Hat dich die Musik angelockt, kleine Mücke?
Ich hoffe, sie ist dir nicht zu laut. Aber wir müssen diese letzte Gelegenheit nutzen. Bevor der frühe Winter die Welt zum Schlafen legt und wir die Totenstille einhalten müssen. Bevor kein Gesang und keine Melodie mehr angemessen ist, wenn die Welt den Atem anhält.
Ich weiß, kleine Mücke: Deine Heimat sind die Winde über eisigen Seen. Aber du musst verstehen, nicht jedes Insekt kann die Kälte ertragen. Es naht die Stunde, da die Bienen sich zusammenkauern und nie wieder in die Lüfte erheben. Die Stunde der verstummenden Grillen und der Tag der letzten Schmetterlinge. Wenn jeder noch so große Ameisenhügel unter einer zentimeterdicken Schicht aus Schnee und weißer Asche begraben wird.
Ich? Oh, nein, mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin hier, beim Schallplattenspieler, und werde lediglich zusehen. Hier, wo Kälte und Wind mich nicht erreichen.
Spitze die Ohren, kleine Mücke. Vielleicht kannst du es hören, durch das Glas der Scheibe, die Insekten von Betrachtern trennt.
Hörst du es? Ferne Klänge wie ein Flüstern im Wind oder Tränen im Regen?
Oder … wie ein Feuer in der Sonne?
Keine Sorge, du wirst das Lied noch deutlicher hören. Dann, wenn alles brennt und alles fällt. Wenn die Slow-Motion einsetzt, wenn klar wird, dass alles verloren ist, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Jener Moment, in dem man lediglich die Augen schließen kann, weil es keinen Gewinn mehr bringen kann, weiterzukämpfen.
Dann wirst du es hören, klar und deutlich, die Klänge, zu denen die Welt fällt.
And it’s all over now, Baby Blue …
~*~
„Alles in Ordnung?“, fragte Lars, als Thomas die Treppe hinauf kam.
„Hmm“, brummte Thomas unbestimmt und ging an seinem Freund vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Verwundert sah Lars ihm hinterher. So schweigsam kannte er Thomas nicht. Doch bevor er sich entscheiden konnte, ob er mit ihm reden oder ihn in Ruhe lassen sollte, nahm Thomas ihm die Entscheidung auch schon ab: Er trat in die kleine Besenkammer und schlug die Tür hinter sich zu.
Lars hob die Augenbrauen und sah zu, dass er sich um die vielen Gäste kümmerte, die sich im Studio drängten. Thomas wollte er heute lieber nicht mehr in die Quere kommen.
Thomas Goldschmidt dagegen stand in der dunklen Besenkammer. Spinnweben legten sich auf sein Gesicht. Er versuchte, seinen heftigen Atem zu beruhigen und presste die Hände auf die Ohren. Am allerliebsten würde er laut schreien. So laut er nur konnte, bis sich diese ganze vertrakte Situation von selbst in Luft auflöste.
Dann kam ihm eine bessere Idee.
Er fummelte das Handy aus der Hosentasche und suchte nach den zuletzt getätigten Anrufen. Der Akku besaß nur noch zwei Balken, aber darum musste er sich eben später kümmern.
Er musste nicht lange scrollen, die Nummer, die er suchte, befand sich ganz oben. Er drückte darauf und wartete auf das Tuten.
„Ja, hallo? Simon Baker? … Wunderbar, hier ist Thomas Goldschmidt von ‚The golden Talk‘. Du musst mir einen Gefallen tun …“
~*~
Er konnte sich nicht erinnern, wann zum letzten Mal jemand außerhalb der Gemeinschaft seine Nähe gesucht hatte. Für gewöhnlich stieß Ruben auf Unverständnis, Spott oder wurde sogar beschimpft.
Für einen Moment erstarrte er, während ihm unzählige Gedanken durch den Kopf rasten. Das hier, da war er sich sicher, war eine Seele, die er noch vor dem Weltuntergang zum Herrn führen konnte. Als ergriff er Ethans Hand. „Gerne.“
Der Andere lächelte erleichtert. „Dann pack deine Sachen! Morgen geht es los.“
~*~
Der Wind schüttelte die Maschine. Riikka hatte nie zu Flugangst geneigt, doch sie spürte ihren Magen immer tiefer sacken, während Musa den Steuerknüppel umklammerte.
