Lisa war ein leicht pummeliges Mädchen, dem stets kleine Missgeschicke passierten. So hatte sie früh den Ruf des Tolpatsches der Familie weg. Egal, wie sie später auf ihre Figur achtete, obwohl sie eigentlich ganz hübsch und auf jeden Fall freundlich war, wurde sie viel belächelt. Das prägte ihr Selbstbild so tief, dass sie sich am liebsten zurück hielt und nicht gerne in Gesellschaft ging. So mied sie Feiern aller Art und lud auch nicht gerne andere Kinder zu ihrem Geburtstag ein.
Dafür entdeckte sie ihr Talent für Sprachen. Es fiel ihr leicht, sich durch anschauen von Videos, durch Nachsprechen von digitalen Wörterbüchern, durch Anschauen von ihren Lieblingsfilmen in anderen Sprachen, diese zu lernen. Von den meisten schnappte sie nur ein paar Brocken auf. Aber Englisch, Französisch und Griechisch sprach sie noch vor ihrem Abitur ganz ansehnlich.
Der Ruf als Tolpatsch blieb an ihr haften. In Handarbeiten war sie eine Niete. Sie selbst bevorzugte den Ausdruck "clumsy", um diese linkische Art zu beschreiben. Das behielt sie jedoch für sich.
Da sie kaum Bindungen in ihre Heimat hatte, machte sie sich daran, Chinesisch zu studieren. Das erwies sich als schwieriger, als geplant. So beschloss sie, ein Semester nach Peking zu gehen.
Dort entdeckte sie die Sitte, dass Tai Chi-Lehrer sich einfach in Parks stellten und Übungen vormachten. Jeder, der wollte, konnte teilnehmen. Das wurde auch viel gemacht. Da hier nicht geredet wurde, probierte auch Lisa diese langsame Sportart aus. Sie gefiel ihr gar nicht schlecht. Diese weichen, fließenden Bewegungen waren für sie zwar eine Herausforderung. Aber die Wortlosigkeit, die Ruhe gefielen ihr richtig gut. Mit der Zeit merkte sie, wie ihr Körpergefühl immer besser wurde.
Aus dem geplanten einen Semester wurden drei Jahre, in denen sie auch dolmetschte und Deutsch unterrichtete. Immer noch kannte sie wenig Menschen, aber dafür blieb sie am Tai Chi Training dran, suchte sich einen Meister aus und ging zu ihm ins Doyo.
Schließlich kehrte sie in ihre Heimat zurück. Dort begann sie, neben ihren Übersetzer- und Dolmetscherarbeiten, auch Tai Chi zu unterrichten.
"Das sieht so elegant bei dir aus", meinten ihre Schüler begeistert.
Lisa lächelte.