Für Zwerge gab es in Akijama bestimmte Gassen, die sie auf dem Weg zu ihrer Arbeit nehmen konnten. Es waren die düsteren, engen Hintergassen, die sich zwischen den Rückseiten der Häuser befanden, während die breiten und gut ausgebauten Straßen vor den Vordertüren verliefen. Tili war gezwungen, den Hintergassen zu folgen, die nur an wenigen Stellen mit den Hauptstraßen verbunden waren, denn ihr Ziel lag im Kohleviertel am Stadtrand, beim Eingang in das Gassennetzwerk der Zwerge, direkt neben dem steilen Bergpfad, der von den Bienenstöcken und Minen hinauf auf die Hochebene führte. Hier gab es ein kleines Tor, durch das die Zwerge jeden Morgen auf die Ebene gelassen wurden.
Von hier aus konnte man auch das große Stadttor sehen, dort, wo die Hauptstraße von Akijama auf das breite Viadukt traf, die Straße auf massiven Steinbögen, die leicht geneigt und schnurgerade weit nach unten ins Tal führte, der Fuß irgendwo im Nebel versunken. Beide Tore standen frei, mit nur wenigen Metern Gitter zu den Seiten, denn der Abhang war überall so steil, dass man dort nicht heraufklettern konnte, und genügte als Schutz für die reiche Bergstadt.
Tili blieb einen Moment vor dem niedrigen Steinhaus stehen, dem Wächtergebäude am kleinen Tor, ehe sie tief durchatmete und anklopfte.
„Herein!“, knurrte eine tiefe Stimme.
Tili öffnete die Tür. Der dickliche Zwerg ihr gegenüber zuckte zusammen und hob den Blick. „Ja?“
„Amoxtili Zyanya, Herr Steinhäuser“, stellte sie sich vor. „Ihr wolltet mich sprechen.“
Der Zwerg musterte sie einen Moment und nickte langsam. Er trug kostbare, mit Edelsteinen besetzte Kleidung und einen Mantel aus seltener, brauner Dairinwolle. Sein Blick war abschätzig, wurde aber plötzlich weicher.
„Wir haben uns entschieden, dich an eine andere Baustelle zu versetzen.“
„Versetzen?“, wiederholte Tili. Sie hatte fest damit gerechnet, eine magere Abfindung und hoffentlich den Lohn für diesen Morgen in die Hand gedrückt zu bekommen.
„Wir haben einen Eilauftrag bekommen“, fuhr ihr Arbeitgeber unbeirrt fort. „Sie suchen gute, verschwiegene Arbeiter, und du bist nun einmal unsere beste.“
Das hörte Tili zum ersten Mal. Klar, sie war hochqualifiziert. Aber die beste Arbeiterin? Noch nie hatte einer der drei Auftraggeber, zwischen denen sie seit Jahren wechselte, sie gelobt.
„Wo… worum geht es?“, stammelte sie.
„Dann bist du interessiert?“ Der Zwerg schlug die Hände zusammen und eine Wolke irgendeines teuren Puders stieg auf.
Tili nickte überrumpelt.
„Es geht um den Umbau des kaiserlichen Palastes.“
„Der Palast?!“, entfuhr es ihr.
Yaxori Steinhäuser nickte. „Es wird eine Schweigepflicht geben. Keine Details über die Arbeiten dürfen nach draußen gelangen. Deswegen wird es nur eine ausgewählte Handvoll Arbeiter geschickt. Selbst ich weiß nicht genau, was sie vorhaben. Aber sie nehmen eine talentierte Mechanikerin mit Kusshand.“
Tili wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Hier ist der Vertrag.“ Steinhäuser reichte ihr eine schlanke Schriftrolle, deren Griff mit Mechaniken aus Kupfer besetzt war. Statt sich einfach abwickeln zu lassen, wurde das Papier im Inneren von einer metallenen Röhre geschützt, die man zunächst öffnen musste. Tili nahm sie entgegen, so folgsam wie ein Pakikalb.
„Die Bezahlung ist gut. Sehr gut“, sagte Steinhäuser, der ihren zweifelnden Blick missdeutete.
Tili entrollte das Pergament und überflog den Vertrag. Absolute Verschwiegenheit für – sie schnappte nach Luft – 18.000 Rai. Das waren drei Jahresgehälter des teuersten Meistermechanikers. Das würde allemal für das erträumte Stadthaus reichen.
„Warum die Schweigepflicht?“, stammelte sie.
Steinhäuser schnaubte über ihre Naivität. „Es geht um den Palast der Kaiserin! Sie werden vermutlich die neusten Techniken für Geheimgänge und so weiter nutzen. Kein Feind unserer Kaiserin darf davon erfahren. Und? Unterschreibst du?“
⁂
Der Tag neigte sich dem Abend entgegen. Als die Sonne unterging, wurde es kalt, doch Sago kam schnell genug ins Schwitzen.
Tagsüber war ihre Arbeit wenig fordernd. Sie kam früh an und beseitigte den Schmutz des letzten Abends. Der Barraum wurde geputzt, die Gläser gespült, wenn notwendig wurden Besorgungen gemacht, damit am Abend keine Zutaten fehlten. Solange die Sonne am Himmel schien, verirrten sich nur wenige Personen in die Bar, und so konnten Sago und die beiden anderen Mädchen sich meist entspannen, sogar verlorenen Schlaf auf dem bequemen Sofa nachholen. Auch heute war die Bar stundenlang leer geblieben, doch mit Ende der Arbeitszeit strömten bald die Massen herbei. Der Schankraum füllte sich.