Jochen hielt sich ebenfalls an den Lehnen der klapprigen Sitze fest. Er war blass geworden und sah ungefähr so ängstlich aus, wie Riikka sich fühlte.
Musas Flugzeug war kein Passagierjet, sondern eine kleine Maschine, die nicht für neun Personen gedacht war – und erst recht nicht für deren Gepäck. Es gab sechs Sitzplätze, die beiden Pilotensitze eingeschlossen. Doch Enrico, Hazel, Lin und Fran mussten ohnehin auf dem Boden liegen. Die ersten drei, weil sie ohnmächtig waren oder erschöpft schliefen und Fran, weil sie immer noch keinen Rollstuhl für sie hatten.
Wenigstens wären sie bald in Sicherheit, so hoffte Riikka wenigstens.
Wieder schaukelte das winzige Flugzeug in einem Luftloch. Nurrudin, der auf dem Co-Pilotensitz kauerte, kaute nervös auf der Unterlippe. Als er Riikkas Blick bemerkte, drehte er sich leicht und verzog die Lippen zu einer Grimasse, die man nur mit etwas Fantasie als Lächeln erkannte. Die Trenntür zu den Piloten fehlte – falls es jemals eine gegeben hatte, sicher war Riikka da nicht – und so konnte sie die Schweißperlen im Nacken von Musa zählen.
Die Anonymität in großen Jets war in gewisser Weise wohl doch ein Segen …
„Lin!“, schrie Fran unvermittelt, worauf Riikka und Jochen herumwirbelten. Rita, die zusammen mit Jochen die beiden vorderen Passagiersitze belegte, reagierte nicht. Sie tastete zum wiederholten Mal unter ihrem Sitz, auf der Suche nach einer Flasche Alkohol. Auch sie schwitzte und strömte einen säuerlichen Gestank aus, weshalb Riikka hinter Jochen saß.
Jetzt sprangen sie beide auf und eilten zu Fran. Das Flugzeug schaukelte bei dem sich verändernden Gewicht.
Fran zitterte. „Sie atmet nicht! Tut doch was!“, rief sie hysterisch.
„Alles gut!“ Jochen kniete sich neben die Rollstuhlfahrerin und versuchte, sie zu beruhigen. Fran schlug auf ihn ein, aber er konnte sie weit genug von Sun Lin wegziehen, dass Riikka sich über die Schülerin beugen konnte.
Sie tastete über den Hals der Chinesin und suchte einen Puls. Dann suchte sie Am Handgelenk und schließlich legte sie das Ohr auf den bereit kühler werdenden Brustkorb und versuchte, über dem Lärm des Flugzeugmotors noch einen Herzschlag zu hören.
„Bitte …“, schluchzte Fran leise.
Riikka stemmte sich in die Höhe und fing einen fragenden Blick von Nurrudin auf.
Sein Kiefer spannte sich, als er die Zähne aufeinanderpresste. Riikka hörte, wie er Musa zuflüsterte: „Schneller.“
Für Sun Lin war es bereits zu spät – aber ein wenig Hoffnung bestand noch für den Rest.
~*~
„Dann sollen wir schnell machen“, entschied Iris und stieg über die heruntergefallenen Ziegel.
„Warte!“, rief Juan, aber sie schlüpfte bereits durch die Tür in den Laden. Die Decke krachte ihr nicht sofort auf den Kopf, also schnappte sie sich einen der Einkaufskörbe und begann, so viel Zeug wie möglich einzupacken. Fluchend folgte der Gansterboss ihr.
Iris erfüllte sich einen Lebenstraum und kippte die halben Süßwarenregale in ihren Korb. Juan trat zu dem Gang mit Windeln und füllte seinen Korb verantwortungsbewusst mit Babynahrung. Nachdem er das rausgebracht hatte, kam er zurück und betrat den Gang mit haltbaren Lebensmitteln. Seine Leute hatte er angewiesen, draußen zu warten.
