Er starrte missmutig vor sich hin. Seit sein Vater frühpensioniert wurde, wohnten sie in diesem Nirgendwo, buchstäblich nur umringt von Wiese, Bäumen, Rehen. Der nächste Nachbar, erreichbar über einen Feldweg, war ein Bauernhof, drei Kilometer. Keine Kinder. Auch durch den Wald könnte man in etwa in gleicher Entfernung Menschen erreichen: Eine junge Familie mit einem Baby von zwei Jahren. Was soll man damit anfangen? Julian stierte trotzig in die Luft. Alle anderen gingen am Wochenende in die Disko oder auf Feten. Nur er musste hier rumsitzen. Sein Alter erlaubte auch nichts! Obwohl er schon 14 war. Also fast.
Ärgerlich trat Julian gegen seine Hantel. Sie wackelte nur leicht. Naja, 30 kg. Aber heute hatte er schon zwei Mal ne halbe Stunde damit trainiert.
Er schaute auf sein Iphone. Niemand postete an einem Samstag um 22 Uhr! Da war man gerade bei Freunden eingetroffen, wenn man nicht im Grünen eingesperrt war und Däumchen drehen musste. Oder einen die Eltern einsperrten.
Scheiße. Kann man an Langeweile sterben?
Er hustete. Eigentlich gab es keinen Anlass dafür. Naja. Wenigstens ein Taschentuch zücken. Ist doch mal ne Abwechslung.
Er hasste den Sarkasmus in seinem Kopf.
Wie kommt man da bloß raus?
Egal. Er würde sowieso hier sterben. Und seine Mutter würde ihn erst finden, wenn er nicht zum Essen kam. Meine Güte, die Alten. Faseln einen ständig voll, wenn man in Ruhe essen will.
Auch scheiße.
Gab es irgendwas auf der Welt, das nicht mega k... ist?
Lustlos scrollte er durch ein paar Internetseiten.
Wenn man sich schon sechs Stunden damit vollgedröhnt hat, und das täglich, dann braucht man einfach nix mehr davon.
Er ließ sich trotzdem ein Video von Sarah O. vorspielen. Vermutlich schon zum 120sten Mal, aber egal. Den Text summte er mit. Meine Güte, wie die wohl in echt wäre? Am liebsten würde er mit ihr ein Duett singen. Wenn er sich denn trauen würde, vor ihren Ohren den Mund aufzumachen. Vermutlich konnte er nicht mal ein Hallo herausbringen, sollte er ihr je begegnen.
Er dachte an das Geld, das er hinter seinen Sweatshirts verwahrte. Ob es schon reichte, zu ihrer nächsten Tournee?
Mist auch, dass es hier keine bezahlten Arbeiten gab. Sonst hätte er sich gerne was dazu verdient. Im Klassenvergleich war sein Taschengeld ganz schön jämmerlich.
Sein Alter war Pilot. Also bis vor drei Jahren. Aber so ein Frühpensionär, der kriegt ja auch noch ordentlich was. Geizhals. Julian trat wieder gegen die Hantel.
Als sie sich nicht bewegte, stand er auf und zog sein T-Shirt aus. Dann nahm er die Hantel auf und machte ein paar Flyings und Reverse-Flys mit einer kleineren Hantel. Wenn er noch in der Stadt leben würde, könnte er in einem Fitness-Studio arbeiten.
Er ließ sich lustlos auf einen Sessel fallen und legte die Beine über die Armlehne. Las noch ein paar Spanisch-Vokabeln, bevor er wieder ein Musikvideo von Sarah O. anschaute.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. "Hast du mal eben Zeit?" Seine Mutter stand im Zimmer und runzelte die Stirn, als sie das Shirt auf dem Fußboden sah. "Was machst du denn da? Hast du schon deine Hausaufgaben fertig?"
Julian stöhnte. "Ja, vor Jahrhunderten, wenn du es wissen willst. Der höfliche Mensch klopft übrigens an. Ist ja meine Privatsphäre hier."
"Ach." Kopfschüttelnd fegte seine Mutter die Kritik ihres Sprösslings beiseite. "Also du hast Zeit, wie ich sehe. Du könntest mir mal eben helfen. Mein Computer ..."
Schon wieder? Die Alten haben ja doch keine Ahnung. Wie oft sollte er noch bei ihren ständigen IT-Problemen helfen? Julian stöhnte. Andererseits hatte er wirklich nur Langeweile. "Okay." Widerwillig stand er auf und folgte ihr ins Erdgeschoss.
Samstagabend und er freute sich auf Montag!
Wenn er sich wenigstens für Spiele begeistern könnte. Aber die waren ihm immer schnell langweilig. Er musste sich zwingen, sich auf dem Laufenden zu halten - um mitreden zu können. Seine Freunde glaubten, er sei der totale Freak. Immerhin eignete er sich genug Kenntnisse an, um die Rolle auszufüllen. In Wirklichkeit fand er es weit interessanter, die Codes zu knacken und sich frühzeitig frei schalten zu lassen.
Da es mehr oder weniger das einzige Vernünftige war, das er hier draußen tun konnte, hatte er schon jede Menge Erfahrung gesammelt. Auch die eine oder andere Programmiersprache angeeignet. In der Schule konnte ihm niemand mehr etwas beibringen.
Einige Jahre später, noch nicht ganz das Abi in der Tasche, stellte er fest, dass er auch an der Uni nicht wirklich auf Herausforderungen stieß. Oder auf geeignete Kurse, in denen sich etwas lernen ließ. Ziemlich langweilig, aber er musste die Veranstaltungen besuchen, um die Scheine zu erwerben. Nebenbei begann er schon mal mit seiner Doktorarbeit. Auch erlaubten ihm seine Kenntnisse lukrative Jobs.
Das Geld investierte er in das, was sich wirklich lohnte: Partys und Gesangsstunden.