Heyho!
Ich bin diesen Monat nicht ganz fertig geworden. Die restlichen Sichten kommen hoffentlich im Laufe der nächsten (zwei?) Wochen, bis dahin kriegt ihr aber schon mal alles, was ich bisher habe!
Die Entscheidungsfristen verschieben sich dann ebenfalls nach hinten und gelten erst ab dem Zeitpunkt, wenn Teil 2 draußen ist.
Euer Grauwolf
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Der Typ mit der Halbautomatik hielt den Blick unverwandt auf sie gerichtet. In Seth tobte ein zorniger Sturm aus Stimmen, entfacht von dem dreckigen Grinsen des Kerls. Der hielt sich für unverwundbar und genoss diese Position sichtlich.
Neben ihm hob Jayden die Hände. „Wir zahlen!“, rief er so laut, dass sie es draußen hören mussten.
Weichei! Es ging Seth langsam auf die Nerven, dass Jayden ständig kuschen wollte.
„Ach ja?“, knurrte er gereizt. „Und womit?“
„Psst!“, zischte Jayden. „Wir brauchen nur eine Minute oder so, um abzuhauen. Lass mich machen.“
Seth umklammerte das Lenkrad. Seine Muskeln schrien förmlich danach, sich bewegen zu dürfen. Wenn er nicht bald jemandem aufs Maul geben konnte …
Er wusste natürlich, dass es vor allem Krieg war, der ihn so aufpeitschte. Doch nicht einmal der Leitwolf Sorkay bemühte sich, die Wogen zu glätten. Sie waren Enila so nah … Und diese Arschlöcher meinten, sich ihm in den Weg stellen zu müssen.
Jayden warf Seth einen Blick zu und schien zu registrieren, dass er die Hand an der Kupplung hatte. Dann senkte der Dunkelhäutige langsam eine Hand und fuhr das Fenster herunter. „Wie viel?“, rief er nach draußen.
Das Grinsen auf dem Gesicht des vordersten Arschlochs wurde noch breiter, als ihm klarwurde, dass sie gewonnen hatten. Er drehte sich und warf den anderen Bewaffneten einen Blick zu. „Hey, Boss, wie viel nehmen wir von Niggern?“
„Jetzt!“, zischte Jayden und suchte nach Halt im Wagen.
Seth ließ die Kupplung einrasten und stemmte sich aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz. „Duck dich!“
Dann krachte das Auto gegen den Bewaffneten mit der Halbautomatik und warf ihn auf die Straße.
Jayden warf den Oberkörper vor und zog die Arme über den Kopf. Seth lenkte den Wagen mit einer Hand auf die Lücke zwischen den LKW zu.
Draußen wurden Flüche gebrüllt. Die Bewaffneten rissen ihre Waffen hoch. Von den Dächern der LKWs und von vorne prasselten Kugeln auf sie ein, durchsiebten die Windschutzscheibe und das Dach. Glassplitter regneten auf Seth, der innerlich endlich völlig ruhig war. Er zog seine 9mm hervor und feuerte durch die nun offene Scheibe nach vorne. Einen der drei Bewaffneten erwischte er, wenngleich er nicht sagen konnte, ob es ein tödlicher Treffer war oder der Mann nur von der Wucht des Schusses umgeworfen wurde. Spielte aber keine Rolle, denn im nächsten Moment wurde er unter dem Wagen zerquetscht, der auch noch den zweiten mitriss. Ein Körper landete vorne auf der Schnauze des Wagens. Einige Blutspitzer regneten auf das Armaturenbrett.
Dann krachten sie in die Absperrung. Der Wagen schien hinten kurz abzuheben, als er so abrupt zum Halten gezwungen wurde. Seth fluchte und hieb brutal den Rückwärtsgang rein.
„Was zur Hölle machst du?“, fuhr Jayden ihn an.
Seth setzte zurück und zielte auf den dritten Bewaffneten am Boden. Ein dumpfer Aufprall. Etwas in ihm lachte überglücklich auf.
Dann wendete er mit quietschenden Reifen und fuhr durch eine enge Lücke hinter den LKW, an der Barrikade vorbei. Verfolgt von pfeifenden Kugeln gab er Gas und rauschte auf den leeren Highway hinaus.