Iris hörte ein beunruhigendes Knirschen von oben. Sie klemmte sich den Korb unter den Arm. „Okay, raus hier!“
Juan nickte und griff nach weiteren Dosen.
Putz bröckelte von der Decke. Dann folgte ein lautes Krachen und Staub wallte in den Verkaufsraum.
Iris rannte blindlings zur Tür. Sie schmeckte den weißen Staub in der Luft und hörte das Rumpeln, mit dem schwere Brocken links und rechts von ihr auf die Regale stürzen. Ein großer Brocken dellte das Regal neben ihr ein und die Chipstüten darin platzten mit einem Knall.
Iris stürmte durch die Tür, wo sie gemeinsam mit den Gangstern zurückwich. Ein Blick zurück zeigte ihr eine gewaltige, weiße Wolke, die sich auftümte.
Als der Staub sich legte, war vom Supermarkt nur noch ein Haufen Gestein übrig, vor dem noch die Windeln und Juans Korb mit Babynahrung standen.
Von Juan war nichts zu sehen.
~*~
Am nächsten Morgen, als er in der kalten Morgenluft fröstelte und versuchte, die pochenden Kopfschmerzen der Müdigkeit wegzumassieren, bereute Ruben seine Entscheidung bereits. Er wollte eigentlich nicht fort aus dem Lager, Schreckensvisionen vom Verlaufen oder den Angriffen wilder Tiere hatten ihn einen Großteil des Schlafs gekostet. Dabei schlief er hier ohnehin nicht gut. Er hatte nur einen feucht riechenden Schlafsack in einem Gemeinschaftszelt, das er sich mit anderen seiner Brüder teilte.
Er vermisste seine Matratze.
Aber was tat man nicht alles, um eine einzelne Seele vor der Verdammnis zu bewahren? Dass er mit Ethan aufbrechen würde, hob seine Laune ein Stück. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, die ausgestreckte Hand Gottes vor sich zu sehen, die ihm einen Wink gab, Ethan zu bekehren.
Und Ethan hatte ihn gebeten, mitzukommen. Er war definitiv nicht abgeneigt.
Allerdings verspätete Ethan sich. Als Ruben schon fest damit rechnete, dass ihm wieder mal ein dummer Streich gespielt worden war, kam Ethan endlich angerannt.
„Sorry! I didn’t get a backpack in time.“ Erklärend deutete Ethan auf seinen Ruck. „Den ich bekommen hab, hatte ein Loch, und ich musste … err …“ Er schnippste, während er das richtige Wort suchte. „Umpacken!“
Ruben lächelte, froh, dass er nicht umsonst gewartet hatte. „It’s okay, don’t worry about it.“
Ethan atmete durch und überprüfte, dass er alles hatte, ehe er nickte.
„Bereit! Wo gehen wir lang?“
Ruben zögerte. „Ähm …“
„They said we should … err, wir sollten am Meer entlang oder uns Wege markieren.“
„Dann … Meer“, entschied Ruben, der bereits vor sich sah, wie sie in der Wildnis herumirren würden, wenn sie den Rückweg nicht finden konnten. Wenn sie einfach dem Strand folgten, konnte das nicht passieren.“
„Dann dort lang.“ Ethan wies einladend auf die Küstenlinie. „Ich liebe das Meer.“
Sie setzten sich in Bewegung. Ethan schritt beschwingt aus, während Ruben zwar tagelange Fußmärsche gewohnt war, allerdings in Innenstädten und nicht auf Sand. Schweigend versuchte er, Schritt zu halten, als Ethan sein Tempo auch schon drosselte.
„Ich war oft an dem Meer. Zuhause in California. Ich liebe surfen und schwimmen.“ Ethan sah Ruben an. „Und du?“
„Ab und zu mal im Urlaub“, gab Ruben zögerlich zu. „In Holland, das ist nicht weit weg, oder auf Usedom. Aber ich habe meistens einfach am Strand gelegen. Und natürlich mit Menschen reden.“
Er schielte zu Ethan. Mit dessen sportlichen Hobbys konnte er nicht mithalten. Er hatte nur einmal auf einem Surfbrett gestanden – nun, gelegen und sich festgeklammert. Und das war als Kind gewesen, als ein Freund der Familie versucht hatte, ihm die Freuden des Wassersports nahezubringen. Vorher hatten sie eine Dokumentation über die faszinierende Riffwelt gesehen und Ruben hatte noch einige Tage später Alpträume mit Muränen und anderen unheimlichen Fischwesen gehabt.
