Er wankte vorwärts. Das Feuer schlug ihm entgegen, eine geballte Faust aus Hitze. Sie nahm ihm den Atem. Er hustete, taumelte, stolperte. Blieb stehen.
Mit zusammengekniffenen Augen hob Seth den Blick und versuchte, zwischen dem Rauch und der vor Hitze flimmernden Luft etwas zu erkennen. Er kannte diese verdammte Straße wie seine Westentasche, und trotzdem erkannte er nichts wieder. Er war ein paar Schritte gegangen und hatte die Orientierung verloren. Eine verbogene Straßenlaterne. Bruchstücke einer Häuserwand. Fuck, selbst die Straße konnte er nicht mehr erkennen, denn der Boden war aufgerissen, mit Schutt und Asche bedeckt.
Er hörte Schreie. Husten. Irgendjemand kreischte hysterisch. Eine schrille, unangenehme Stimme.
War das wirklich real? Es könnte ein Trip sein, es musste ein Trip sein.
Schritt für Schritt kämpfte Seth sich vorwärts. In seinem Kopf herrschte Chaos. Er musste nur seine Haustür finden. Zuhause würde er runterkommen können, bis sich die Zerstörung als schlechter Traum erwies. Er musste nur dorthin kommen, bevor die Nachbarn noch die Polizei riefen, weil er wie ein Irrer von Feuer faselte.
Er war sich so sicher, dass er die verstörten Blicke der Passanten fast fühlen konnte. Schweiß stand auf seiner Haut. Der Rauch kratzte in seinem Hals.
Einbildung. Die normale Tageshitze. Zu viel Smog in der Großstadt.
Er kämpfte sich weiter. Da … die geschmolzene, blaue Farbe von einem Haus, das nicht weit von seinem stand. Eines dieser alten Gebäude, die jedes Jahr einmal frisch gestrichen wurden, um einen Hauch verlorenen Altstadtflairs zu bieten.
Seth wusste wieder, wo er war. Nur noch ein paar Meter und er wäre zuhause.
„Verdammte Scheiße!“ Er stieß sich das Schienbein an einem kopfdicken Stück Mauerwerk, das auf der Straße lag. Fluchend umrundete er das Hindernis.
War das wirklich noch Einbildung? Im Haus gegenüber … im Trümmerhaufen gegenüber schrie eine schwarzhaarige Frau um Hilfe. Sie hielt etwas gegen die Brust gedrückt, etwas verschmutztes, kleines, in eine Decke eingewickelt.
Seth stand vor seiner Tür. Ihm wurde schwindelig. Die Tür lag auf dem Boden. Die Hauswand war weg. Das Haus war weg.
Nur ein Trip. Das ist nicht real. Du wolltest dich abschießen und hier ist der Preis dafür! Das ist alles.
Er trat auf die Tür. Schutthaufen. Zerbrochene Möbel. Rauch wallte empor, Seth hustete. Er legte einen Arm vor das Gesicht und stolperte über die Trümmer weiter.
Da! Das war … sein Kühlschrank. Zerbeult. Und da war seine Kommode, die neben der Tür. Er griff nach der vordersten Schublade.
„Au!“
Flammen tanzten auf dem Holz. Seth sah auf seine Finger, die sich röteten. Doch da, im flimmernden Licht, lag die Pistole. Er griff wieder zu, instinktiv, obwohl das Feuer ihn erneut verbrannte. Vor Schmerz brüllend ließ er die heiße Pistole fallen.
Der Schmerz durchbrach endlich den Nebel, der auf seinen Sinnen gelegen hatte, und alles prasselte auf ihn ein.
Es war real! Das Feuer, die Trümmer, die Schreie, all das war nicht nur ein weiterer Trip, obwohl sich vieles danach anfühlte. Die Pille, die er kurz vorm Einkaufen eingeworfen hatte, entfaltete langsam ihre Wirkung.
Scheiße. Das konnte er jetzt so gar nicht gebrauchen! Dichter Qualm lag in der Luft. Er musste hier raus!
Mit den Füßen trat er die Pistole vor sich her und schützte das Gesicht mit dem Arm. Trotz der Gefahr war Seth nicht gewillt, den Grund für sein Kommen zurückzulassen. Als er es auf diese unelegante Weise bis zur Straße geschafft hatte, bückte er sich und berührte die Waffe. Sie war abgekühlt, sodass er sie in die Tasche stopfte. Dann sah er sich um. Die schreiende Frau war fort. Die Feuer wütenden zu beiden Seiten der Straße, doch der Weg, den Seth gekommen war, war noch frei. Er stolperte los. Bunte Prismen erstrahlten wie Blumen von jeder Lichtquelle und in seinen Ohren wurde das Rauschen des Feuers zu einem ohrenbetäubenden Crescendo.
Nein, das war nicht die Wirkung der Droge. Seth bremste schwankend. Vor ihm neigte sich ein Gebäude gefährlich, taumelte, dann brach es in sich zusammen. Eine Staubwolke wallte auf. Seth schützte das Gesicht mit den Händen, doch der weißliche Staub legte sich auf seine Zunge und verklebte seine Atemwege. Er hustete und schmeckte Kalk.
Als sich die Wolke gelichtet hatte, sah er das ganze Ausmaß der Zerstörung. Wie in einem schlechten Film war das Gebäude direkt auf seinen Fluchtweg gefallen. Flammen züngelten zwischen dem Schutt empor.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Seth sah sich um. Er war von brennendem Schutt eingekesselt, doch glücklicherweise waren noch immer große Lücken zwischen den einzelnen Flammennestern. Er begann, den Berg aus Bruchstücken des gefallenen Hauses zu besteigen.
Schneite es? Oder war das Asche? Eine weitere Halluzination?
Die Zeit schien immer langsamer abzulaufen, jedenfalls für Seth. Was draußen geschah, wurde schneller, ein unverständlicher Mischmasch aus Farben und Formen, seltsamen Klängen, verwirrenden Bildern. Die Drogen waren jetzt in seinem Blutkreislauf. Er hörte Rufe und konnte nicht einordnen, ob sie real waren oder der Vergangenheit entstammten. Er konnte nicht länger sagen, wo die reale Welt war, was dort geschah.
Was er wusste, war Sorkays Besorgnis. Der Leitwolf wusste um die Feuernester überall, um den tödlichen Qualm. Seine Angst übertrug sich auf die anderen. Leo. Krieg. Jack tat alles, um die Wirkung der Drogen einzudämmen.
Orientierungslos stolperte Seth weiter und hoffte, dass er entkommen konnte.
Enila, dachte das letzte Fitzelchen seines Bewusstseins. Enila …
~*~
Hazel hatte sie in Zweiergruppen aufgeteilt. „Bleibt immer zusammen, dann kann einer Hilfe holen, falls dem anderen etwas passiert.“ Danach hatte die Australierin Riikka angesehen. „Du kannst auch alleine gehen, denke ich.“
Riikka hatte dankbar genickt. Ein wenig Ruhe war ihr jetzt ganz lieb. Dass die taffe Australierin ihr zudem zutraute, alleine nach Essen zu suchen, machte sie außerdem stolz. Während die anderen also in Zweiergrüppchen loszogen und sich durch das Unterholz schlugen, eilte Riikka zurück zum Strand. Eine Weile lief sie einfach nur vorwärts. Das Meeresrauschen beruhigte sie. Wären die Trümmer nicht, hätte sie sich im Urlaub wähnen können. Doch nach ein paar Schritten kamen die Erinnerungen wieder. Die Schreie. Das Schwanken des Schiffes. In den Gängen hin und her geschubst zu werden, Menschen niedertrampelnd, um nicht selbst niedergetrampelt zu werden.
