nur halb so wild war.