Abseits der Wege lag noch Schnee in einigen schmalen Schluchten und Felsfalten. Kaltnass war er in Pradiyas Schuhe gekrochen und tränkte nun ihre Socken, doch sie hielt sich tapfer in ihrem Versteck verborgen aus. Den langen Rock presste sie mit beiden Händen gegen ihre Knie, sodass nur der obere Teil ihrer Schienbeine, über den Socken, dem kalten Bergwind ausgesetzt war. Die Stoffjacke hatte sie inzwischen übergezogen, der Saum ging ihr bis zu den Oberschenkeln. Trotzdem war das Warten eine Folter. Als Tili in Sicht kam, atmete Pradiya erleichtert auf, ehe sie sich tiefer in die Felsspalte schob.
Es bestand eigentlich keine Gefahr, dass Amoxtili sie sehen würde. Die älteste der drei Schwestern ging eiligen Schrittes vorbei, ihre schweren Stiefel donnerten laut auf den Steinquadern der Straße, die Hände hatte sie in den Taschen ihres Wollumhangs versteckt und den Blick auf den Boden gerichtet. Die grauen Ohren, die ihre Bergfuchsmütze krönten, zitterten im Wind, als wäre Tili ein Fuchsmädchen und keine Elfe.
Als ihre Schwester an dem Versteck vorbei war, schlicht Pradiya vor und spähte um den Stein herum, bis Tilis Gestalt außer Sicht und ihr fester Schritt nicht länger zu hören waren.
Dann schulterte Pradiya ihren Schulranzen und lief los, zurück zu dem kleinen Haus auf den Steilklippen.
Als sie die Tür öffnete, hob ihre Mutter den Kopf. Pradiya schloss die Tür, streifte ihre Schuhe in dem kleinen Vorraum ab und trat durch den Torbogen aus einem Gerüst von rotem Holz in den großen Wohnraum.
„Kind“, sagte ihre Mutter leise, doch Pradiya konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme gut hören.
Von dem Wohnraum mit der Kochecke gingen vier Shojitüren ab, aus weißem Papier, das auf rote Holzrahmen gespannt worden war. Außerdem führten zwei stabile Holztüren vom Vorraum zum Waschraum und der Besenkammer. Diese beiden Räume, komplett aus Holz statt aus Papier erbaut, erstreckten sich über die Vorderfront des Hauses und fungierten als Wärmedämmung. Die vier Shojitüren führten rechts in die Schlafzimmer, die sich an die Bergwand schmiegten. Links lag die offene Küche und daneben ein Fenster, vor dem der Schaukelstuhl von Yomisha Zyanya leise quietschte. Die Rückwand des Hauses besaß ein großes Fenster vom Boden bis zur Decke, das einen Ausblick auf die Bergwand bot, über die kleine Flüsschen von Regenwasser liefen.
Pradiya ignorierte ihre Mutter, betrat ihr Zimmer – das hinterste der vier – und hängte ihren feuchten Mantel dort ordentlich auf einen Haken an der Wand. Dann erst stellte sie sich dem Wohnraum und ihrer kränklichen Mutter.
Diese starrte wieder aus dem großen, runden Fenster und sah auf den Abgrund neben dem Haus, den Himmel und die gewaltige Brücke auf den dicken Säulen, die im fast immerwährenden Nebel zwischen Akijama und den tieferen Bergen versanken. Es gab eine Fensterbank – oder eher ein Brett, das Amoxtili an die Wand geschraubt hatte, sodass man etwas unterhalb des runden Rahmens abstellen konnte. Dort stand der Reis, erkaltet und unangetastet. Pradiya nahm die Schüssel in die Hand und kniete sich neben den Schaukelstuhl, den Yomisha Zyanya fast niemals verließ.
„Du musst etwas essen“, sagte Pradiya, während sie nach dem Tonlöffel griff.
„Und du musst lernen, mein Schatz“, seufzte ihre Mutter mit schwacher Stimme. Sie öffnete den Mund, damit Pradiya ihr den ersten Löffel Reis anreichen konnte. Nachdem sie gekaut und geschluckt hatte, fuhr sie fort: „Deine Schwestern verlassen sich auf dich. Und sie geben sich wirklich viel Mühe, um die Gebühren zu bezahlen.“
„Ich weiß.“ Pradiya reichte ihrer Mutter den nächsten Löffel. Sie wich den blassen Augen Yomishas aus. Diese Augen hatte Tili geerbt, doch während die Augen der ältesten Schwester kräftig und intensiv bernsteinfarben erstrahlten, waren Yomishas Augen blass und farblos geworden. Ihre Haut war milchig, die Haare silbergrau. Der Geist einer einst wunderschönen Frau.
Ihre Mutter schwieg und Stille füllte den düsteren Wohnraum wie ein lebendiges Wesen, das sich in jeden Winkel ausbreitete. Pradiya fütterte sie weiter, während ihre Gedanken anderswo weilten. Sie wusste, dass ihre Schwestern mühsam sparten, um ihr die Schule zu ermöglichen. Denn die letzte Hoffnung ihrer Familie ruhte darin, dass Pradiya eine Magierin wurde. Magier wurden ausgebildet, unabhängig von ihrer Herkunft. Sie wurden für diese Ausbildung bezahlt, unabhängig von ihrer Herkunft. Sie standen in Ehren, unabhängig von ihrer Herkunft, und das könnte ihre Familie aus der Armut retten, in der sie solange gefangen war, wie die drei Schwestern denken konnten.