Maula, der ihr zurief, sie solle in Sicherheit kommen. Das Rettungsboot, das in kleinste Teile zerlegt wurde.
Riikka spürte, dass ihre Finger zitterten. Sie hielt an und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie hatte überlebt. Nur das war jetzt wichtig.
Ihr Blick fiel auf eine lange Schnur, die inmitten der anderen Wrackteile lag. Ein Teil eines Fischernetzes, vermutete sie, bereits ausgeblichen von vielen Jahren im Wasser.
Riikka bückte sich und sammelte die sandige Schnur ein. Dann zog sie einen Ohrring aus. Der Draht ließ sich leicht verbiegen und das Rentierfell riss sie ab, um es dann etwas über dem behelfsmäßigen Haken anzubringen.
Jetzt brauchte sie nur noch … Ah, da vorne! Eine Landzunge streckte sich ins Meer, ein Wellenbrecher, der gefahrlosen Badespaß am heute verwaisten Strand erlaubte. Riikka kämpfte sich über den lockeren Sand dorthin und warf ihre rudimentäre Angel in die Fluten. Sie setzte sich auf den Boden und wartete.
Fast sofort kamen die Bilder wieder. Angeln war ein perfekter Sport, um die Gedanken kreisen zu lassen, doch Riikka bekämpfte ihre Erinnerungen mit aller Kraft. Stattdessen zwang sie sich, über die Handlung des Krimis nachzudenken, den sie auf die Kreuzfahrt mitgenommen hatte. Wer der Mörder war, wusste sie noch nicht wirklich. Die Bücher hatten das Schiffsunglück wie durch ein Wunder überstanden – dank Maulas Warnung – doch Riikka bezweifelte, dass sie die Geschichte bald zu ende lesen würde.
Ein durchdringender Schrei riss sie auch aus diesen Überlegungen. Riikka fuhr in die Höhe. Das Kreischen war vom Festland gekommen und klang nach nackter Todesangst. Mit fliegenden Fingern holte sie die Angel ein und joggte los. Sie lief so schnell, wie sie es auf dem unebenen Boden wagen konnte. Sich jetzt noch den Knöchel zu brechen …
Als sie die Dünen hinaufrannte, sah sie auch Hazel und die anderen, die der Quelle des Schreis entgegenstürmten. Jochen Uhlmann stand zitternd auf den von der Sonne ausgebleichten Wiesen, die hinter dem Strand begannen. Die junge Chinesin stand an seiner Seite und gestikulierte hilflos.
„Was ist los?“, fragte Hazel mit lauter Stimme, als sie zeitgleich mit Riikka bei den beiden ankam.
„Nicht weiß, nicht weiß!“, beteuerte Sun Lin völlig aufgelöst. Sie deutete auf Jochen. „Er sehen … er ‚Ahhh!‘“
„Was hast du gesehen?“ Hazel packte Jochen an der Schulter und rüttelte ihn unsanft. „Eine Schlange?“
Der Deutsche klappte den Mund auf und zu.
„Schlange?“, übersetzte Riikka Hazels Englisch auf Deutsch. Endlich sah der dickliche Mann sie an. Er war kreideweiß im Gesicht, seine Augen traten halb aus den Höhlen und Schweiß stand auf seiner Oberlippe.
„K-k-k“, stotterte er. „Kaninchen.“
Später, nachdem er einen großen Schluck aus einer kleinen, angespülten Weinflasche genommen hatte, kam Jochen endlich zur Ruhe. Inzwischen war er puterrot angelaufen.
„Das tut mir wirklich, wirklich leid“, wiederholte er. „Ich habe die Phobie eigentlich sehr gut im Griff. Kann sogar inzwischen in einem Raum mit den Meerschweinchen meiner Tochter sein. Aber als dann so plötzlich ein wildes Kaninchen vor mir stand … nach all dem Stress war das zu viel für meine Nerven.“
„Du bist so ein Idiot!“, keifte seine Frau. „Ich schäme mich für dich.“
Hazels klirrendkalte Worte mussten für Jochen sogar noch schlimmer sein: „Sammel Holz. Du kümmerst dich von jetzt an um das Feuer. Der Rest geht zurück an die Arbeit!“
Diesmal wurde auch Rita Uhlmann mit auf die Suche geschickt. Hazel teilte die schweißgebadete Alkoholikerin Riikka zu. Die dürre, schlappe Frau legte sich auf einen der großen Steine, statt im flachen Wasser Muscheln zu suchen, wie Riikka ihr vorschlug, und schnarchte schon bald. Ein paar fettige, schwarze Haare klebten auf ihrer Stirn.
Riikka störte sich nicht daran. Sie ging weiter raus auf den Wellenbrecher, warf die behelfsmäßige Angel wieder aus und hatte nach etwa einer halben Stunde endlich Erfolg. Den kleinen Fisch erschlug sie, teilte ihn mit einem Stein in mehrere Teile und nutzte das Fleisch sehr erfolgreich als Köder für einige größere Fische. Als die Sonne sank, hatte sich einen guten Eimer voll Fische – nur leider keinen Eimer. Die toten Fische rochen bereits intensiv, da sie teilweise stundenlang unter der heißen Sonne auf einem Stein gelegen hatten. Riikka lud den Fisch auf die Arme und weckte Rita, damit sie ihr tragen half.
Im Lager wurde die Beute begeistert aufgenommen. Die anderen hatten eine karge Ausbeute an Beeren.
„Wir wussten nicht, was alles essbar ist!“, erklärte Sun Lin. „Ich wollte niemanden vergiften.“
„Es gibt hier keine giftigen Beeren“, widersprach Hazel. „Und wenn doch, hätte ich sie erkannt.“ Die Australierin nahm den Fisch und ein altes Kaninchen aus. Sun Lin weinte, als dem Säugetier das Fell über die Löffelohren gezogen wurde und weigerte sich, irgendwas von dem Fleisch zu essen. Hazel teilte die Fische ein und legte ein paar in eine Grube im Sand für den nächsten Tag. Während die Gruppe um das flackernde Feuer saß, wilde Beeren, Fisch und Kaninchen aß, senkte sich Schweigen über die Gestrandeten. Immer wieder gingen Blicke zum Himmel, doch kein Anzeichen von Hilfe zeigte sich. Schließlich ließen sie das Feuer am Strand brennen und stellten sich darauf ein, eine kalte Nacht am Meer zu verbringen.
~*~
„Ahhh … ich fühle mich, als wäre mein Rücken gebrochen! Was für eine Schrottkiste.“ Hurvínek Černý streckte sich, als er aus dem kleinen, klapprigen Privatflugzeug trat. Im nächsten Moment prallte er zurück und stieß gegen Simon, der dadurch beinahe seinen schweren Koffer fallen gelassen hätte. „Ist das heiß!“
„Jetzt stell dich nicht so an!“ Tuulikki Järvinen klang gereizt. Simon war versehentlich auf ihren Fuß getreten, als es zu dem Zusammenstoß mit Hurvínek gekommen war.
