Die Arbeiten begannen drei Tage, nachdem man Amoxtili angeworben hatte.
Von Yaxori Steinhäuser wusste Tili nur, dass sie in den frühen Morgenstunden bei einem der vielen Verwaltungsgebäude rings um den Palastberg erscheinen sollte. Sie brach früh auf, noch bevor Pradiya und Sago aus dem Haus waren, ging die breite Hauptstraße bis fast zu ihrem Ende und suchte das entsprechende Gebäude im Saphirviertel, dessen Häusern goldenen Fensterrahmen in Wänden aus bunt lackiertem Holz hatten, mechanische Torflügel statt einfachen Türen und wo sich große Reliefs der legendären Kristalldrachen, deren Leiber angeblich in den Bergen unter ihnen zu den reichhaltigen Edelsteinadern zerfallen waren, über die steinernen Seiten der Tempel und den nackten Fels zogen. Die Straßen bestanden aus poliertem Marmor, hier und da verliefen die Schienen der Eisenbahn. Die Elfen, an denen Tili vorbeikam, musterten sie und ihre Kleidung befremdet.
Sie gehörte nicht hierhin. Das spürte sie noch deutlicher als gewöhnlich. Für die Reichen hier war sie eine heruntergekommene Bettlerin, und sie wurde sich unangenehm bewusst, dass ihre robuste Arbeitskleidung vielleicht nicht die beste Wahl gewesen war.
Das Gebäude, das sie suchte, sah schließlich schon nahezu schlicht aus, ein Shoji-Haus mit knallrot lackiertem Holz und strahlend weißem Papier auf den Rahmen, sauberblitzenden schwarzen Dachschindeln und goldenen Akzenten: Die Dachrinnen und die Zeichnung des Schicksalsrads mit den acht Speichen auf den Türen.
Tili trat ihre Schuhe auf einem Stück trockener Erde aus, ehe sie über die roten Stufen auf die vorgelagerte Veranda stieg und vorsichtig gegen die Tür klopfte.
„Herein.“
Sie drückte die Schiebetür zur Seite und betrat ein Wunderland.
Mitten im Haus blühte ein Kirschbaum, dunkles, rötliches Holz mit weißen Blüten. Der Boden war von Blüten gesprenkelt und mit dunklem, kräftigem Gras bedeckt, bis auf einen breiten Streifen roten Holzes, der als Boden eines Säulengangs einmal rings um den Garten führte. Durch das Gras zogen sich Sandflächen mit mesmerisierenden Mustern, die jemand mühevoll eingeharkt haben musste, Wege aus weißem Kies führten zu malerischen Bänken im Grün. Neben dem Kirschbaum wuchsen auch einige sorgfältig gestutzte Beerensträucher in dem kleinen Garten.
Tili merkte, dass ihr der Mund offenstand. Sie klappte ihn zu und entdeckte eine kleine Gruppe Personen auf einem Kiesplatz vor dem großen Kirschbaum. Mit leicht hochgezogenen Schultern ging die auf die Leute zu und musterte sie dabei.
Es waren mehrere Elfen und drei Zwerge. Die meisten Elfen trugen tatsächlich ähnliche Kleidung wie Tili, mit vielen Taschen und Gürteln voller Werkzeug, wenn auch alles von deutlich höherer Qualität war. Doch eine Person stach aus dieser Gruppe hervor.
Zuerst fiel Tili das lange, hauchdünne Kleid auf, das die Kurven der Elfe betonte. Der Stoff mochte Seide oder etwas noch dünneres sein, von einem zarten Lila wie die erste Stunde der Dämmerung, wenn sich noch keine Dunkelheit über das Land senkte, an einem klaren, leicht nebeligen Abend. Der Stoff glitzerte mit jeder Bewegung der hochgewachsenen Frau, wie Wasser oder ein Sternenhimmel.