Die meisten Banditen waren in Deckung gegangen, da Seth nicht weiter feuerte und sie zu recht ahnten, dass er die Kugeln für gezielte Treffer aufsparte. Sobald sie jedoch auf den Highway jagten, pfiffen Kugeln hinter ihnen her. Der Wagen erbebte von mehreren Einschüssen. Die Fenster splitterten nach und nach, bis auf eines der hinteren Seitenfenster. Asphalt wurde aufgerissen, als jemand ihre Reifen ins Visier nahm.
Seth trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Jayden war glücklicherweise endlich still. Er kauerte noch immer auf dem Beifahrersitz, die Arme über dem Kopf.
Das Blut pumpte triumphierend durch Seth‘ Adern, als die Sperre hinter ihnen zurückblieb. Die LKWs im Rückspiegel wurden immer kleiner. Der Highway war leer, sodass er einfach fahren konnte. Nach den Schüssen war die Stille, einzig untermalt vom stotternden Brummen des Motors, fast dröhnend laut.
Seth sah zur Seite. „Ey, du kannst wieder hochgucken.“
Jayden rührte sich nicht. Das hieß – er bewegte sich sehr wohl, bebte und zitterte, wiegte sich vor und zurück, aber er reagierte nicht auf Seth.
„Hey!“, rief Seth lauter und rüttelte an Jaydens Schulter. Mit einem Schrei fuhr der Schwarze auf und hieb nach Seth.
„Lass den Scheiß!“ Beinahe hätte er das Lenkrad verrissen. Ihr Wagen fuhr quietschende Schleifen quer über alle Fahrspuren.
„Seth!“ Jaydens Ausruf war mehr ein Ächzen.
„Wir sind durch, du kannst also wieder atmen.“ Seth schnaubte und brachte das Auto unter Kontrolle. „Ich brauch dich. Sieh mal nach, wie viel Schaden die gemacht haben.“
Jayden wirkte etwas orientierungslos, doch er sah sich um und begutachtete die Verwüstung.
„Der Motor klingt nicht gut.“
„Das weiß ich selbst.“ Seth knurrte ungehalten.
„Warum hast du das gemacht? Wir hätten einfach bei der nächsten Gelegenheit fliehen sollen.“
„Damit hätten die doch gerechnet. Wir brauchten das Überraschungsmoment.“ Sein Blut kochte noch immer. Die Stimmen in Seth‘ Kopf schrien durcheinander. Das Brüllen wollte nicht abflauen.
Jayden strich sich über das Gesicht, rieb seine Augen, zog die Haut der Wangen weit herunter.
Der Motor stotterte stärker. Im Rückspiegel erblickte Seth eine dunkle Spur auf dem Asphalt.
„Komm schon“, ermutigte er den Wagen. „Nicht jetzt … halt noch ein bisschen durch …“
„Wenn wir zu Fuß weiter müssen, sollten wir möglichst weit weg vom Highway.“ Jayden hatte sich vorgebeugt und starrte durch die geborstene Windschutzscheibe. „Die werden uns bestimmt folgen. Wir müssen in Gelände, wo sie nicht fahren können.“
Zu beiden Seiten erstreckte sich allerdings nur Grasland, mit einigen fernen Städten am Horizont. Nicht gerade das Pflaster, auf dem man Autos oder Motorrädern entkam.
„Und wir müssen unsere Vorräte zurücklassen. Das können wir niemals alles tragen.“
„Scheiße!“, entfuhr es Seth. „Dann jagen wir den Wagen lieber in die Luft.“
„Bist du …?!“, Jayden fing sich. „Das könnte sogar ganz gut sein. Dann glauben sie vielleicht, wir wären bereits tot.“ Er wandte sich an Seth. „Oh, shit!“
„Na, immerhin leben wir noch. Du kannst mir ruhig mal danken!“
„Seth, du … du blutest!“
Er stockte. Instinktiv berührte er seine Brust und fühlte warme Nässe. Das erklärte dann wohl, warum sein Herzschlag nicht zur Ruhe kam und die Stimmen weiter brüllten, und warum Dunkelheit in sein Sichtfeld kroch.
Dann breitete sich die Schwärze schlagartig aus und Seth vernahm nur noch Jaydens Schrei.
