„Pradiya? Kommst du?“
Tili klopfte gegen die Holztür der einfachen Hütte. Die Tür wurde geöffnet und Morimori stand vor ihr.
„Pradiya kommt gleich.“ Mit einer Handbewegung lud er sie ins Innere ein.
Tili sah sich in dem kleinen Raum um. „Gemütlich.“
„Das ist nur das Wartezimmer“, sagte Morimori bescheiden. „Und du kennst es doch.“
„Ich kannte es, bevor es grün gestrichen wurde“, korrigierte Tili. Sie seufzte. „Ich war lange nicht mehr hier. Wie macht sich Pradiya?“
„Sie hat es ziemlich gut verkraftet, durch die Magieprüfung gefallen zu sein“, meinte Morimori. „Sie schien geradezu euphorisch. Und sie ist eine geborene Heilerin. Eine bessere Schülerin hätte ich mir nicht wünschen können.“
Tili hob eine Augenbraue. „Sprichst du wirklich von Pradiya?“
„Sie kommt immer pünktlich, ist begeistert, und was sie nicht bereits über die Heilkunst weiß, lernt sie so schnell wie kein anderer“, sagte Morimori. „Du kannst sehr stolz auf deine Schwester sein.“
„Das bin ich“, sagte Tili gedämpft, denn in diesem Moment wurde eine Tür aufgeschoben und Pradiya kam aus einem Hinterzimmer.
Tili stöhnte leise auf. Pradiyas Arme waren bis zu den Ellbogen mit Blut bedeckt. „Ich bin fertig, die Wunde ist vernäht …“ Pradiya bemerkte Tili und starrte sie an. „Was tust du denn hier?“
„Das Essen?“, rief Tili ihr seufzend in Erinnerung.
„Oh!“ Pradiya wurde blass. Sie starrte auf ihre beschmierten Hände. „Was soll ich bloß anziehen?!“
„Wasch dich einfach und zieh den Kittel aus!“, stöhnte Tili, die hoffte, dass ihre Schwester nicht auch die Kleidung unter ihrer Heileruniform beschmiert hatte.
Pradiya rauschte aus dem Raum.
„Sie arbeitet wirklich sehr viel“, meinte Morimori entschuldigend.
„Das weiß ich ja“, seufzte Tili. „Aber gerade heute … ich denke, wir sind einfach alle ein wenig gestresst. Wir sind schon spät dran.“
Wenig später trugen zwei Paki die Schwestern auf den Palastberg. Nicht vorbei an den unzähligen Tempeln zu Ehren der verschiedenen Edelsteine im Inneren der Berge, sondern über die breite Fortsetzung der Hauptstraße, eine goldene Marmortreppe, die in gerader Linie vom großen Platz am Ende des Diamantsviertels hinauf zum Berg führte, nur von einigen langen Balken gestützt, sodass sie fast zu schweben schein. Als sie sich der Treppe näherten, die zu den Toren des Palastes führte, wurden die Reittiere langsamer. Tili und Pradiya ließen sich von den Rücken der Tiere gleiten, als ihnen Sago in der goldenen Uniform der Palastwache entgegenkam.
„Da seid ihr ja endlich!“
„Sind wir zu spät?“, fragte Tili besorgt.
„Nein – aber fast!“ Sago zog ihre Schwestern durch die Tore, eine Treppe hinauf und in einen großen Speisesaal. Hier bremsten sie und gaben sich Mühe, nicht allzu schwer zu atmen.
Die Tische waren reich gedeckt. Es waren zwei Tische, ein kleinerer Holztisch und ein großer Steintisch, dessen Platte noch über Tilis Kopf endete. An diesem Tisch saßen die Yetis auf Sitzen aus rauem Stein. Am Holztisch saßen hauptsächlich Elfen und einige Zwerge. Tilis ehemaliger Arbeitsgeber Steinhäuser war unter ihnen, doch auch Ajani Saphirauge und andere Zwerge von der Rebellion.
Am Kopfende erhob sich die Kaiserin, als sie die Schwestern bemerkte.
„Amoxtili!“ Chousokabe-Xin breitete die Arme aus. „Wir haben auf dich gewartet!“
Tili ging voraus, ihre Schwestern wie Schatten im Schlepptau. Ihr Platz war an der rechten Seite der Kaiserin, dort, wo früher wohl Xpiakane gesessen hatte. Nervös zupfte Tili ihr Kleid zurecht. Sie trug nur ungern Kleider, doch heute war es unerlässlich gewesen.
Xin umarmte sie und ihre Schwestern herzlich. Sago und Pradiya erhielten Sitzplätze in Tilis Nähe. Das stand zwar einer Gardistin und Heilerin nicht zu – sehr wohl aber den Nichten der Kaiserin.
„Du bist also die neue Beraterin?“, fragte sie ein junger Elf mit honigblondem Haar, als sie sich setzte.