Ethan schien deswegen allerdings nicht schlechter von ihm zu denken. „Das ist sicher auch schön und entspannend.“
Ruben grinste und begann, von seinem ersten und einzigen Surfausflug zu berichten, worauf Ethan lauthals lachte.
„Die Fische sind auch gruselig. Ich verdränge die immer.“
„Aber es gibt giftige und welche mit Stacheln …“ Ruben schüttelte sich.
„Die meisten sind aber völlig harmlos. Die gefährlichen trifft man sehr selten, die meisten Menschen sehen so einen Fisch nie in ihrem Leben.“
„Ja, weil die vernünftig sind und an Land bleiben!“, sagte Ruben.
Ethan lachte erneut. „Es passiert viel eher, dass man von einer Kokosnuss erschlagen wird.“
„Die gibt es an der Ostsee nicht. Zum Glück.“ Ruben grinste ebenfalls. Er hatte im Hinterkopf, dass er das Gespräch bei Gelegenheit in die richtige Richtung (zu Gott) stupsen sollte, aber im Moment genoss er es einfach, mit dem Anderen herumzuwitzeln. Im Vergleich zu Rubens Geschwistern vor dem Herrn war Ethan erfrischend anders.
~*~
„Tja, hilft wohl alles nicht“, brummte Seth und hieb ein letztes Mal auf die Hupe.
Jayden öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Die Schlange vor ihnen bewegte sich kein Stück. Bis auf ein paar Fahrzeuge von Neuankömmlingen, genauso gestrandet wie sie, waren die Autos offenbar alle verlassen.
Als er damit begann, eine ihrer Taschen aus dem Wagen zu holen, bemerkte er die Seitenblicke der anderen Menschen. Es waren ein Dutzend bei ihnen gestrandet. Eine siebenköpfige Familie, mit vier Kindern und offenbar der Oma, und zwei Gruppen aus jungen Männern, insgesamt fünf. Insbesondere die kleinere davon wirkte durchaus gewaltbereit.
Jayden hatte mit der Zeit gelernt, Menschen zu lesen. Nicht nur wegen seiner Arbeit als Arzt oder um als Kind die Launen seiner Mutter vorauszusehen, sondern in erster Linie, weil man nie sicher sein konnte, wann junge Kerle wie diese auf die Idee kamen, sich beweisen zu müssen.
Diese Gruppe wirkte jedoch nicht so sehr testosteron- als hungergesteuert. Menschen in Extremsituationen waren eine gänzlich andere Klientel.
Jayden packte einige Dosen um und füllte drei Beutel mit verschiedenen Lebensmitteln. Dann nahm er jeden in die Hand und trat auf die Familie zu.
„Hier.“ Er reichte ihnen den größten Beutel.
„F-für uns?“ Die Frau sprach mit einem deutlichen, osteuropäischen Akzent. Ihr Mann stand mit verständnislosem Blick daneben, allerdings in einer Haltung, die deutlich machte, dass er seine Familie notfalls verteidigen würde.
Jayden lächelte beruhigend – er wusste, dass er einen nicht gerade unbedrohlichen Eindruck machte – und stellte die Tasche ab, ehe er die anderen beiden an die jungen Männer ausgab.
Die Dreiergruppe riss die Tasche sofort auf und suchte etwas, das sich auf die Schnelle verzehren ließ, aber die Zweiergruppe nahm sich die Zeit, Jayden zu danken.
„Nichts zu danken.“ Er winkte ab. Immerhin hatte er es nicht aus Freundlichkeit getan.
„Was tust du?“, fragte Seth ihn gereizt, als Jayden zurückkam. Der Dunkelhaarige saß auf der Kante des offenen Kofferraums und funkelte zu den anderen Menschen herüber, die ihre Vorräte verstauten.