Sagos Arbeit bestand daraus, schön auszusehen, sich vor der Bar oder im Eingangsbereich herumzutreiben und jungen Männern verliebt zuzulächeln. Dann musste sie sich Getränke ausgeben lassen, über dämliche Witze lachen und die Männer (oder Frauen) möglichst sanft davon abhalten, sich mehr als einen unverbindlichen Flirt zu erhoffen. Kunden durften nicht verärgert werden, sonst war man schnell seinen Job los. Und den war man auch los, wenn man mit einem Kunden anbändelte und sich in eine dunkle Seitengasse verzog, denn die Leute sollten trinken. Es war ein anstrengender Balanceakt, der feines Gespür und Selbstbeherrschung unter Alkoholeinfluss verlangte. Und es war auch nicht Sagos erster Job als Bardame. Sie hatte nicht mitgezählt, wie oft sie bereits das Lokal hatte wechseln müssen – weil sie oder ein Gast zu weit, die Bar pleitegegangen oder ein Stalker zu penetrant geworden war.
Sie lächelte tatkräftig, als der große Zudrang begann. Bald zogen die unterschiedlichsten Gestalten durch die Straßen. Gruppen junger Männer und Frauen, die sich amüsierten, Geschäftspartner auf einem Umtrunk, nach Schweiß riechende Arbeiter – auch Zwerge waren in der Bar willkommen, wenn sie zahlen konnten – die weniger stark riechenden menschlichen Bauern der riesigen Gärten außerhalb der Stadt, sowie die unvermeidbaren einsamen Seelen, ältere Elfen oder gar Elben ohne Familien, die am schnellsten auf Sagos Lächeln ansprangen.
Sie plauderte etwas länger mit Aremish Nothgai, einem Eiselben aus dem ehemaligen Königreich Dexmi, das er noch gekannt hatte, bevor es sich das Kaiserreich Gai-Shitori vor etwa siebenhundert Jahren einverleibt hatte. Sago redete gerne mit ihm, denn er hatte einige interessante Geschichten zu erzählen und wollte nur jemanden, der ihm zuhörte. Doch ihre Anweisung bestand daraus, sich mit möglichst vielen Gästen zu unterhalten, und so blieben ihre Gespräche mit Nothgai schmerzhaft kurz.
„Ich muss weiter“, sagte sie bedauernd, als eine neue Gruppe Personen den Raum betrat.
„Pass auf dich auf“, sagte der von Traurigkeit gebeugte Eiselb.
Sago sah ihn überrascht an und lachte dann, um die Nervosität zu überspielen. „So um meine Sicherheit bemüht, Herr Nothgai?“
Der Elb lächelte nicht. „Es sind einige zwielichtige Gestalten unterwegs in letzter Zeit. Du solltest einfach vorsichtig sein, Lämmchen.“
Diesen Spitznamen für sie verwendete er nur selten. Da Aremish in seinen Jugendjahren ein Schäfer gewesen war, wusste sie es besser, als seine Warnung in den Wind zu schlagen. Ix-Sago beugte sich zu ihm und flüsterte: „Zwielichtige Gestalten?“
„Zwerge mit finsteren Mienen. Menschen, die sich lauthals über den Adel auf dem Land aufregen und dann plötzlich verstummen. Feinde unserer Kaiserin, wenn du mich fragst.“
Sago musste schlucken. „Ich werde achtgeben.“
Nothgai lächelte ihr väterlich zu. „Wir sehen uns morgen, Lämmchen.“
Sago nickte. „Bis morgen.“ Dann durchquerte sie den Schankraum und fing die Blicke einer Gruppe Junggesellen auf. Die jungen Elfen drängten sich nervös an einen Tisch und studierten die Steintafel mit Getränken und Preisen aufmerksam. Sago trat zu ihnen. „Zum ersten Mal hier?“
Die Jünglinge sahen sie auf, Blicke glitten über ihren teuren Kimono und verharrten an den Ausbuchtungen über dem schwarzen Band, das ihre Taille schmaler erscheinen ließ. Sago lächelte offen. Wenn diese Jungen wüssten, dass sie auf die abgeschnittenen Ärmel eines ausrangierten Hemdes starrten …
„Ich kann euch den Bergbrecher empfehlen.“ Sie deutete auf einen Cocktail, der nicht zu teuer und nicht zu hochprozentig für die Neulinge war. „Äußerst köstlich und er soll die Kälte effektiv vertreiben.“
„Es ist noch recht kühl für die Jahreszeit“, wagte einer der Jungen einen Vorstoß.
„Oh, ja.“ Sago nahm das Thema auf. „Und es ist morgens noch häufig so nebelig, dass man kaum die andere Straßenseite sehen kann.“
Unauffällig dirigierte sie die Gruppe zur Bar, indem sie dorthin tänzelte, während sie redete. Sie überließ es jedoch dem Wortführer der Gruppe, die Getränke zu bestellen und klimperte zum Dank mit den Wimpern, als man ihr einen Bergbrecher ausgab.
Die ganze Zeit ging ihr Aremish‘ Warnung jedoch nicht aus dem Kopf. Gab es wirklich kaiserfeindliche Gruppen, die sich in der Stadt versammelten? Das erschien zu beängstigend, um wahr zu sein, denn die Emotionen würden in gemischten Bars wie dieser explosiv aufkochen.