Als Tili sich näherte, drehte die Elfe sich um und sie sah, dass ihr Kleid an der einen Schulter von einer Brosche in Form eines wachsamen, blauen Auges gehalten wurde. Blau waren auch die kurzen Haare, die schmalen, leicht spöttischen Augen dagegen fast so lila wie das Kleid. Die Haut war von einem cremigen Hellbraun, beinahe widersprüchlich normal, doch harmonisch. Schwarze Linien ringelten sich um das rechte Auge der Elfe. Tili stockte. War die Frau überhaupt eine Elfe? Von ihrer Schönheit, Statur und ihrem Gebaren geblendet merkte Tili erst jetzt, dass die Frau keine spitzen Ohren hatte. Eine Menschenfrau, doch mit einer Aura von Macht und Selbstbewusstsein, die jeden Elf in den Schatten stellte. Eine Macht, die auch das Paradies im Inneren geschaffen hatte.
Eine Magierin.
„Willkommen“, sagte die Frau und musterte Tili. „Wie heißt du?“
Tili merkte, dass sie die Gesellschaft viel zu lang erstaunt angestarrt hatte.
„Amoxtili“, brachte sie hervor. Ihre Stimme klang jung und eingeschüchtert. Sie räusperte sich. „Amoxtili Zyanya. Ich bin Mechanikerin. Meistermechanikerin.“
„Ah, Steinhäuser schickt dich, nicht wahr?“
Tili brachte nur ein Nicken zustande.
Die Menschenfrau lächelte warm und offenherzig. „Du bist hier richtig, Kind. Ich bin Xpiakane, Beraterin der Kaiserin. Ich werde den Umbau des Palastes überwachen.“
Sie verneigte sich leicht und Tili legte die Arme an die Seiten des Körpers und neigte sich so tief, dass ihr Oberkörper und die durchgestreckten Beine fast einen rechten Winkel bildeten.
Als sie den Kopf wieder hob, wandte sich Xpiakane soeben den restlichen Arbeitern zu und Tili konnte sie genauer mustern. Die Menschenfrau sah streng und unnahbar aus, bis sie lächelte und ein fast unwirkliches Leuchten ihr Gesicht zu erhellen schien. Die Anwesenden waren von ihr gefesselt, so viel war klar. Niemand konnte den Blick lange von ihr abwenden, und Xpiakane badete in der Aufmerksamkeit wie ein Kaiserkarpfen in einem klaren Bergteich.
⁂
Sago wischte den Tresen ab und rieb sich die brennenden Augen. Den ganzen Abend schon war sie auf den Beinen und inzwischen tat ihr wie jeden Abend der ganze Körper weh und die Müdigkeit machte sich bemerkbar. Langsam leerte sich der Barraum, die meisten Anwesenden waren viel zu betrunken, um noch zu reden, und schütteten stumpfsinnig Bier um Bier in sich hinein. Ix-Sago und die anderen Mädchen waren damit beschäftigt, die schlimmste Sauerei bereits zu beseitigen, sodass am nächsten Tag nicht so viel Arbeit auf sie warten würde.
Sie fuhr zusammen, als sie Schreie von draußen hörte. Kämpfe unter Betrunkenen waren keine Seltenheit in diesem Teil der Stadt, doch die Rufe klangen nicht rau, sondern schrill und voller Panik.
Die beiden anderen Mädchen tauschten einen ängstlichen Blick und wichen hinter den Tresen zurück. Sago packte eine schwere Amphore mit Wein und näherte sich angespannt der Tür.
Vorsichtig sah sie auf die Straße und hielt nach Bewegung Ausschau. Die Monde waren zwar voll, doch von Wolken bedeckt. Trotzdem konnte sie eine große Gruppe dunkler Gestalten sehen, die im Schein mehrerer Fackeln durch die Straßen zogen.