~*~
Schreie füllten das Cockpit. Der Wind riss das kleine Flugzeug so wild herum, dass die Kranken wie Puppen durch das Innere geschleudert wurden.
„Schnallt euch an!“, brüllte Musa nach hinten. Nurrudin an seiner Seite umklammerte die Steuerknüppel und versuchte krampfhaft, die Kontrolle zurückzuerlangen.
Auf Rita wirkte die ganze Situation einfach nur aberwitzig. Solche Szenen gab es doch nur in Filmen, die Sorte, die sie nur sehr selten guckte – wenn es darin um eine Liebesgeschichte ging vielleicht. Hier gab es keinen gutaussehenden Kerl, der sie retten würde. Nur Jochen.
Das Flugzeug warf sich erneut auf die Seite und Fran knallte gegen Rita. Panisch klammerte sich die Rollstuhlfahrerin fest und Rita griff automatisch ihrerseits nach ihr. Ihr Magen rebellierte gegen die Achterbahnfahrt. Dass sie sich tausende Meter in der Luft befanden – daran versuchte sie, nicht zu denken.
Jochen beugte sich vor und zog schwerfällig irgendeinen Gurt um Fran. In ihrer Panik schrie das Mädchen irgendwas auf Englisch.
„Wir müssen runter!“, befahl Musa dem Piloten.
Nurrudin schüttelte den Kopf. „Nein! Wir können bei dem Sturm nicht landen. Wir müssen versuchen, oben zu bleiben.“
„Dann lande halt im Wasser oder so!“, brüllte Musa.
„Hier gibt es keine Wasserflächen.“ Trotz seiner Worte versuchte Nurrudin, diverse Bildschirme wieder zum Laufen zu kriegen, um nachzusehen. „Die Landung ist zu riskant. In der Luft sind wir für den Moment sicher.“
„Sicher?!“, entfuhr es Musa.
Jemand schrie vor Schmerz auf. Musa und Rita drehten fast gleichzeitig die Köpfe. Enrico war ebenfalls umhergeworfen worden und mit dem Beinstumpf gegen Widerstand geprallt.
„Bindet sie fest!“, donnerte Musa. „Bindet alles fest, das herumgeworfen werden kann – na los!“
Rita wühlte sich unter Fran hervor, löste den Gurt und stemmte sich hoch. Sie hörte an seinem Ächzen, dass Jochen ihr folgte. Zitternd tastete sie sich an den Sitzen entlang. Eine Tasche flog ihr gegen den Kopf. Vor ihrem Blick drehte sich alles, und sie wusste nicht, ob das am Sturm lag.
„Hier.“ Jochen reichte ihr mehrere Seile und Gurte, die er irgendwo hervorgezaubert haben musste. Rita begann, Enricos Trage fester zu verschnüren. Für den Flug war er ohnehin darangebunden worden, doch sie hatten sich nicht auf einen solchen Sturm vorbereitet.
Hinter ihr fing Jochen das Gepäck ab und taumelte, während er versuchte, alles zu verstauen. Ritas Magen rebellierte, aber sie konnte nicht aufgeben. Außer ihr und Jochen war niemand da, der helfen konnte. Fran konnte sowieso nichts machen, Hazel und Enrico waren förmlich bewusstlos und Musa und Nurrudin versuchten verzweifelt, das Flugzeug in der Luft zu halten.
„Wir haben getankt“, sagte der Pilot gerade. „Wir können bis zu zehn Stunden ausharren. Und so lange wird der Sturm schon nicht dauern.“
Draußen zuckte ein Blitz, unmittelbar gefolgt von einem Donnern, das einen Moment lang alle anderen Geräusche ertränkte. Rita spürte, wie sich ihr Herzschlag weiter beschleunigte.
„Oh Scheiße“, murmelte Nurrudin, als sie alle wieder etwas hören konnten.
