Horatia hasste ihren Namen. Hätten sich ihre Eltern nicht einen normalen aussuchen können? Aber nein. Alte Familientradition. So ein Sch ... Natürlich kam es wie es kommen musste: Alle hänselten sie. Die Nettesten wunderten sich nur oder lächelten. Doch niemand konnte sich eine Reaktion verkneifen.
In der Schule wurde es richtig blöd. Die Kinder lachten, wiederholten ihren Namen und wann immer sie an den anderen vorbei kam, tuschelten sie oder lachten sie aus. Später erfanden sie allerlei Sprüche. Auf die Horatia keine Antwort hatte. Nach einigen Jahren, und nachdem es in der weiterführenden Schule nicht besser geworden war, bekam sie Angst, überhaupt noch irgendwo hinzugehen, wo man sie kannte.
Sie zog sich mehr und mehr zurück und las. So ziemlich alles, was sie finden konnte. Irgendwann stieß sie auf "Momo". Michael Endes Geschichten gaben Hoffnung und ließen auch Außenseitern ihren Platz. Das gefiel ihr sehr. Fasziniert war sie von Meister Hora: Wie er die Zeit beherrschte, sie sogar anhalten konnte. Irgendwas in ihr machte Klick.
Sie beschloss, sie würde jedes Mal, wenn sie ihren Namen hörte, die Zeit einen Moment anhalten. Hora, nicht länger Horatia. Und in diesem Moment der Zeitlosigkeit würde sie eine Lösung finden, die die grauen Gestalten vernichten würde. In ihrer Fantasie malte sie sich einige Begegnungen aus. Sie blieb so lange bei den beschämenden Situtaionen, bis sie genau wusste, was sie sagen musste.
Da sie nicht viel außer Haus ging, hatte sie eine Menge Zeit, sich bessere Reaktionen auszudenken. Sie stellte sich vor, wie die Mitschüler einer nach dem anderen sprachlos würden. Keine Antwort wüssten.
Darüber musste sie kichern. Ja, genau so würde sie es machen.
Das probierte sie auch gleich bei nächster Gelegenheit aus. Schnell hatten die Kinder spitz, dass sie sich nicht länger ängstigte oder ärgerte. Statt dessen schien sie nur auf Gelegenheiten zum verbalen Schlagabtausch zu warten. Die ersten verloren ihre Lust an Horatia-Witzen.
Nach und nach hörten sie auf.
Besonders hartnäckige Plagegeister bekamen spitze Bemerkungen zur Antwort - die garantiert bei ihnen die Schwachstelle trafen. Nachdem zwei der übelsten Rädelsführer vor ihren Leuten bloß gestellt wurden, ließen sie es bleiben.
Hora las weiterhin eine Menge. Allerdings ging sie auch auf Klassenfeten oder in Diskos. Zwar gewann sie keinen großen Kreis, aber doch drei oder vier zuverlässige Freundinnen.
Aufgrund ihrer neuen Wortgewandtheit und weil sie sehr zuverlässig gute von durchschnittlichen oder schlechten Geschichten unterscheiden gelernt hatte, wurde sie Lektorin. Nebenbei gab sie Kurse in "Selbstverteidigung mit Worten".