„Das macht unsere Arbeit nicht gerade einfacher“, sagte Simon und rief seinen beiden Begleitern dadurch den Grund ihres Kommens wieder ins Gedächtnis. Leise murrend schleppte Hurvínek seinen Koffer die Treppe hinunter und wartete unten auf dem rötlichen Fleck unbewachsener Erde am Rand des Urwalds.
„Oh Gott!“, murmelte Tuulikki, als ihr Blick den Hang hinunter auf die Küstenregion fiel. Eine einzige Katastrophe: Entwurzelte Bäume, im Schlamm versunkene Hütten, Plastikmüll auf den Straßen, und dazwischen Menschen, die die Trümmer durchsuchten oder mit leerem Blick auf der Erde saßen. Die Sturmflut hatte den Küstenstrich unvorbereitet getroffen. Selbst die Katastrophenwarnung hatte nicht gewusst, dass der Tsunami kommen würde, der die brasilianische Küste verwüstet hatte. Kein Seismometer hatte ein Erdbeben aufgezeichnet, das Frühwarnsystem hatte versagt … doch es war nicht an Simon und seinen beiden Freunden, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Sie waren hier, um zu helfen.
„Wir brauchen auf jeden Fall Wasser, eine Krankenstation mit Quarantäne und Suchtrupps, um weitere Überlebende zu finden“, sagte Simon, der im Geiste bereits eine Liste machte. Die schwülen Bedingungen würden die Verbreitung von Krankheiten fördern. Auch gab es in der Nähe keine Infrastruktur, auf die sie ausweichen konnten. Ein klassischer Lehrbuchfall: Sie konnten keine Turnhallen als Notunterkünfte verwenden oder auf rasche Hilfe von außen hoffen.
„Ich übernehme die Versorgung!“, rief Tuulikki sofort.
„Dann organisiere ich die Suche. Simon, wo sollen wir die Verletzten hinschicken?“
„Hier oben“, entschied Simon und deutete auf einen Vorsprung auf dem schlammigen Hang. „Alle Ärzte ebenfalls. Und Hurvínek? Lass mir ein paar kräftige Männer übrig, die die Aborte ausheben können.“
Der Tscheche grinste breit. „Die werden sich um diese Arbeit reißen! Besonders beim Meister der Scheißegruben.“
Simon Baker ging nicht auf die Stichelei ein. Vor seinem Inneren Auge sah er bereits die Umrisse von Hütten, Wegen und Zelten, die sie erreichten würden. Hurvínek und Tuulikki, die ihn genug kannten, um zu wissen, dass er nicht länger ansprechbar war, gingen ihrer Wege, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
~*~
Der klapprige Bus holperte die letzten Kurven zum kleinen Hafen hinunter. Ruben, der sich eigentlich darauf vorbereitet hatte, dem Herrn zu danken, wenn er den beengten Verhältnissen im Gefährt endlich entkommen war, musste seine Einstellung angesichts des Schiffes überdenken. Er hatte gewusst, dass seine Brüder und Schwestern nicht das teuerste Luxusschiff der Welt gemietet hatten, doch die kleine Yacht, die im Hafen dümpelte, sah nicht einmal seetüchtig aus! Das Weiß des Rumpfs war angelaufen, zahlreiche dunkle Schrammen zeugten von Problemen bei vergangenen Einparkmanövern. Die Scheiben waren schmutzig, und was Ruben von den Sitzmöbeln an Deck sehen konnte, sah veraltet aus.
„Alles in Ordnung?“, fragte Daniel leise. Er saß neben Ruben – wie früher, wenn sie als Kinder zu Ausflügen für größere Gottesdienste oder auf verschiedenen Pilgerwegen gefahren waren – und hatte offenbar gemerkt, dass Ruben sich versteift hatte.
„Ich bin nur müde“, wich er aus und richtete den Blick auf das Innere des Busses. Seine Brüder und Schwestern hatten sich in einen klapprigen Kleinbus gequetscht, der jedes einzelne Schlagloch der Fahrt mitgenommen hatte – und Rubens Verdacht verhärtete sich, dass die Karre auch ein paar eingebaute Schlaglöcher hatte. Inzwischen tat sein Hintern weh und seine Seite ebenfalls, da ihm Daniel ein paar Mal versehentlich den Ellbogen in die Seite gestoßen hatte. Auf den letzten Kilometern hatte Ruben das Gefühl gehabt, dass die Luft im Inneren immer dicker wurde. Man konnte die Fenster leider nicht öffnen und die Klimaanlage war kaputt. Während sie sich Barcelona näherten und die Sonne immer heißer zu werden schien, bekam Ruben Erstickungsängste. Er redete sich in Gedanken gut zu, dass der Herr ihn sicherlich nicht ohne Grund aus dieser Welt rufen würde und fächelte sich mit einem Magazin aus dem Netz an der Rücklehne des Vordersitzes Luft zu.
Sobald der Bus hielt, sprang Ruben auf und drängte nach draußen. Die Luft war schwül und warm, doch vom Meer wehte eine kühlende Brise. Ruben fasste den Saum seines durchschwitzten Hemdes und versuchte, den nassen Stoff auszuschütteln. Außerdem hatte er Hunger. Die Schwestern zuhause hatten ihnen Brote für die Fahrt mitgegeben, doch diese waren erstens staubtrocken und zweitens viel zu wenig für die zwanzig Gesandten auf Kongressreise gewesen. Am Hafen gab es einen heruntergekommenen Kiosk. Ruben war bereits zwei Schritte darauf zugegangen, ehe er sich bremste. Er erinnerte sich noch zu gut an die Blutwurst nach seinem Missionierungsdienst und hatte immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen. Auf keinen Fall wollte er sich erneut der Gefahr einer Sünde aussetzen, nicht jetzt, wo der Tag der Abrechnung so nahe war.
Also ignorierte er seinen knurrenden Magen und hielt sich treu an seine Brüder und Schwestern. Michael, der älteste ihrer Gruppe, der die Karten für das Schiff verwahrt hatte, teilte diese nun aus und führte sie danach zielsicher zu einem Häuschen neben der Brücke zum Schiff. Davor hatte sich eine Schlange gebildet, in die sich die Zeugen einreihten. Ruben tupfte Schweiß von seinen Schläfen.
„Du musst zugeben, eine bessere Reise hätten sie uns nicht bieten können“, meinte Daniel mit einem Grinsen. „Sardinien! Ich bin glücklich und dankbar, dass ich die Insel noch sehen darf, bevor die Welt untergeht.“
Ruben nickte und murmelte etwas Unverbindliches. Die Auslage im Kiosk zog erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. Gekühlte Cola. Schokoriegel. All diese furchtbaren Verführungen. Die Schlange lief ziemlich nah am Kiosk vorbei. Rubens Mund fühlte sich mit jeder verstreichenden Minute pappiger an. Die Schlange rückte kaum vor.
‚Oh Herr, warum prüfst du mich so schwer?‘, fragte sich Ruben stumm. Er ballte die Hände zu Fäusten. Er musste durchhalten! Das Jüngste Gericht drohte in nächster Zukunft.