„Schaffen wir das?“, bedrängte Musa ihn. „Kommen wir hier echt lebend raus?“
„Natürlich“, knurrte Nurrudin durch zusammengebissene Zähne. „Ich bringe uns hier durch.“
~*~
Eine Viertelstunde lang brüllte Juan seine Gangster an, während Iris sich nicht angesprochen fühlte und im Schneidersitz zwischen den Taschen sitzend ein paar Schokoriegel vernichtete. Dann schritt Chiara ein, die die Schnauze davon voll hatte, dass eine Gruppe Männer in ihrer offenen Haustür stand und Ärger bekam, weil sie ihrem Boss nicht zugehört hatten.
Juan war fuchsteufelswild. Dass seine Männer erst nach ihm aufgetaucht waren, obwohl er sich nach dem Unfall im Supermarkt größtenteils zu Fuß durchgeschlagen hatte, wertete er beinahe als persönlichen Affront. Er beruhigte sich erst, als Chiara ihn darauf hinwies, dass er immer noch blutete und sich dringend umziehen sollte.
„Tretet eure Schuhe ab!“, wies sie die Gangster auf Englisch an. Offenbar hatte sie bereits mitbekommen, dass Iris kein Spanisch sprach. „Geht in die Küche und fasst nichts an.“
Sie trugen ihre Taschen schweigend ins Haus und warteten in einer irgendwie klinisch wirkenden, modernen Küche in Stahlgrautönen. Iris klappte die Schränke auf und spähte hinein. Sie verzog das Gesicht. Langweiliger Basiskram wie Mehl, Zucker und dergleichen, soweit sie erkennen konnte die teureren Produkte. Deutlich mehr verschiedene Mehlsorten als Zucker. Im Kühlschrank lagerten Wasser und Wein, Salat, Gemüse …
„Was machst du da?“, zischte Fernando. „Sie sagte doch …“
„Es schadet nie, ein bisschen was mehr zu wissen.“ Sie ließ einen Flaschenöffner in ihre Tasche wandern und begutachtete das Besteck. Mindestens fünf verschiedene Arten Löffel. Doch ihr Blick huschte immer wieder zu dem Raum neben der Tür, in dem die Bildschirme standen.
Die Löffel waren größtenteils unbenutzt, oder wenig benutzt. Es gab keine Kratzer und sie waren noch nicht matt. Das alles war eine Art Show, eine obligatorische Kulisse. Aber nicht das, was diese Chiara im Herzen war. In Echt, trotz allem zur Schau gestellten Reichtum, war sie jemand wie Iris.
Nach einer kleinen Ewigkeit kamen Chiara und Juan zurück. Juan in einem flauschigen, pinken Bademantel und mit dem finstersten Gesichtsausdruck, den Iris je bei einem Menschen gesehen hatte. Die Gangster entwickelten plötzliches Interesse an den Bodenfliesen, aber Iris schnaubte ungeniert los. „Was ist das?!“
„Was anderes hatte ich nicht in seiner Größe.“ Chiara schüttelte genervt den Kopf, vertrieb Felipe mit einem energischen Wedeln der Hand von einem Stuhl und ließ sich elegant darauf nieder. Sie sah Juan an. „Machen wir endlich weiter, wo uns deine Schoßhunde unterbrochen haben: Nein.“
Juan fuhr sich mit einem Stöhnen durch das kurze Haar. „Wir brauchen die Informationen, bitte.“
„Jeder braucht Informationen – und meine haben ihren Preis.“ Selbstbewusst inmitten der Verbrecher, die sie umringten, verschränkte Chiara die Arme vor der Brust.
„Es geht hier …“, Juan schnappte einen Moment nach Luft und gestikulierte, „… um das Ende der Welt!“
Iris verschluckte ihr Lachen – der Gangsterboss im pinken Bademantel, der empört nach Luft schnappte, war halt schon ein Anblick – und räusperte sich: „Was?“
Juan sah sie an. Chiara ebenfalls.
„Worum genau geht es hier?“, fragte Iris verwirrt. „Ich dachte, ihr sucht Carmen.“
„Halt die …“, setzte Juan an.
„Carmen? Carmen Manzanares?“ Chiara horchte auf und drehte sich dann zu Juan. „Woher wisst ihr davon?“
„Das sagen wir dir erst, wenn …“
„Ich habe ihr zur Flucht verholfen“, unterbrach Iris ihn. Sie pflückte eine Weintraube vom Obstteller und schob sie sich in den Mund. „Schon ein paar Jahre her. Und diese Gesellen hier meinten, dass das wohl keine so gute Idee war … Deswegen haben sie mich entführt, aber ich wusste leider nicht, wo sie ist.“
Juan funkelte sie so wütend an, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Erstaunlicherweise entspannte sich Iris. Sie kam besser mit Menschen zurecht, wenn diese ihr gegenüber eindeutig Mordgedanken hegten. Das war gewohntes Terrain.