Pradiya seufzte. Alles hing davon ab, ob sie magisches Talent besaß oder nicht. Doch was würde geschehen, wenn sie es nicht besaß? Sie war zwar eine Elfe, und etwa die Hälfte aller Elfen trugen den Samen der Magie in sich, doch in ihrer Familie schien es diese Magie nicht zu geben. Amoxtili war sogar eine Wissenschaftlerin geworden, ein Beruf, den die Zwerge dominierten!
Langsam leerte sich die Reisschale.
„Du solltest wirklich hingehen.“
Pradiya sah ihre Mutter an. „Ich weiß.“
„Warum gehst du dann nicht?“
„Ich …“ Wie sollte sie das erklären? „Ich habe Angst.“
„Ich bin sicher, dass du uns nicht enttäuschen wirst. Du bist eine wunderbar begabte Elfe.“
Pradiya lächelte pflichtschuldig, obwohl sich ihre Angst vor der Magieprüfung nun nur noch erhöhte. Doch das war nicht alles, wovor sie Angst hatte. Noch viel größer war die Furcht, dass sie eines Tages nach Hause käme und ihre Mutter leblos in ihrem Schaukelstuhl vorfinden würde. Sie war diejenige, die als erste zurückkehrte, während Tili oft den ganzen Tag arbeitete und Sagos Arbeit sogar erst am Abend richtig losging. Diese grausige Furcht saß ihr schon lange tief im Magen. Sie könnte es sich niemals verzeihen, wenn ihre Mutter alleine sterben müsste.
Doch das konnte sie nicht aussprechen. Yomisha ging es mit jedem Tag schlechter. Vielleicht blieben ihr nur noch Tage, vielleicht ein Jahr, vielleicht fünf. Niemand konnte das genau sagen, und die Schwestern schwiegen über dieses Thema. Niemand wollte darüber nachdenken.
Pradiya kratzte die letzten Reiskörner zusammen und gab sie ihrer Mutter. „Du verstehst das nicht.“
„Ich denke, ich verstehe es sehr gut“, sagte Yomisha kauend. „Du bist nicht bereit, für uns über deinen Schatten zu springen.“
Pradiya schenkte ihr einen kalten Blick.
Ihre Mutter rollte mit den Augen. „Ich weiß – spuck‘s schon aus.“
„Du bist diejenige, die nicht über ihren Schatten springt“, sagte Pradiya auch sofort. Es war ein alter Schlagabtausch zwischen ihnen. „Was auch immer mit dir und Vater war, ist an unserer Situation schuld!“
Ihre Mutter verzog das Gesicht. „Du hast ja recht, Kind.“
Pradiya legte den Löffel in die Schale und trug beides zur Spüle, um sie abzuwaschen.
„Aber das ist etwas anderes. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern und ich zahle täglich den Preis. Du aber könntest uns retten“, beharrte Yomisha.
Pradiya schüttelte seufzend den Kopf. Sie hatte einen Druck im Bauch, der sich mit dem Verlauf des Gesprächs immer weiter gesteigert hatte, bis er in einem Schrei nach draußen explodieren wollte. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Während ihre Mutter wieder aus dem Fenster starrte, kniete Pradiya sich an den niedrigen Steintisch im Wohnraum und stapelte Schriftrollen neben sich. Es waren Aufsätze über Medizin. Alt und neu, traditionelle und experimentelle Behandlungsmethoden, aus Gai-Shitori genauso wie von den umliegenden Ländern, und Pradiya hatte in der Schulbibliothek auch zwei Rollen über Heilmethoden der exotischsten Orte gefunden.
Die Stunden verstrichen, während sie über den Rollen brütete. Ihre Mutter schaukelt mit leisem Quietschen vor sich hin. Nur gelegentlich stand Pradiya auf und setzte ihre Mutter anders hin, hüllte sie in warme Decken oder gab ihr etwas zu trinken.
„Ich habe einen Arzt angesprochen“, brach Pradiya schließlich das Schweigen.
„Einen Arzt?“ Ihre Mutter klang entsetzt.
„Er ist nicht teuer“, wollte Pradiya sie beruhigen.
„Dann taugt er nichts!“
„So ist es nicht. Hoffe ich.“ Pradiya rollte die aktuelle Schriftrolle ordentlich zusammen. „Kianto ist ein Tiermensch.“
Sie sah ihre Mutter scharf an, doch die erwartete Reaktion blieb aus.
„Das erklärt es.“ Yomisha lächelte.
„Dann hast du nichts dagegen, wenn er herkommt?“
„Kindchen, wir sind selbst Ausgestoßene. Wir können uns den Luxus nicht leisten, auf andere herabzusehen. Oder … wir könnten, doch sollten wir es nicht tun.“