Ein lautes Krachen ließ sie zurückfahren. Jemand hatte etwas Schweres auf die Holzwand eines Gebäudes geworfen, vermutlich einen Stein. Laute Stimmen ertönten, die etwas skandierten: „Nieder mit der falschen Kaiserin – Nieder mit der Lüge! Nieder mit der falschen Kaiserin – Nieder mit der Lüge!“
Das klang übel. Sago zog sich in den Verkaufsraum zurück. Einer der Betrunkenen war schlagartig nüchtern geworden und starrte sie verschreckt an. „Wa…?“
Sago legte einen Finger an die Lippen und sagte mit möglichst ruhiger Stimme zu den beiden verängstigten Mitarbeiterinnen: „Wer von euch hat den Schlüssel?“
Sie kannte nicht einmal die Namen der Mädchen. In diesem Geschäft war nichts von Dauer, es lohnte sich nicht, Bindungen aufzubauen.
Eines der Mädchen reichte ihr einen Schlüssel.
„Löscht die Öllampen“, befahl Sago. „Bringt die Leute nach hinten.“
Sie schloss die Eingangstür ab und räumte, so leise und schnell sie konnte, die Stühle auf die vorderen Tische. Sie hatte nicht viel Zeit, bis die Meute auf der Straße vor der Bar angekommen war. Sago tauchte im letzten Moment in den Schatten der hölzernen Eingangstür, sodass sie von den großen Fenstern aus nicht zu sehen war. Die beiden Mädchen und die Gäste hockten im hinteren Teil des Ladens und der vordere erweckte durch die zusammengestellten Tische hoffentlich den Eindruck, dass das Geschäft bereits geschlossen hatte.
Sago drückte den Rücken gegen die Tür und schloss die Augen. Ihre Hände zitterten.
Sie hörte Schritte und den lauten Ruf, den die Fremden immer wieder wiederholten: „Nieder mit der falschen Kaiserin – Nieder mit der Lüge!“
Sie presste die Lippen aufeinander und hoffte, dass das Schicksalsrad sie heute nach oben tragen würde, und die Fremden nicht entschieden, Steine oder gar ihre Fackeln auf die Bar zu werfen.
Schwerfällig zog die Menge vorbei. Es waren vielleicht fünfzig Personen, doch es kam Sago vor wie eine Ewigkeit, bis die letzten endlich vorbei waren.
Erleichtert, fast schluchzend atmete sie auf, als die Straße wieder dunkel und verlassen war.
⁂
„Komme!“, stöhnte Pradiya, als Tili zum dritten Mal rief.
Todmüde begab sie sich in den Wohnraum, wo ihre Schwestern schon am Tisch knieten, während ihre Mutter im Schaukelstuhl vor dem runden Fenster saß.
Pradiya hatte schlecht geschlafen. Heute würde der Arzt kommen, um sich Yomisha anzusehen. Sie hatte Angst vor dem, was er ihr möglicherweise sagen würde, und die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Als sie sich an den Tisch setzte, bemerkte sie dunkle Ringe unter Sagos Augen.
„Was ist denn mit dir passiert?“
Ix-Sago seufzte. „Das Quarzviertel wurde heute Nacht angegriffen.“
„Was?“, entfuhr es Pradiya. „Geht es dir gut?“
„Ja, alles in Ordnung. Die wütende Menge ist an der Bar vorbeigezogen. Aber sie haben ein Feuer gelegt, und nachdem das gelöscht war, kamen Wachen und haben alle befragt. Ich bin erst vor ein paar Stunden nach Hause gekommen.“
„Ach du Schande!“
Tili nickte. „Das trifft es wohl. Esst bitte. Ich muss gleich los.“
Auch Tili sah müde aus, fand Pradiya. „Wie läuft es denn auf der neuen Arbeit?“
„Noch läuft nichts. Gestern wurden wir nur über den Ablauf informiert, wie lange wir arbeiten werden und wie wir auf den Berg kommen …“
„Erzähl schon!“, drängte Pradiya.
„Ich darf nicht viel sagen“, wehrte Tili ab. „Es gibt eine strikte Geheimhaltung.“
„Aber etwas bedrückt dich doch, das sehe ich!“ Pradiya ließ nicht locker.
„Nun ja …“ Tili zögerte. Dann überwand sie sich offenbar. „Die Umbaumaßnahmen sind sehr extrem. Wir werden tief in den Berg hineinbohren und riesige Mechanismen erschaffen. Am Ende wird sich das ganze Schloss bewegen können. Umwandeln. Man kann ganze Räume austauschen, Mauern hochziehen, Geschütztürme wie aus dem Nichts erscheinen lassen.“
„Also ein Kriegsturm“, erkannte Sago.