Chiara dagegen starrte sie an und erhob sich langsam. „Du … bist Firestarter?“
Die Gangster starrten jetzt ebenfalls, entgeistert. Chiaras Tonfall war für Iris nicht eindeutig zu lesen. War sie beeindruckt? Zornig?
Sie drückte sich unwillkürlich an den Küchenschrank in ihrem Rücken. „Okay, der Nickname war echt dämlich, das weiß ich ja selbst …“
~*~
Mit angehaltenem Atem kauerte Ruben im Gebüsch und wartete auf den richtigen Moment. Langsam geriet die kleine Gruppe der Bewaffneten, die Ethan mit sich zerrte, außer Hörweite.
Wenn er jetzt aufsprang, könnte er ihnen folgen. Der Gedanke verlieh ihm Mut, für einen kurzen Moment, Ruckartig richtete er sich auf, doch dann erstarrte er wieder.
Wenn sich die Männer nun umdrehten? Dann würden sie ihn auf dem weiten Feld zwangsläufig sehen müssen. Und er wäre weit weg von jeder Deckung, wo er sich vor den Schüssen verbergen konnte.
Ruben zögerte. Er konnte seine Füße nicht dazu bringen, vorwärts zu gehen.
Die drei Männer mit Ethan entfernten sich weiter. Ruben spürte den Herzschlag in seinen Schläfen pochen.
Jetzt … wenn er jetzt nicht losließ, würde er sie zwischen den Hügeln weiter im landesinneren aus den Augen verlieren.
Aber noch könnten sie ihn sehen und problemlos erschießen.
Und … was war eigentlich mit der Zeltstadt? Dort könnten ebenfalls Leute sitzen. Leute mit Gewehren. Wachsame Leute.
Die Männer grölten laut, in Reaktion auf etwas, das einer von ihnen gesagt haben musste.
Ethan zappelte mit einem Mal wie wild und stemmte sich gegen den Griff der Männer. „Nein!“, kreischte er durchdringend laut. „No, please! Please!“ Er war vor Panik wie von Sinnen.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Ruben, wie Ethan sich rücksichtslos gegen die Männer warf, die ihn lachend festhielten.
„Ruben! Help!“, brüllte Ethan.
Ruben fuhr zusammen. Er warf sich ins Gebüsch, aber noch während er fiel, sah er, dass ihn die drei Bewaffneten entdeckt hatten. Oder eher Ethan ihn verraten hatte, der in seine Richtung sah. Rubens Bewegung nach unten tat ihr übriges, die Bewaffneten auf ihn aufmerksam zu machen.
„Come out!“, rief einer der drei Männer.
Ruben robbte durch das Unterholz. Zweige kratzten über seine Haut, Blätter verfingen sich in seinem Haar. Er atmete Erde ein.
Ein Schuss krachte und peitschte den Sand einen knappen Meter entfernt auf. Mit einem leisen Schrei sah Ruben zurück. Während zwei Männer Ethan festhielten, kam der dritte mit gezogener Waffe zu ihm. Ruben lag direkt im Schussfeld. Der Graben bot nicht genug Deckung.
Wimmernd richtete er sich auf und drückte dabei eng miteinander verwachsene Äste nach oben. Er hob beide Hände und kämpfte um die Kontrolle über seinen Atem und seine Blase.
Sein Blick klebte am schwenkenden Lauf der Waffe.
„B-bitte …“
„Mitkommen!“, befahl der Kerl, kaum, dass er nah genug heran war. Er wedelte ungeduldig mit dem Gewehr.
Zitternd erhob sich Ruben und stolperte ungeschickt aus dem Gebüsch.
„Sind hier noch mehr?“, fragte der Bewaffnete unfreundlich. Dass Ruben Deutsch sprach, hatte er inzwischen wohl mitbekommen.