„Entschuldigung?“, fragte eine Frau in Rubens Rücken. „Ich habe ganz vergessen, um welche Uhrzeit mein Schiff ablegt und jetzt wollte ich fragen …“
„Das ist das Schiff nach Sardinien“, antwortete einer von Rubens Glaubensbrüdern. Timon hieß er, wenn Ruben sich nicht täuschte. Der Mann stammte aus einem anderen Bundesland, genau wie die Frau an seiner Seite. Kathrin? Katharina?
„Ja, Sardinien! Puh, dann bin ich richtig!“, antwortete die Frau. Ihre Stimme kam Ruben bekannt vor, weshalb er sich umdrehte. Im ersten Moment konnte er das blonde Mädchen nicht einordnen, das den beiden Zeugen, die ihr geantwortet hatten, ein liebenswürdiges Lächeln schenkte.
Ruben verengte die Augen. „Krissi?“
Das Mädchen reagierte nicht.
„Kristine Uhlmann?“
Ein panischer Ausdruck malte sich auf ihrem Gesicht ab, ehe sie Ruben schließlich ansah. „M-meinen Sie mich?“
Für einen Moment überzeugte ihn ihr Schauspiel und er war sich nicht länger sicher. Immerhin waren einige Jahre vergangen, seit eine jüngere Kristina für einige Monate bei den Zeugen gewesen war. Womöglich sah die Frau ihr nur ähnlich und hatte zufällig eine ähnliche Stimme.
Doch was war mit der Angst in ihren Augen? Und obwohl sie älter geworden war, hatte sie noch die gleiche Haltung zwischen lässig und ablehnend.
„Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen!“, behauptete Krissi steif und fest. Ruben war sich sogar sicher, dass das stimmte, oder dass sie sich jedenfalls wirklich nicht mehr an sein Gesicht erinnern konnte.
„Ruben Schönfelder!“, sagte er mit einem leicht flehenden Unterton. Sein Herz raste. Dass er Krissi hier wiedertraf, die damals weggerannt war, musste doch ein Zeichen sein! Er hatte die Chance, sie wieder auf den rechten Pfad zu führen. „Wir waren mehrmals zusammen missionieren …“
Krissis Augen wurden noch eine Spur kälter. „Zeugen! Euren beschissenen Verein trifft man aber auch überall!“, fauchte sie, dann stieß sie Ruben von sich und brüllte so laut, dass alle in der Reihe sich umdrehten: „Fassen Sie mich nicht an!“
Verdattert taumelte Ruben gegen Daniel, der seinen Arm festhielt, ehe er fallen konnte.
„Was hast du getan?“, fragte Rubens bester Freund.
„Nichts!“, rief Ruben aus.
„Behalt deine Griffel bei dir, Arschloch!“, fuhr Krissi ihn an.
Alle starrten sie an. Zwei kräftige Männer in schwarzer Uniform drängten sich über den Laufsteg vom Schiff und an der Schlange vorbei.
„Nehmt ihn fest!“, kreischte Krissi. Sie deutete mit zitterndem Zeigefinger auf Ruben und stolperte zurück, scheinbar vor Angst zitternd. Die Zeugen Jehovas wichen vor Ruben zurück, als trüge er das Zeichen des Feindes.
Krissi spuckte vor Ruben auf den Boden und lief davon, bevor die beiden Securitymänner bei ihnen ankamen.
„Krissi!“, rief Ruben und machte einen Schritt hinter dem Mädchen her, worauf die kräftigen Männer seine Arme packten und ein Tritt ihn in die Knie zwang. Rubens Nacken kribbelte, als ihm klar wurde, was Krissi getan hatte und wie seine Reaktion aussehen musste.
~*~
Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Die Nacht zog herauf. Der blutige Hirsch über ihrer Schulter konnte hungrige Raubtiere anlocken und sie wusste nicht, mit welchen Gefahren sie hier rechnen musste. Wölfe? Bären? Oder Raubkatzen? Davon abgesehen ließen die dicken Wolken am Himmel auch auf eine weitere Gefahr schließen, die sie auf keinen Fall unterschätzen durfte. Bereits der Tag war kühl gewesen. Nachts würden die Temperaturen weiter fallen und Regen würde verhindern, dass sie sich an einem Feuer wärmte.
Wenn sie überleben wollte, musste sie das Risiko eingehen, den Fluss über den moosigen Baumstamm zu überqueren. Das in Fell eingewickelte Fleisch band sie fester um ihre Schulter. Dann näherte sie sich dem Baumstamm und ließ sich auf alle Viere nieder. Es war ein Instinkt, den sie sich selbst kaum erklären konnte, doch sie vertraute auf ihre Fähigkeiten. Die Finger und Zehen wie Krallen in das morsche Holz schlagend, krabbelte sie vor. Die langen Nägel unterstützten sie dabei und gaben ihr Halt. Sie spürte den Stamm unter ihrem Gewicht wippen. Kleine Tropfen aus dem sprudelnden Wasser schlugen gegen den Stamm, gegen ihre Hände und Füße. Sie beschleunigte und fand sich mit der animalischen Fortbewegung erstaunlich gut zurecht. Endlich kam das andere Ufer in Sicht. Sie hörte den Stamm knirschen. Im Rennen überlegte sie, dann stieß sie sich ab und sprang. Der Baumstamm splitterte unter dem Druck ihres Abstoßes und wurde von den Fluten mitgerissen. Doch sie landete unversehrt auf dem Land und blieb zwischen großen, moosüberwachsenen Wurzeln hocken.
Leicht keuchend überprüfte sie ihr Gepäck und drehte den Kopf in jede Richtung, aufmerksam lauschend. Dann eilte sie geduckt zu der Höhle und drückte sich an den Felsen neben dem Eingang.
Ihr Herz schlug wie verrückt. Sie schnüffelte, ganz wie ein Tier, doch sie konnte keinen Geruch ausmachen, der darauf schließen ließ, dass die Höhle bewohnt wäre. Vorsichtig machte sie einen Schritt ins Innere. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, besonders, da es auch draußen schon dunkel wurde. So erkannte sie schnell, dass es sich um eine sehr kleine Höhle handelte. Sie sah eine schmale, senkrechte Nische, wo das Fleisch hoffentlich kühl bleiben würde, ansonsten gab es nur einen kleinen, unebenen Raum. Der Eingang klaffte nicht offen, sodass sie ihn gut mit einem Feuer versiegeln konnte.
Perfekt. Vielleicht sogar zu perfekt.
Mit einem Stock stocherte sie in der Nische, doch keine giftige Spinne und kein Skorpion sprang heraus. Also steckte sie den Großteil des Fleisches hinein. Sie eilte nach draußen, um im letzten Tageslicht trockene Zweige zu sammeln. Sie war vielleicht hundert Meter von der Höhle entfernt, als sie hinter sich Schritte hörte. Dann eine Stimme: „Vermutlich ist sie längst erfroren. Wäre jedenfalls besser für sie.“
„Dann müssen wir trotzdem noch ihre Leiche suchen“, antwortete eine andere, ebenfalls männliche Stimme. „Du hast den Boss gehört.“
„Leichen rennen wenigstens nicht weg.“
Sie erstarrte. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, kamen ihr beide Stimmen vertraut vor. Der hasserfüllte Klang verursachte ihr eine Gänsehaut.