„Nur größer. Viel größer“, meinte Tili. „Als würden wir uns auf einen Krieg vorbereiten, den die Kaiserin allein mithilfe des Schlosses führen will.“
„Unglaublich!“, hauchte Pradiya.
Tili nickte. „Die Bauaufseherin meinte, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt. Man will nur vorbereitet sein, falls etwas passiert. Trotzdem mache ich mir Sorgen.“
„Das kann ich verstehen. Und nach dem, was gestern passiert ist“, fügte Sago hinzu, „gibt es vielleicht wirklich Grund zur Sorge.“
Schweigend sahen die Schwestern einander an.
„Wir werden sehen“, meinte Tili schließlich und stand auf. „Ich muss los. Bis später.“
Sago und Pradiya beendeten das Frühstück.
„Musst du nicht auch langsam los?“, fragte Sago.
„Ich, ähh“, stammelte Pradiya. Da Tili nun immer vor ihr das Haus verließ, hatte sie sich eigentlich darüber gefreut, das Versteckspiel aufgeben und im Haus bleiben zu können. „Was ist mit dir?“
„Ich muss heute nicht arbeiten“, sagte Sago zu Pradiyas Entsetzen. „Die Kaiserin hat das ganze Quarzviertel abriegeln lassen.“
„Was?!“, fragte Pradiya zum zweiten Mal heute.
„Sie will weitere Ausschreitungen und Feuer verhindern“, erklärte Sago mit misstrauischem Blick. „Was ist denn los mit dir?“
Pradiya ließ die Schultern hängen. „Heute kommt ein Arzt. Für Mutter.“
„Was? Wieso weiß ich nichts davon?“, fuhr Sago auf. „Wolltest du etwa hierbleiben und mit ihm reden?“
„Nur heute“, stammelte Pradiya mit gesenktem Kopf. „Er kann vielleicht helfen.“
Sago aber verengte die Augen. „Was für ein auffälliger Zufall!“ Dann sprang die Schwarzhaarige auf und packte Pradiyas Tasche, die neben der Tür stand.
„Nein, warte!“, rief Pradiya, als Sago auch schon die Tasche aufriss und den Inhalt auf den Boden schüttete.
Unzählige Schriftrollen verteilten sich im Wohnraum. Sago hob einige an und las die Aufschrift.
„Medizin für Fortgeschrittene? Die Heilkraft der Bergkräuter? Wissen der Ahnen? Das lernt ihr doch wohl nicht in der Schule!“
„Sago, bitte …“
„Was ist das alles? Hast du die gestohlen?“
„Nein! Die sind nur geliehen. Ich lese sie und bringe sie zurück. Das merkt keiner!“
„Wie lange geht das schon so? Wie lange schwänzt du die Schule für … für das hier?“
Pradiya zog die Nase hoch. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sago seufzte und packte die Rollen wieder zusammen und in die Schultasche. Dann kniete sie sich vor Pradiya.
„Wie lange?“, fragte sie sanfter.
„Seit drei Monaten.“
„Drei?!“
Pradiya konnte ihre Schwester nicht ansehen. Sie fühlte sich kraftlos.
„Wann kommt dieser Arzt?“, fragte Sago weiter.
Pradiya wischte sich ein paar Tränen von den Wangen. „Eine Stunde.“
„Gut.“ Sago atmete tief durch. „Wir werden uns anhören, was er zu sagen hat. Aber wenn Tili heute Abend wiederkommt, wird sie davon erfahren. Und ab morgen gehst du wieder zur Schule, und wehe dir, wenn du den Abschluss nicht schaffst.“
Pradiya nickte, dankbar, dass der Sturm vorerst an ihr vorübergezogen war.
Sago schenkte ihr einen unbarmherzigen Blick. „Jetzt sag mir – was ist das für ein Arzt?“