Ruben schüttelte den Kopf. „Nein!“ Auf keinen Fall wollte er Daniel verraten.
„Seht am Strand nach! Da sind noch mehr!“, brüllte der Bewaffnete zur Zeltstadt. Als Ruben hinsah, bemerkte er weitere Männer und Frauen mit Waffen.
Er hatte doch nichts gesagt! Aber dann wurde ihm bewusst, dass er unwillkürlich in Daniels Richtung geblickt hatte, und auch kein sonderlich guter Lügner war.
Die Waffe richtete sich erneut auf ihn. „Geh schon, los!“
Wimmernd stolperte Ruben vorwärts, die Hände noch immer neben dem Kopf. Er fing einen Blick von Ethan auf. Der andere Mann hing inzwischen im Griff der beiden anderen Wachen und hatte den Widerstand aufgegeben. Blut lief dunkel über sein Hosenbein. Er warf Ruben einen Blick zu, der ihn stumm um Verzeihung bat.
Ruben sah zur Seite.
~*~
Der Untergrund, auf dem sie zu sich kam, zitterte und bebte. Ein Geräusch erklang, das Kit zuerst nicht einordnen konnte. Ein Knurren vielleicht?
Sie rührte sich nicht. Immerhin – die meisten Lebewesen würden nur angreifen, wenn sie sich bedroht fühlten oder Kitsune als Beute wahrnahmen. Solange sie sich nicht regte, konnte sie das Risiko vermindern.
Dann erkannte sie das Brummen – es war das Geräusch eines Motors. Des ersten Motors, den sie außerhalb des Testzentrums hörte. Vorsichtig, die Augen immer noch geschlossen, ließ sie die Finger über den Boden vor ihrer Brust gleiten. Er war uneben und kühl, leicht gewellt – oder eher geriffelt. Der heftige Wind, der an ihr zerrte, verriet ihr, dass sie nicht im Auto war. Vermutlich auf einer Ladefläche. Das Motorengeräusch müsste zu einem Pickup-Truck gehören.
Während sie sich vorsichtig bewegte und Gefühl in ihre betäubten Glieder strömte, merkte sie auch, dass sie gefesselt war. Ein breites Band hielt ihre Oberarme an den Oberkörper gefesselt. Doch ihre Unterarme waren frei. Es wäre nur ein kurzer Schnitt, um sich zu befreien.
Sie fuhr die Krallen aus.
„Shit, die hier ist wach!“, rief jemand. Die Stimme erklang leicht gedämpft aus dem Inneren des Wagens.
Kit durchschnitt die Fessel und sprang auf die Füße. Sie blickte sich um, während sie leicht geduckt das Gleichgewicht hielt. Es war tatsächlich ein Pickup. Er rumpelte über eine einsame Straße. Ihm folgten zwei kleiner Lastwagen, eckige Transporter, deren Inhalt Kit nicht sehen konnte.
Im Inneren des Pickups saßen Menschen. Einer hielt ein Gewehr in den Händen und starrte sie an.
Kit wollte springen, als ein Ruck ihren Knöchel zurückzog. Sie fauchte. Eine kurze Kette aus Eisen band ihren Fuß an eine Strebe auf der Ladefläche. Sie sah wieder zu dem Bewaffneten und erwartete den Schuss.
„Nicht.“ Die junge Frau, die Kit Essen gegeben hatte, tauchte neben dem Bewaffneten auf. Sie legte ihre Hand auf das Gewehr und drückte den Lauf nach unten. „Sie ist nicht wie die anderen.“
„Ach, nicht? Sie verträgt die Betäubung nur zufällig ebenfalls gut. Aber sie ist nur eine ganz normale Mutation, die hier herumläuft?!“
„Sie ist nicht gefährlich. Sie ist intelligent.“
Der Mann warf Kitsune einen misstrauischen Blick zu. „Das macht sie gefährlicher.“
„Leg … bitte einfach die Waffe weg“, bat die Fremde und sah Kit dann direkt an. Inzwischen hatte der Pickup gehalten und auch die Transporter bremsten in einiger Entfernung.
Die Frau stieg aus und hob vorsichtig beide Hände. „Wir wollen dir nichts tun. Bleib ganz ruhig.“ Sie griff in ihre Tasche und zog ein Stück Fleisch hervor.