Die Männer schnitten ihr den Rückweg zur Höhle ab. Sie tastete nach dem Bogen und hätte fluchen können. Ihren einzigen Pfeil hatte sie verschossen.
~*~
Genau, wie sie es angekündigt hatte, klingelte Emmeline eine Stunde nach ihrem Gespräch im Treppenhaus. Thomas öffnete die Tür und sah seine Nachbarin und ihren jungen Sohn im Treppenhaus stehen. Max hielt den Kopf gesenkt und umklammerte mit einer Hand den Jackensaum seiner Mutter.
„Hallo Max“, sagte Thomas mit dem wärmsten Tonfall, den er aufbringen konnte.
Emmeline wirkte nervös und nestelte ständig an ihren Haaren oder der Kleidung herum. Und täuschte sich Thomas oder waren ihre Augen leicht gerötet? Hastig schob die Frau ihren Sohn vor, dann kniete sie sich abrupt hin und umarmte ihn. „Pass gut auf dich auf, hörst du? Ich bin … bald wieder da.“
Mit dem Kopf auf der Schulter ihres Sohnes warf sie Thomas einen flehenden Blick aus großen Augen zu. Ihre Unterlippe zitterte. Ihr Gesicht drückte ihre Angst, ihr schlechtes Gewissen und eine Entschuldigung aus. Thomas wünschte sich, er könnte mehr tun, als ihre stumme Bitte mit einem ruhigen Nicken zu beantworten. Ja, er würde auf Max aufpassen.
Emmeline erhob sich wieder und gab Thomas mit zitternden Händen eine Tasche. „Ich kann dir nicht genug danken …“
„Ist schon gut“, beruhigte Thomas sie.
„Ich weiß nicht, wann ich zurück bin.“ Jetzt senkte Emmeline die Stimme. „Ich melde mich, so oft ich kann, aber …“
„Es ist in Ordnung, wirklich. Ich verstehe das.“ Thomas fasste die Frau an den Oberarmen. Zu gerne würde er ihr einen Beruhigungstee oder ähnliches verschreiben, ihr sagen, das alles gut werden würde. Doch das wäre eine Lüge. Er hatte in den Nachrichten von schlimmen Unwettern in North Carolina gehört, dort, wo Emmelines Schwester wohnte. Die Bilder im Fernsehen waren dramatisch gewesen.
Emmeline nickte tapfer, strich ihrem Sohn durchs Haar und umarmte ihn erneut. „Sei brav, Max.“ Dann eilte sie fluchtartig zur Treppe. Thomas hörte sie schniefen.
„Mum will nicht, dass ich sie weinen sehe“, flüsterte Max, der alles stumm über sich ergehen gelassen hatte. „Kommt sie zurück?“
Thomas kniete sich zu dem Sechsjährigen. „Deine Mutter kommt auf jeden Fall zurück, Max.“
„Wann?“
„Du, das wissen wir noch nicht. Weißt du, deine Mutter ist eine Superheldin und muss jetzt jemanden retten. Das dauert manchmal ein bisschen. Aber sie kommt auf jeden Fall zurück.“
Der Junge sah endlich auf. Seine blauen Augen schimmerten ängstlich.
Thomas lächelte ihn beruhigend an. „Komm erst mal rein. Ich habe Kakao fertig. Und danach können wir was zusammen malen, das magst du doch.“
Max lächelte schwach zurück. „Aber ich muss Mathe machen …“
„Deine Hausaufgaben können auch noch etwas warten.“ Thomas führte den Jungen in seine Wohnung und grinste verschwörerisch. „Vielleicht können wir auch noch einen Film gucken.“
„Oh ja!“ Jetzt grinste das Kind begeistert. „Mum hat mir ‚Findet Nemo‘ eingepackt! Das ist mein Lieblingsfilm! Die Schildkröten mag ich am meisten, die sind lustig.“
Thomas – der die Kanten der Filme bereits durch den Stoff der Tasche gefühlt hatte – gestattete sich einen erleichterten Seufzer. Der Damm war gebrochen und Max plapperte wie ein Wasserfall. Das war der aufgeweckte Junge, den er kannte und mochte!
~*~
„Warten Sie! Warten Sie!“ Ethan bahnte sich seinen Weg durch die Schaulustigen auf dem Steg nach vorne zum Ende der Schlange. Er wedelte mit der Kamera und hielt in der anderen Hand ein kleines Spanisch-Wörterbuch. Hoffentlich würde das reichen.
Die Security reagierte zuerst nicht, bis die in Schwarz gekleideten Männer begriffen, dass der Tourist vom Boot mit ihnen sprach. Zwei von ihnen zerrten den Mann weiterhin von seiner Gruppe weg, doch ein dritter drehte sich um und sah Ethan an.
„Video!“, sagte er deutlich und hob die Kamera. Er gestikulierte hilflos zu dem Abgeführten, der Schlange und dem Hafen. Hoffentlich begriff der Securitymann! Ethan fühlte sich erhitzt. So ganz konnte er selbst noch nicht fassen, dass er den Aufruhr durch Zufall mitgefilmt hatte.
Eine uniformierte Securityfrau tauchte bei ihm auf. Offenbar hatte sie bis gerade das in der Menge untergetauchte Mädchen gesucht, jetzt kam sie ihrem Kollegen zu Hilfe, der scheinbar Ärger von einem Passagier des Kreuzfahrtschiffes bekam …
Ethan merkte sehr wohl, dass ihm die kräftige Frau misstraute und sein lautes Rufen in Verbindung mit dem Gefuchtel durchaus wie ein beginnender Angriff aussehen konnte.
Er zwang sich, durchzuatmen. „Video. I made a video.“ Er blätterte fieberhaft im Wörterbuch. „Evidencia!“
Der Mann nickte ihm nach kurzem Zögern zu. Ethan atmete auf und startete die Aufnahme. Zwei Securitybeamte und ein ehemaliger, frisch geschiedener Lehrer beugten sich über das kleine Gerät.
Zu sehen war Ethans Videoaufnahme. Sie begann mit den im Sonnenlicht glitzernden Wellen und einigen Möwen, schwenkte dann langsam zum Festland und verweilte einen Moment auf dem fernen Haupthafen, wo die Masten im Wind schaukelten und sich unzählige, cremefarbene Gebäude bis ans Wasser drängten.
Die Frau schnaufte ungeduldig. Der Mann sagte etwas. Dem Klang nach bat er sie, noch abzuwarten.
Das Kameraauge glitt weiter über dürre Sträucher auf dem von der Hitze ausgedörrten Boden und filmte dann den kleinen Hafen, in dem ihr Schiff angelegt hatte. Für einen Moment zeigte der Film einen Kleinbus, der sich die gewundene Straße hinunterkämpfte. Ethan hatte die geduckten, malerisch heruntergekommenen Häuser gefilmt, dann schließlich die Schlange, die zum Boot führte. Für einen längeren Moment verharrte der Film auf dem Gesicht eines Mannes mit kurzen, hellbraunen Haaren. Dann trat hinter ihm eine junge, blonde Frau in Erscheinung, die jemand anderen ansprach. Der Mann drehte sich um und die Kamera machte Anstalten, weiterzufahren, bevor sie zurückschwenkte. Die Tonaufnahmen, wenngleich verzerrt und vom Rauschen des Windes überlagert, gaben das undeutliche Echo eines überraschten Ausrufs wider. Man konnte sehen, wie der Mann mit der Frau sprach, die sich gehetzt umblickte. Dann sprang sie plötzlich – und ohne jeden Anlass, das ließ sich aus der erhöhten Kameraposition gut sehen – zurück und schrie laut, ehe sie die Flucht ergriff.