„Keine Panik, wir haben noch genug übrig.“ Jayden ergriff endlich die Tasche, nach der er gesucht hatte, und reichte Seth eine Packung Erdnüsse. „Wie viel Benzin haben wir noch?“
„Wenn der Highway offen wäre, hätte ich gesagt, mach dir keine Gedanken“, brummte Seth. „Aber ich hab keinen Plan, wie viele Tankstellen es an den Landstraßen gibt, wenn wir einen Umweg nehmen.“
Jayden unterdrückte ein Seufzen. Das hatte seine eigentliche Frage – ob sie direkt zur Tankstelle sollten oder lieber erst einmal fahren – natürlich nicht beantwortet. Vermutlich wäre es sicherer, sich einfach zuerst im Benzin zu kümmern.
Ein weiteres Auto rollte an das Ende der Schlange.
Jayden schnappte sich eine weitere Tüte Nüsse. „Steig ein. Lass uns fahren, bevor wir hier noch blockiert werden.“
Seth machte Anstalten, zum Fahrersitz zu gehen.
„Nein, lass mich fahren. Wir wechseln uns ab“, schlug Jayden vor. Seth nickte, umrundete das Auto und warf sich auf den Beifahrersitz. Noch bevor Jayden den Kofferraum geschlossen hatte und eingestiegen war, befand sich Seth mit geschlossenen Augen auf dem Weg ins Land der Träume.
Vermutlich, um seinen Rausch endlich richtig auszuschlafen. Jayden sah es als Bestätigung seiner Beobachtungen und begann, den Wagen zu starten.
~*~
Iris räusperte sich. „Jungs … wir sollten los.“
Inzwischen senkte sich die Nacht über das verlassene Dorf. Die Gangster hatten den ganzen Tag über verzweifelt versucht, ihren Boss auszugraben.
Doch Juan hatte auf keinen ihrer Rufe geantwortet. Sie hatten einen Großteil der Trümmer an die Seite geräumt und immer noch keine Spur entdeckt, damit war der Fall für Iris klar. Sie hatte sich geduldet. Insbesondere Fernando hatte nicht aufgeben wollen.
Jetzt knurrte Hector: „Ich gebe hier die Befehle!“
„Wir sollten trotzdem los“, antwortete Iris.
Sie konnte sehen, wie Hector versuchte, ihre zu widersprechen, einfach nur, um nicht auf sie hören zu müssen.
„Ich meine, es ist nur ein Vorschlag“, sagte sie achselzuckend.
„Wir brechen auf“, entschied Hector.
Felipe, Fernando und Mateo traten von den Trümmern zurück. Fernando hob Lina auf, die er auf einigen Decken auf dem Beifahrersitz ihres Autos abgelegt hatte.
Mateo nahm wie immer den Fahrersitz und Hector setzte sich auf den Beifahrersitz. Als Felipe und Fernando hinten einstiegen, winkten sie Iris.
Die schüttelte den Kopf. Eng gedrängt zwischen zwei Kerlen und einem sabbernden Kleinkind auf der Rückbank zu sitzen war nicht unbedingt ihre Vorstellung einer tollen Reise. Da nahm sie lieber die Kälte in Kauf, also kletterte sie hinten zu ihren Vorräten.
Einen Teil der Süßwaren hatte sie auf der Flucht zwar verloren, aber es waren noch genug da, um sich einen Riegel gönnen zu können.
Mateo startete den Motor und der Geländewagen erwachte leise knurrend zum Leben. Dann setzte er sich in Bewegung. Trümmer knirschten unter den Reifen. Durch die hintere Scheibe konnte Iris sehen, wie Felipe sich erneut Tränen aus den Augen wischte.
Diese Gangster taten immer hart und unnahbar, aber Juans Tod hatte alle bis auf Hector in Schuljungen verwandelt, die ihre Mami im Supermarkt verloren hatten. (Tatsächlich eine nur wenig metaphorische Tatsache.)