Tili nickte und reichte ihm so elegant es ihr möglich war eine Hand. Für die eingefleischten Höflinge sah sie vermutlich aus wie ein Bauerntrampel. „Amoxtili Zyanya.“
„Ich bin Chiaos‘Nyailin-Xairin Zakanono. Du kannst Chiaos sagen, denn ich denke, wir sind verwandt. Du bist die Nichte meiner Mutter Xin.“
Tili schluckte leicht. Der Sohn der Kaiserin! „Dann … dann sag bitte Tili zu mir.“
„Nun, Tili …“ Chiaos stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. „Du und deine Schwestern, ihr habt Großartiges geleistet! Ihr habt den Yetis zu Gerechtigkeit verholfen und den Zwergen zu Freiheit.“
„Ich würde nicht so weit gehen, von Gerechtigkeit oder Freiheit zu sprechen“, widersprach Tili vorsichtig. Sie wollte Chiaos nicht verärgern. „Die Arbeiten am Palast wurden gestoppt, ja, und die Yetis bekommen vermutlich auch Land in den Bergen, doch sie bekommen das Land von Akijama nicht zurück. Die Zwerge arbeiten immer noch in den Minen, nur zu etwas besseren Bedingungen. Und bis es wirklich Frieden zwischen Zwergen und Elfen gibt …“
Sie merkte, dass Chiaos sie mit einem weichen Lächeln bedachte. „Dann hast du als Beraterin ja noch viel vor dir.“
„Solche Arbeiten sind vielleicht niemals vorbei“, meinte Tili.
Chiaos grinste. „Da sprichst du wahre Worte.“
⁂
Nervös knetete Pradiya ihre Hände im Schoß.
Sie war bereits satt. Um sie her wurden Gespräche geführt, jedoch nicht mit ihr. Tili sprach mit Kaiserssohn Chiaos, der momentan in der Thronfolge direkt vor ihr stand. Sago lachte über irgendeinen Witz von Cizikuni-Tage Tzacorii, dem Kommandanten der Garde.
Ihre Tante, die Kaiserin, redete mit Gorr ernst über Dhubaayana. Der Krieg mit dem Dschungelreich war lange Zeit in kleineren Scharmützeln geführt worden. Chousokabe-Xin wollte ihn beenden.
„Die Zwerge können die Edelsteine für die Zahlungen schürfen. Die Berge von Gai-Shitori sind reich“, sagte Gorr.
Chousokabe schüttelte den Kopf. „Das wäre nur eine neue Sklaverei. Sie verdienen ein besseres Leben.“
„Und woher wollt Ihr die Abgaben nehmen?“, fragte der Yeti mit tiefer Stimme. „Wie wollt ihr Dhubaayana entschädigen?“
Chousokabe seufzte und strich sich durch das Haar. „Mir fällt schon etwas ein.“
Unruhig rutschte Pradiya auf ihrem Stuhl hin und her. Das Kleid fühlte sich ungewohnt an, obwohl es Tili mit ihrem Gewand noch schlimmer zu gehen schien. Der Abend schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Sie sollte sich freuen, dass alle hier gemeinsam nach einer Lösung suchten, um Zwerge, Elfen und Yetis endlich zu vereinen.
Aber ihr schmerzte der Kopf von all diesen großen Fragen. Die Gerechtigkeit existierte bisher nur dem Namen nach. Viele Elfen weigerten sich schlicht, Zwerge als ihnen ebenbürtig anzusehen. Nach hunderten von Jahren war dieser Wandel womöglich auch etwas zu rasch gekommen. All das würde Zeit brauchen.
„Das ist ein Bernstein“, erklärte Chiaos Tili soeben und präsentierte ihr einen goldenen Stein, den er an einer Kette um den Hals trug. „Er stammt nicht von den Kristalldrachen, sondern von uralten Bäumen. Die Tannennadel darin ist einige hundert Jahre alt, aber sie wurde im Stein eingeschlossen bewahrt.“
„Unglaublich!“, hauchte Tili begeistert. „Was für ein merkwürdiger Stein.“
Chiaos lächelte. „Ich mag ihn. Für mich verkörpert er Erinnerung. Auch nach so vielen Jahren sieht das Blatt noch aus wie an jenem Tag, als es eingeschlossen wurde.“
Tili nickte. „Faszinierend. Dun du trägst ihn wegen Akijama?“
Chiaos nickte. „Ich glaube, dass die Erinnerung unsere größte Waffe ist. Was hier geschehen ist, konnte nur geschehen, weil die Ereignisse der Stadtgründung vergessen wurden.“
Nachdenklich stocherte Tili in ihrem Essen herum. Chiaos redete noch weiter, doch sie hörte nicht mehr zu. Ihre Gedanken glitten zu den Zwergen, die vor hundert Jahren eine Stadt für die Elfen erbaut hatten.
Wie auch Lankretes Rauchquarz waren sie alle gestorben. So, wie auch Tili, Sago und sie selbst eines Tages sterben würden. Nicht nach einem Leben von Jahrtausenden, wenn sie sich als Elben freiwillig dazu entschieden, sondern dann, wenn der Tod der Sterblichen nach ihnen griff.
Sie musste schlucken und legte die Gabel neben den Teller.
Es war so viel zu tun – was, wenn sie das neue Akijama nie zu Gesicht bekommen würde? Jene Stadt des Friedens und der Erinnerung, von der Chiaos schwärmte?
Sie versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Doch der finstere Gedanke ließ sich nicht abschütteln.
Akijama war noch lange nicht gerettet – und ewig würden sie nicht Zeit haben, um es neu aufzubauen.
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!