„Er hat nichts getan“, verdeutlichte Ethan auf Englisch und deutete auf den Mann, den die Security immer noch festhielt.
Die Frau gab einen kurzen Befehl und man ließ den Passagier los. Während die Wachmänner sich bei ihm entschuldigten, sah der Mann Ethan erstaunt an.
„T-thanks“, stammelte er überrumpelt, ehe ein Mann aus seiner Reisegruppe den Beinaheabgeführten am Arm fasste und zurück in die Reihe zog.
„Ruben! Geht es dir gut? Was war denn los?“
Ethan schnappte ein paar hastige Sätze auf. Also handelte es sich bei der Gruppe um Deutsche!
Er steckte die Kamera wieder ein, lächelte dem Geretteten zu und kehrte aufs Schiff zurück.
~*~
Die anderen sechs Männer hießen Fynn, Lucas, Max, Richard, Malte und Nils. Obwohl sie alle auf die Vierzig zugingen, stellten sie sich Keelan mit Vornamen vor. Der höflich-distanzierte Tonfall, den Markus zuerst angeschlagen hatte, wurde bald lockerer. Besonders Richard vermochte es, die Atmosphäre mit ein paar zweideutigen Witzen etwas zu lockern. Er sah aber auch zu verführerisch aus: Dunkle Augen, dunkle Haare und ein weißer Anzug, obwohl er sich gerade auf einem sicherlich sehr langen Heimflug befand. Wie Keelan inzwischen erfahren hatte, waren alle sieben Männer Deutsche, die sich während eines einwöchigen Dolmetscherseminares kennengelernt hatten – abgesehen von Fynn und Lucas, die Brüder hatten den Kurs gemeinsam besucht.
„Ich bin Mathelehrer“, berichtete der hochgewachsene, schlanke Fynn, während die kleine Gruppe den Weg zum Informationsschalter suchte. „Ich habe mich im Kurs auf Englisch konzentriert, das verbessert meine Chancen, demnächst alle drei Hauptfächer zu unterrichten.“
„Oh, hilfe, ein Mathelehrer!“, witzelte Keelan, doch Fynns düsterem Blick nach zu urteilen musste er sich diese Reaktion auf seinen Beruf sehr oft anhören.
„Ich hab sogar noch Spanisch geschafft!“, platzte Lucas heraus. Fynns jüngerer Bruder war außer Puste, obwohl sie nicht besonders schnell liefen. Seine langen, dunklen Haare waren nur etwas kürzer als Fynns und so dick und klein, wie er war, sah er irgendwie wie eine unzureichende Kopie seines Bruders aus.
Richard zwinkerte Keelan über den Kopf des asthmatisch Keuchenden hinweg zu – er hatte die nötigen Lizenzen erworben, um frei zwischen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch zu dolmetschen, wie Keelan bereits wusste – obwohl Markus nicht müde wurde, zu erwähnen, dass seine Abschlussnote deutlich besser gewesen war.
Keelan fühlte sich in der Gruppe unerklärlicherweise sehr wohl. Die sieben Männer schienen sich in der einen Woche sehr gut angefreundet zu haben. Zusätzlich zu dem unfassbaren Glück, auf gleich mehrere Dolmetscher zu stoßen, hatte Keelan auch eine sehr freundliche, offene Gruppe erwischt. Maximilian, der ein Sternekoch war und sich für die Arbeit Russisch und Koreanisch angeeignet hatte, dozierte während des Laufens über die verschiedenen Speisen, die es am Flughafen zu kaufen gab. Obwohl er hauptsächlich ihre Mängel kritisierte, fand Keelan seine Vorträge unglaublich interessant – ihr Magen knurrte erneut. Während der dickliche Max problemlos mithielt, fiel der dürre Malte immer wieder zurück. Er war ein farbloses Individuum, sogar seine Haare waren bereits grau und außerdem ziemlich fettig. Er schlurfte lustlos durch den Flughafen und die Gruppe musste mehrmals auf ihn warten. Er hatte gesagt, dass er Erzieher im Kindergarten war. Keelan konnte sich nicht vorstellen, wie sich dieser Mann gegen Kinder durchsetzen wollte.
Der letzte im Bunde schließlich war Nils, ein muskulöser Brillenträger und Stuntmann. Und zwar ein ziemlich erfolgreicher, obwohl er auch einige Narben vorzuweisen hatte. Er war etwas zurückhaltend, berichtete aber mit glänzenden Augen von seiner Arbeit. Die Hoffnung auf Hollywood hatte er offenbar aufgegeben, doch er überlegte, nach Japan auszuwandern – dafür hatte er auch den Kurs gemacht – um dort zu arbeiten. Er schien mit beiden Beinen im Leben zu stehen und trotzdem einen nomadischen Lebensstil zu besitzen, dank dem er seine Zukunftspläne stets flexibel hielt.
Ihre sieben neuen Bekannten waren derartig bunt gemischt, dass Keelan für einige Zeit ihre unsichere Situation vergessen konnte. Während Markus – offenbar der inoffizielle Anführer – sie zielsicher durch die Hallen des Flughafens führte, bestürmten die anderen Keelan mit ihren Erzählungen und baten sie, jeden Fehler des englischen Sprachgebrauchs anzumerken.
Schließlich hatten sie den Infoschalter erreicht und reihten sich in eine lange Schlange ein, die nur allmählich nach vorne rückte. Die Dolmetscher unterhielten sich auch untereinander in Englisch, wenngleich sie dafür offenbar einige Insider anpassen mussten. Keelan war den Männern dafür unendlich dankbar. Das war ein Stück Sicherheit in einem ansonsten vollkommen fremden Land.
Endlich war Markus an der Reihe und fragte die junge Frau am Schalter – ebenfalls in makellosem Englisch – nach den Anschlussflügen. Bis auf Malte mussten alle Männer weiterfliegen, um diverse Ziele innerhalb Deutschlands zu erreichen. Leider bekamen sie alle die gleiche, niederschmetternde Antwort:
„Im Moment sind alle Flüge abgesagt. Die Situation in der Luft ist zu unberechenbar. Auch wenn sich der Sturm verzogen hat, kann es noch dauern, bis wir das Okay bekommen. Es tut mir wirklich unendlich leid.“
Keelan sah sich um. Überall standen wütende Reisende herum, es gab eine auffällige Polizeipräsenz. Die Beamten beruhigten die aufgebrachten Männer und Frauen. Sogar Fynn ging in die Luft: „Was soll das heißen, es gibt momentan keine Flüge? Ich muss nach Frankfurt, und zwar vor heute Abend! Ich habe für diesen verdammten Flug bezahlt.“
Gleich wurde ein Uniformierter aufmerksam und kam näher.