Sie hörte Hector innen mit Mateo und Fernando diskutieren. Den wenigen Worten nach, die Iris aufschnappte – und das meiste war Spanisch – ging es darum, ob sie Juans Plan folgen und zu Chiara Moretti fahren sollten. Hector war dafür, die Anderen wollten offenbar in der Nähe bleiben und am nächsten Tag weitersuchen.
Iris lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe des Rückfensters und sah in den Sternenhimmel. Obwohl sie bald ziemlich schnell fuhren, bewegten sich die Sterne kein Stück, unbeeindruckt von dem Kampf der winzigen Lebensformen auf einer einsamen Kugel im Weltall. Iris hatte den Anblick der Sterne schon immer beruhigend gefunden. Es half ihr, sich zu erinnern, wie klein, unbedeutend und sterblich die Menschen doch waren. Sie glaubte fest an den Determinismus, was bedeutete, dass sie keine Verantwortung für Juans Tod übernehmen musste. Er war ihr freiwillig gefolgt und immerhin hatte sie ihn gewarnt – er hatte entschieden, bei den Dosen noch einmal zuzugreifen.
Pech eben. Aber keine Schuld.
Der Wagen bremste. Dann stieg Hector aus und zündete sich eine Zigarette an.
„Was ist los?“, fragte Iris.
Hector stieß Rauch aus und sah sie genervt an, ehe er sich zu einer Antwort herabließ. „Wir sind nicht sicher, wo diese Moretti lebt.“
„Na toll.“ Iris seufzte.
„Sie kommt eigentlich aus Rom, aber sie hat hier irgendwo ein Sommerhaus oder so einen Scheiß“, sagte Hector. „Entweder in Terrassa oder in Mataró.“
„Aha“, machte Iris. Beide Orte sagten ihr nichts.
„Du hast also auch nicht richtig zugehört“, schlussfolgerte Hector. „Dann müssen wir gucken, wohin wir uns durchschlagen.“
Er zog nochmals an seiner Zigarette und sah in die Sterne. „Verfickte Scheiße.“
~*~
Sie kletterten über einen felsigen Hang, eher eine Schottergrube, die am oberen Ende mit Gras bewachsen war. Ethan hatte sich die Reise am Strand entlang irgendwie leichter vorgestellt. Doch nachdem die Flut ihnen die Füße genetzt hatte, waren sie auf das strandnahe Land ausgewichen, und dieses erwies sich zunehmend als unwegsam.
Ethan stand auf der grasigen Kuppe und streckte Ruben die Hand entgegen, um ihn das letzte Stück hinaufzuziehen.
„Vielleicht sollten wir umkehren“, schlug der Amerikaner vor und ließ den Blick über die zerklüftete Landschaft vor ihnen schweifen.
Sein Begleiter stützte sich keuchend auf die Knie.
„Lass und noch bis dort zum Baum gehen. Aber weiter könnten wir eine große Gruppe ohnehin nicht führen. Dazu ist der Weg zu schwierig.“
Ruben nickte und richtete sich auf, als er langsam zu Atem kam. „Klingt gut.“
Ethan sprang von dem Hügel hinunter in das nächste Tal und begann, sich durch einige Büsche zu wühlen. Ein Vogel flatterte erschrocken davon.
Er hörte, dass Ruben ihm folgte. „Das Gelände ist wirklich zu schwierig. Wir haben ja auch Kinder und einige Verletzte.“
Etwas Gelbes fiel Ethan ins Auge. Er hielt an und reckte den Kopf, ehe er es erkannte: Eine gelbe Warnweste, mitten in dieser unwegsamen Ödnis! Sie hing an einer dünnen Stange aus Plastik, wie eine Fahne. Das helle Gelb war mit Blutspritzern gesprenkelt.
„Nee, hier kämen wie niemals alle her.“
„Ruben!“, zischte Ethan. „Leise.“ Er deutete auf die Fahne. „Da vorne.“
Ruben verstummte und starrte die merkwürdige Fahne an.
~*~
„Warum hältst du?“, fragte Seth schlaftrunken, als Jayden den Motor ausstellte.
Jayden zog die Handbremse an. „Tanken.“ Er nickte nach vorne. Dort, etwa hundert Meter vor ihnen, führte die Straße an einer Tankstelle vorbei.