Kitsune bleckte die Zähne. Hatte diese Fremde nicht eben noch gesagt, dass Kit intelligent wäre?
„Keine Sorge, diesmal ist es sauber. Komm schon, Kleine … kannst du sprechen?“
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Die Männer brachten sie weit fort von dem alten Lager. Eine ganze Weile musste Ethan mit dem verletzten Bein vorwärtshumpeln. Er wagte nicht, langsamer zu werden. Der Kerl, mit dem er ohnehin schon aneinandergeraten war, hatte angedroht, ihn in dem Fall auf der Stelle zu erschießen.
Ab und zu sah er zu Ruben hinüber. Der andere Mann quälte sich keuchend voran und strafte Ethan mit Missachtung. Ethan konnte es ihm nicht verdenken. Er wusste selbst nicht, was über ihn gekommen war.
Oder doch, er wusste es: Er hatte nackte Panik gehabt. Als der Kerl erneut sein Gewehr auf ihn gerichtet hatte, den frischen Schmerz noch im Gedächtnis, der sich in seinen Oberschenkel gebohrt hatte – da war irgendetwas in ihm durchgebrannt.
Er wünschte, er wäre mutiger gewesen. Denn jetzt hatte er nicht nur Ruben, sondern auch den unbeteiligten Daniel in die Hände der Häscher gebracht. Zwei Männer schleiften den bewusstlosen Daniel hinter ihnen her und fluchten lauthals über dessen Gewicht. Ethan brauchte die Sprache nicht einmal zu verstehen, um das zu wissen.
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Es war eine kleine Hütte, ein einsames Haus, offenbar schon seit längerer Zeit nicht mehr bewohnt. Efeu rankte über die Fassade und das rote Dach, in einem Fenster wuchsen wilde Blumen durch das zerbrochene Glas, den Garten hatten junge Birken und einige frühe Sonnenblumen erobert.
Ein idyllischer Anblick – bis Ethan das Kettenschloss an der Tür und die gefesselten Menschen im Inneren sah. In einem großen Raum ohne jedes Möbelstück kauerten sie auf dem Boden. Erschrockene Rufe erklangen, als man sie kommen hörte. Dann beruhigten sich die Menschen, als die Bewaffneten Ethan, Ruben und Daniel in das Haus schubsten und die Tür wieder fest verschlossen.
Ethan landete krachend auf dem Holzboden und stöhnte auf. Er hatte sich das verletzte Bein angeschlagen. Als er sich hochkämpfen wollte, ergriff eine Hand seinen Arm und stützte ihn.
Er sah auf und erkannte zu seiner Überraschung Ruben.
„Lassen sie uns einfach hier?“, fragte der Deutsche in gebrochenem Englisch.
Ethan nickte. „Sieht ganz so aus. Verdammte Scheiße!“ Er sah sich um. „Gibt es hier einen Ausgang?“
„Die Fenster sind zu eng“, antwortete eine ebenfalls gefesselte Frau. „Und die Tür ist …“ Passenderweise erklang in diesem Moment das Geräusch eines Schlüssels, der herumgedreht wurde.
„Versperrt“, führte er den Satz mit düsterer Miene zu Ende.
„Wir haben auch keine Nahrung und das Wasser aus dem Hahn sieht dreckig aus“, erklärte ein alter Mann. „Und niemand weiß, ob diese Leute zurückkehren, oder was sie mit uns vorhaben.“
Ethan schluckte. Die anderen Gefangenen hatten offenbar schon alles Mögliche probiert. Die Angst in ihren Gesichtern verriet deutlich, wie hoffnungslos ihre Lage war.
Ruben drückte seinen Arm noch immer. Der Deutsche sah zu seinem bewusstlosen Freund und dann durch das Haus. Seine Lippen bewegten sich, als er nahezu lautlos murmelte. Ethan verstand nur einzelne Worte, doch das genügte ihm, um ein Gebet zu erkennen.
Es half, dass er inzwischen auch wusste, wie Ruben so tickte.
„Wir kommen hier raus“, flüsterte er grimmig. Er wusste nicht genau, an wen sich das Versprechen richtete, aber er würde alles tun, um es zu erfüllen.