„Ist doch egal“, murmelte Malte beschwichtigend. „Ich bin mir sicher, deine Schulleitung versteht das …“
Fynn schnaubte und schlug mit der Faust gegen die Glasscheibe des Informationsschalters, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Lucas watschelte ihm hinterher, die Restlichen schlossen sich an. Die junge Angestellte rief ihnen etwas von Entschädigungen nach und dass die Fluggesellschaften für entstehende Kosten aufkommen würden, doch niemand der acht hörte ihr zu.
„Da hast du es“, sagte Markus zu Keelan. „Scheinbar sind wir alle hier gestrandet.“
„Ich wohl auch“, gab Malte mit Blick auf die großen Fenster zu, hinter denen der Regen wie eine Sintflut auf die Erde prasselte. „Schätze, bis das Wetter aufgeklart ist, bleibe ich euch erhalten. Gehen wir zurück und gucken, ob noch Sitzplätze frei sind?“
„Das ist wohl das beste“, brummte Fynn. „Ich bin es leid, den Koffer zu schleppen. Und offenbar muss ich an der Schule anrufen und absagen.“
„Das kann ich doch machen …“, murmelte Lucas, der an der gleichen Schule wie Fynn Religion unterrichtete.
Die Gruppe wollte geschlossen losgehen.
„Ich danke euch.“
Alle drehten sich zu Keelan um. Die Männer hatten sie vermutlich schon halb vergessen. Sie lächelte schief. „Von hier an komme ich alleine weiter. Vielen Dank für eure Hilfe!“
„Aber gerne doch!“, sagte Markus. Die Männer verabschiedeten sich von ihr, Richard gab ihr sogar grinsend einen Handkuss.
„Viel Glück“, wünschte ihr Nils.
„Dankeschön. Mit meinem Glück sieht es ja heute gut aus.“ Keelan winkte den Männern, bis sie in der Menge verschwunden waren. Danach lächelte sie noch immer breit. So eine nette Gruppe! Das hatte ihr die bittere Situation deutlich versüßt.
Von neuem Tatendrang erfüllt sah sie sich um. Es gab einige Läden hier, in denen man was zu essen kaufen konnte. Der gutmütige Max würde sie vermutlich davor warnen, doch Keelans Magen hatte überzeugendere Argumente. Sie würde etwas Vernünftiges essen, und dann … lächelnd berührte Keelan den Laptop in ihrer Tasche. Solange es noch regnete, könnte sie ja etwas schreiben. Sie hatte ein paar gute Ideen für neue Charaktere.
~*~
Schreie. Flammen.
Eine Frau rannte an ihm vorbei, die ihr Kind gegen die Brust drückte. Panzer rollten über Trümmer. Ein dichter, ockergelber Sandsturm vermengte sich mit dem Rauch und versperrte die Sicht. Das Dröhnen von Flugzeugen klang Jayden in den Ohren. Die gebrüllten Befehle konnte er nicht verstehen. Fieberhaft suchte er den Himmel ab, um wenigstens zu erahnen, wo die nächste Bombe treffen würde, obwohl er wusste, dass dieses Wissen ihm kaum helfen würde. Falls es ihm überhaupt gelänge, durch den ausgewirbelten Staub etwas –
„Davis!“ Die scharfe Stimme seines Vorgesetzten riss Jayden aus der Trance. „Bewegen Sie Ihren Arsch hier rüber!“
Er besann sich und griff den Medi-Koffer. Die Zivilisten in dem Inferno brauchten seine Hilfe. Er schüttelte die alten Instinkte ab. Das hier war ein Flugzeugabsturz, kein Kriegseinsatz.
Die Frau mit dem Säugling wurde inzwischen von einem anderen Sanitäter versorgt. Jayden eilte hinter den Soldaten her, denen man ihn zugewiesen hatte. Sie drangen auf einen Trümmerhaufen vor, den die Feuerwehr bereits halbwegs gelöscht hatte – man konnte natürlich nicht sicher sein, dass nicht noch irgendwelche Glutnester unter den Trümmern schwelten. Die Soldaten suchten das Feld systematisch ab. Seitdem sie und alle ehemaligen Soldaten in der Umgebung zur Unterstützung der Feuerwehr herbeordert worden waren, waren kaum zwanzig Minuten vergangen. Jayden kam es wie ein Traum vor. Eben war er noch auf dem Highway, unterwegs, um seine Eltern in Detroit mal wieder zu besuchen. Nun war er wieder Captain der Medical Corps und rettete Zivilisten im dichten Rauch, da die Feuerwehr überfordert war und das Militär verzweifelt nach allen Strohhalmen griff.
Was für ein Alptraum …
Am meisten sollte ihn vielleicht die offensichtliche Hilflosigkeit der verantwortlichen Stellen besorgen. Es schien, als würde die ganze Welt an unzähligen Stellen auseinanderbrechen. Als wäre sie spröde geworden. Das Militär, die Polizei und andere Einsatzkräfte wuselten zu den Bruchstellen, um sie zu kitten, doch schon zog sich ein neuer Riss durch die Szene …
„Zivilist gesichert. J.D., komm mal her.“
Jayden hob den Kopf. Einer der Soldaten winkte ihm. Offenbar jemand, der ihn wiedererkannt hatte, wenngleich sich Jayden nicht an dessen Gesicht erinnern konnte.
Er verdrängte die Gedanken und widmete sich dem aufgegabelten Zivilisten. Ein dürrer Mann mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und einem Bart, der den Kiefer und die Oberlippe bedeckte. Er trug einen hellgrauen Kapuzenpulli offen über einem dunkleren T-Shirt. Jayden bemerkte die Dogtags um den Hals des Fremden sofort. Ob sie echt waren oder nur ein modisches Accessoire?
Der Mann roch nach Alkohol. Sein Blick war verschleiert, wie der Arzt geübt feststellte. Das war nicht allein der Schock, sondern offenbar der Einfluss irgendwelcher Drogen. Zum Glück konnte der Mann noch gehen, also stützte Jayden ihn auf dem Weg aus der Gefahrenzone heraus. Als sie die Flammen und den Rauch hinter sich gelassen hatten, ließ Jayden den Zivilisten auf die Bordsteinkante zwischen zwei geparkten Autos nieder und holte einen Kugelschreiber hervor, mit dem er vor den Augen des Mannes wedelte. Der Blick folgte dem Stift zeitverzögert, glitt wieder davon.
„Verdammt.“ Jayden gab dem Mann eine leichte Ohrfeige. „Hörst du mich?“
Auf einen Schlag wurde der Blick klar, und sogleich funkelte der Fremde ihn an.
„Geht es dir gut?“, drang Jayden auf ihn ein. „Bist du verletzt? Kannst du mir deinen Namen sagen?“
„Seth …“, murmelte der andere. Seine Augen wurden glasig, dann wieder klar. Er hob eine Hand und Jayden sah die Brandmale auf der Haut, noch bevor der Verletzte etwas sagen konnte. Zum Glück waren es nur oberflächliche Verbrennungen.
„Das haben wir gleich …“, murmelte Jayden und öffnete seinen Koffer.