„Der Schlauch reicht wohl kaum bis hier“, brummte Seth und setzte sich auf. Er verengte die Augen. „Wer sind die Kerle?“
„Genau das überlege ich auch.“ Jayden stütze sich auf das Lenkrad und duckte sich leicht, um bis zur Tankstelle zu sehen. Dort parkten mehrere Motorräder neben zwei Pickups. Die Fahrer saßen auf dem Boden und schienen zu picknicken. Jedenfalls sah es nicht so aus, als würden sie bald weiterfahren. Es waren allesamt weiße Kerle und sie sahen aus wie ein Motorradclub. Jayden war also nicht gerade scharf darauf, zu ihnen zu fahren.
„Fahren wir weiter. Ein Stück schaffen wir noch“, schlug er vor.
Seth knurrte unwillig. „Von den Idioten lassen wir uns nicht einschüchtern.“
„Ich weiß nicht.“ Jayden zählte stumm. „Das sind fast zwei Dutzend.“
„Was sollen die schon tun? Es ist genug Benzin für alle da.“
Jayden zögerte. War er zu vorsichtig?
~*~
Die Sonne ging bereits zum zweiten Mal unter und es wurde kalt. Gordon fand es kälter als in der letzten Nacht. Sein Magen knurrte und er war verschwitzt und erschöpft.
Eigentlich hätte er, seinen Berechnungen zufolge, bereits gestern ein Dorf erreicht haben müssen, ein kleines Fischerdorf. Ein Mensch konnte 50 Kilometer am Tag schaffen. Und obwohl er sich kaum eine Pause gönnte und sich unermüdlich vorwärts schleppte, hatte er noch immer kein Haus gesichtet. Dabei hatte er am Morgen ein Schild gesehen, auf dem ein Name und darunter die Angabe von 25 Kilometern stand. Eigentlich hätte er am Mittag dort sein müssen.
Nun spürte er seinen Mut sinken. Eine weitere Nacht in der Wildnis wäre schrecklich. Er fand nur noch wenig Schlaf, sein gesamter Körper juckte vor Dreck.
Erschöpft hob er den Blick – und entdeckte Lichter in der Ferne.
Das Dorf! Gordons Schritte beschleunigten sich, jedoch nur für einige Meter. Er seufzte auf. Das Dorf war noch weit entfernt. Bestimmt … nein, er war zu müde, um es zu schätzen. Verzweifelt überlegte er, ob er nicht doch in der Wildnis rasten sollte. Jeder weitere Schritt war eine Qual. Seine Füße hatten Blasen und seine Muskeln schmerzten.
Aber erneut in Kälte und Dreck schlafen, zum Vergnügen der Mücken?
Er kämpfte sich vorwärts, vor Erschöpfung den Tränen nah. Nach einer Weile fand er immerhin eine Straße, der er folgen konnte.
Mit aller Macht wünschte er sich ein Auto herbei, das ihn mitnehmen würde. Irgendjemanden, der sich seiner erbarmte.
Die Anderen zu verlassen, war eine dumme Entscheidung gewesen.
~*~
Der nächtliche Flughafen besaß eine merkwürdige Atmosphäre.
Es war ein kleinerer Flughafen, der nur eine einzige Landebahn hatte. In einem Hangar parkten einige kleine Sportflugzeuge, doch es schienen mehrere Maschinen zu fehlen. Niemand hatte ihre Ankunft bemerkt und ihnen Landeerlaubnis erteilt, doch Musa hatte das Flugzeug dennoch gelandet.
Sie hatten eine Weile gewartet und aus den Fenstern auf die dunkle Landebahn gespäht, bis schließlich ein wagen vorgefahren war.
Der Mann, der ausstieg, war mit Musa über mehrere Ecken verwandt. Der Sohn der Schwägerin seines Onkels oder etwas Vergleichbares – Riikka hatte es sich nicht gemerkt.
Er sah sich kurz um, entdeckte die Maschine und eilte zu ihnen.
„Milan!“ Musa begrüßte den jungen Mann grinsend. Milan war schlaksig, hochgewachsen und hatte unordentliches, braunes Haar und tiefe Ringe unter den Augen. Er trug einen zerknitterten Arztkittel.
Nachdem er den Anderen kurz zugenickt hatte, kniete Milan sich neben die Verletzten. Über Sun Lin hatten sie eine schmutzige Decke gezogen. Milans Blick huschte zu der Toten. „Die Friedhöfe sind voll, aber ihr solltet sie hier beerdigen.“
Fran wimmerte leise. Riikka nickte. Natürlich. Eine Tote im Flugzeug konnte für Krankheiten sorgen.
Milan zog Enricos Verband ab. Ein furchtbarer Gestank erhob sich im Flugzeug. Der Beinstumpf war grellrot, die Wunde selbst schwarz verkrustet und gelb umrahmt. Milan drückte auf die Wunde, worauf Enrico im Schlaf aufschrie und Eiter aus der Kruste brach.
„Entzündet“, teilte er ihnen auf Englisch mit. Er wühlte in einer Tasche. „Ich habe zwei Antibiotika mitnehmen können, die müsst ihr ihm spritzen.“
Er hielt die Spritzen hoch. Riikka nahm sie entgegen und kniete sich neben den Italiener.
Milan beugte sich als nächstes über Hazel. Die Finger an ihrem Handgelenk und den Blick auf die Uhr maß er ihren Puls. Dann hob er ihre Lider an.
„Hmm …“
Er untersuchte sie weiter, während Riikka die erste Spritze nahm und in Enricos Bein schob. Sie hoffte auf das Beste und drückte den Inhalt hinein.
Milan kam zu ihr und beugte sich mit einem Skalpell über die entzündete Wunde. Er schnitt sie auf, fing die auslaufenden Flüssigkeiten auf und schnitt schwarz verfärbtes Fleisch zurück. Er holte frisches Verbandszeug und Desinfektionsmittel aus seiner Tasche, um die Wunde neu zu verbinden. Riikka hörte ein Würgen hinter sich. Wer das war, konnte sie nicht sehen. Sie selbst stemmte sich auf Enricos Schultern, falls er genug Kraft aufbringen könnte, um sich zu wehren.
Als er fertig war, ging Milan wieder zu Hazel und sah sie ratlos an. „Sie ist vergiftet, glaube ich. Wisst ihr, ob sie von irgendwas gebissen wurde? Eine Schlange?“
Riikka schüttelte den Kopf. „Wir waren am Strand. Da waren keine Schlangen.“
„Im Wasser? Vielleicht eine Qualle oder ein Rochen.“
„Sie ist Australierin“, mischte sich Jochen ein. „Die kennen sich doch mit so Gifttieren aus!“
Milan rieb sich das stoppelige Kinn und unterdrückte ein Gähnen. Riikka fragte sich, wann der junge Bursche zuletzt geschlafen hatte. Von Musa wusste sie, dass die Krankenhäuser hoffnungslos überfüllt waren. Hazel hätte man dort nicht aufgenommen, weshalb Milan sich mit einigen gestohlenen Sachen rausgeschlichen hatte, um ihnen zu helfen.
„Ich habe drei Gegenmittel dabei, die gebe ich euch. Aber wenn wir nicht wissen, was sie vergiftet hat, stehen die Chancen schlecht, dass wir irgendwas tun können. Sie muss in ein Krankenhaus. Schnell.“
„Weißt du von irgendeinem, das noch Personen aufnimmt?“, fragte Musa.
Milan seufzte. „Versucht es in Deutschland oder Frankreich. Aber wir kriegen kaum noch Nachrichten rein. Tut mir leid.“
Er stand auf, drückte ihnen drei Fläschchen und weitere Verbände und Mittel aus seiner Tasche in die Hände und wandte sich zum Gehen. „Viel Glück.“
„Das ist alles?“, fragte Fran. „Mehr gibt es nicht?“
„Mehr kann ich leider nicht ausrichten“, murmelte Milan leise. „Ich bin auch nur Auszubildender und drüben gibt es noch genug Leute, die mich brauchen.“ Er trat zur Tür. „Begrabt eure Freundin, und dann fliegt weiter.“