~*~
Sie wurde erst langsamer, nachdem sie um ein paar Ecken gebogen war und immer noch kein Anzeichen für Verfolger ausmachen konnte. Ihr Herz raste, ihre Finger zitterten und sie spürte kalten Schweiß auf der Haut.
Verdammt! Hätte sie sich die Warteschlange einmal genauer angesehen!
Doch andererseits hätte sie Ruben wohl auch dann nicht erkannt. Krissi hatte ein miserables Gedächtnis für Gesichter. Außerdem war ihre Zeit bei den Zeugen auch viel zu lange her. Das war noch fast am Anfang gewesen.
Doch damit war ihr der Weg auf das Schiff vorerst versperrt. Dieser Sektentyp hatte ihre Tarnung auffliegen lassen, um ein Haar hätte sie riskiert, dass man ihr den gefälschten Pass abnahm, der sie als Iris auswies. Nun hatte ihre Flucht für Aufsehen gesorgt. Man würde sich an sie erinnern. Vermutlich würde die Besatzung die Geschichte sogar weitererzählen, auszuschließen war so etwas nie. Weder diesen Hafen noch einen in der Umgebung sollte sie in nächster Zeit aufsuchen.
Am besten, sie nahm den nächsten Bus zurück in Richtung Deutschland und suchte einen anderen Weg aus dem Schlamassel. In Gedanken ging Iris ihre Optionen durch. Fliegen kam nicht länger in Frage. Schiffsreisen vorerst auch nicht. Also Züge. Auch wenn diese berechenbar waren, nicht aus den Schienen ausbrechen konnten und an vorgegebenen Bahnhöfen hielten. Iris könnte immer noch vom Zug springen.
Sie straffte sich und lief weiter, die Sporttasche mit ihrem einzigen Besitz über der Schulter. Ein kühler Wind milderte die Hitze. In ihrer Kapuzenjacke schwitzte Iris ziemlich, aber sie wollte nicht stehen bleiben, um sie auszuziehen.
Zu Fuß lief sie nach Barcelona herein und suchte dort den Weg in die Innenstadt. Das kostete sie fast zwei Stunden, doch ihr MP3-Player hatte genügend Laufzeit. Während sie zu Beginn ihrer Wanderung der Straße folgte, streckte sie den Daumen aus, aber niemand hielt. Ihr war das egal. Eine Lügengeschichte weniger, die sie erzählen musste.
In der Stadt wich sie den zentralen Straßen aus, die viele Touristen anlockten. In diesen Zeiten mehr als sonst. Offenbar waren viele Menschen unterwegs. Da der Flugverkehr lahmgelegt war, reisten alle mit Autos oder Bussen. Die vorzeigbaren Straßen und offiziellen Hotels waren überfüllt. Doch einen halben Kilometer abseits der Hauptstraßen war die Stadt im Normalzustand. Hier gab es billige Wohnungen, Tante-Emma-Läden am Rande der Insolvenz und normale Infrastruktur. Kindergärten. Schulen. Eine Küche für Obdachlose. Caprice wanderte durch die verwinkelten Gassen, vorbei an Bergen von schwarzen Müllbeutel – offenbar wurde morgen abgeholt – und trostlosen Wiesenflächen. Schließlich fand sie, was sie suchte: Ein Internetcafé. Die nötigen Phrasen, um einen Platz für eine Stunde zu mieten, hatte sie unterwegs aus dem Wörterbuch zusammengeklaubt und sich eingetrichtert. Der Besitzer starrte sie dennoch an. Vermutlich hatte sie irgendeinen grammatischen Fehler gemacht, war ihr auch egal. Sie bekam den Platz und legte ihre Tasche ab, während sie sich verstohlen umsah.
Keine Überwachsungskameras. Die drei Computer hier waren veraltet, die Programme darauf ebenfalls. Nach einem kurzen Blick zum Besitzer klemmte sich Iris vor einen der dicken Monitore, auf einem abgewrackten Drehstuhl mit löchrigem Polster. Sie ging kurz in die Systemeinstellungen und durchsuchte die installierten Programme, deaktivierte den Virenschutz und öffnete dann das Internet.
Es war keine Software installiert, die ihren Suchverlauf überprüfte. Euphorisch legte sie los und ging zielsicher auf eine Seite. Das Logo des FBIs blitzte auf dem Bildschirm auf.
Sie hatte die Kopfhörer noch drinnen und drehte die Musik auf. Das war zwar ein Risiko, allerdings saß sie mit dem Rücken zur Wand (leider auch metaphorisch) und hatte den gesamten Laden im Blick (letzteres leider nicht auch metaphorisch). Sie brauchte die Musik zur Konzentration. Während Breakin Benjamin in ihr Ohr brüllte, wurde sie absolut ruhig und testete ein paar Passwörter aus, bis sie im System war. Wenige Klicks später war sie in einer internen Suche und gab ‚Flugverkehr‘ in das Suchfeld ein. Mehrere Berichte erschienen. Iris‘ Augen weiteten sich, als sie die Anzahl sah. Eine Menge Texte waren leider zusätzlich gesichert, doch eines war deutlich: In letzter Zeit war hier viel Bewegung aufgekommen. Ältere, vertraute Texte waren von der Masse an Neuzugängen nach unten gespült worden.
Mit dem Handy machte sie Fotos von allen Artikeln, die sie öffnen konnte. Nach etwa zwanzig kehrte sie zur Suche zurück und gab ein paar andere Stichworte ein. Sie arbeitete hastig und hämmerte in die schwerfälligen Tasten der alten Tastatur. Ihr Nacken kribbelte, immer wieder glitt ihr Blick zur Uhr an ihrem Handgelenk. Schließlich – sie hatte fünfzig Minuten ihrer Stunde Zeit verbraucht – schloss sie alles, löschte die Suche penibel und rief eine Seite für Kinderpornografie auf. Während sie noch auf so viele Werbeanzeigen wie möglich hämmerte, sprang sie auf und schnappte ihre Tasche.
Ein PopUp-Fenster öffnete sich und spielte laute Musik ab. Der Besitzer des kleinen Ladens fuhr zusammen und eilte zu seinem Rechner. Iris stolzierte an ihm vorbei und war bereits draußen, bevor der arme Spanier die Bescherung erblickt hatte. Sein Schimpfen hörte sie nicht mehr.
In einer schmalen, dunklen Gasse wurde Iris langsamer und nahm die Kopfhörer heraus. Jetzt wollte sie Ruhe. Während sie den MP3-Player verstaute, hörte sie Schritte hinter sich. Zwei Gestalten erschienen am Ende der Gasse und bauten sich dort auf. Caprice sah sich um. Drei weitere Männer standen vor ihr und versperrten den Weg. Sie sah zwei mit Baseballschlägern, doch die anderen hielten ihre Waffen verborgen. Was nur eines bedeuten konnte: Die Kerle waren keine Amateure.
„W-was wollen Sie? Ich habe kein Geld!“, stammelte Iris auf Englisch so verängstigt wie möglich.
„Oh, wir wollen kein Geld“, sagte einer der beiden Männer in ihrem Rücken. Er sprach Deutsch, wenn auch mit einem Akzent. In der Hand, die er weiter hinten hielt, blitzte eine Pistole auf. „Und das weißt du ganz genau … Firestarter.“