Der Morgenstern an ihrer Seite war ein Gewicht, das Sago Vertrauen und Zuversicht einflößte. Trotzdem spürte sie ihr Herz immer stärker schlagen, als sie Gorr durch die Straßen folgte.
Der Boden vibrierte unter den Schritten der Yetis, die die Spitze ihres Zugs bildeten. Aus den Fenstern der Häuser und aus Gassen heraus starrten die Bewohner sie an, mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. Mehr als ein neugieriger Blick galt Sago, die inmitten der kleineren Zwerge lief und genau wie die Bärtigen skandierte: „Nieder mit der falschen Kaiserin! Gerechtigkeit und Wahrheit!“
Sie hörte Rufe aus den Häusern: „Versperrt die Tür!“ oder „Mutter, schau mal! Yetis!“ oder „Es gibt noch Yetis?!“
Immer mehr Elfen erschienen am Straßenrand. Immer mehr Blicke richteten sich auf sie. Sago sah, wie die Zwerge sich immer nervöser umsahen. Noch hatte kein Elf versucht, sie aufzuhalten, noch hatte kein Zwerg Anstalten gemacht, die Waffen gegen die Bevölkerung einzusetzen – doch die Bedrohung von Gewalt und Blut hing fast greifbar in der Luft.
Sago sah zurück. Am Ende des Zugs entdeckte sie Pradiya, nicht mehr als ein grüner Fleck neben dem schwarzweißen Fleck, der Morimori war.
„Sago? Ix-Sago? Bist du das?“
Sago wandte den Blick zur Seite und bemerkte eine junge Elfe, die versuchte, durch die Masse der Zwerge zu ihr vorzudringen. Schmiedehämmer und Spitzhacken wurden drohend erhoben.
„Wartet!“ Sago streckte die Hand aus. Sie kannte das Mädchen, es war eine ihrer Mitarbeiterinnen gewesen.
Die Zwerge machten der jungen Elfe zögerlich Platz.
„Was ist hier los, Sago?“, fragte das Mädchen, bei ihr angekommen.
Sago hätte sich wirklich den Namen der jungen Elfe merken sollen. „Unsere Kaiserin hat uns belogen“, erklärte sie dem Mädchen. „Es gab Yetis unter dem Berg, sie will sie alle vernichten. Und … sie hat sogar meine Eltern getötet, um das Geheimnis zu wahren.“
Die Augen der jungen Elfe weiteten sich. Sie blieb stehen und Sago wurde von den marschierenden Zwergen mitgespült. Schon war die andere nicht länger zu sehen.
Sie drehte sich wieder nach vorne. Das Ziel ihrer Reise, der Palast, befand sich auf dem aufragenden Berg direkt vor ihnen.
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„Schließt das Tor! Lasst niemanden hinein.“
Tili drehte sich um. Xpiakane war zurückgekehrt und trat gerade mit einer Gruppe Wachen vor die Tore des Palastes. Sie erstarrte, als sie Tili auf dem Rücken des Paki bemerkte.
„Amoxtili! Was tust du hier?“
Tili atmete schwer. „Das könnte ich dich genauso fragen. Du bist Naomishi, nicht wahr? Naomishi Alagh-Eleu.“
Xpiakane verengte die violetten Augen. Dann seufzte sie. „Woher hätte ich sonst wissen können, dass mein altes Tagebuch gefunden worden war? Ich bin vielleicht die Seherin, doch ich sehe nur die Dinge, nach denen ich explizit suche. Die Yetis, die Arbeiter am Palast … und die Schriftrolle.“
Tilis Paki wich Schritt für Schritt zurück, legte die langen Ohren an und schnaubte.
„Aber … du hattest Angst vor Magie“, stotterte Tili.
Xpiakane entließ die Wachen mit einer Handbewegung und trat auf Tili zu. Die Luft schien dicker zu werden. Tili konnte kaum atmen.
„Weil ich sie schon damals verstanden habe, aber nicht wusste, welches Talent in mir schlummert“, sagte Xpiakane gelassen. „Hättet ihr euch doch nur die Zeit genommen, das Tagebuch zu Ende zu lesen. Dann wüsstest du, dass ich meine Fähigkeiten damals entdeckte, als ich zur Leibwache unserer Kaiserin wurde. Als ich es schaffte, die Magie der Edelsteine selbst zu nutzen und als ich die Gefahr entdeckte, die unter dem Berg schlummerte.“
„Gefahr? Du meinst die Yetis?“, fragte Tili. „Eine Gefahr?“
„Eine Gefahr für die Hauptstadt“, sagte Xpiakane. „Und das Zentrum der Macht durfte nicht fallen.“
„Also sollten die Yetis sterben, damit … wozu?“, fragte Tili.
Xpiakane seufzte. „Ich mag dich wirklich, Amoxtili. Weißt du, ich wollte dich unbedingt bei den Arbeiten dabeihaben, wegen deiner Abstammung und deines Talents. Um dir das Leben zu ermöglichen, in das du unter anderen Umständen hineingeboren worden wärst. Doch du hast dich entschieden, die gleichen Fehler wie deine Eltern zu machen. Und da ich die Kaiserin beschützen muss, muss ich diese Stadt beschützen. Um jeden Preis.“
Sie hob die Handfläche, auf der sich das glühende Auge geöffnet hatte, roter Nebel umspielte die Finger. Das Paki scheute und bäumte sich auf. Tili klammerte sich an den Sattel, als ihr Reittier den Kopf hin und her warf und dann lossprintete, so plötzlich, dass sie den Halt verlor und von dem geschuppten Rücken des Tieres glitt.
Sie schlug hart auf dem Boden auf.
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„Die Kaiserin hat gelogen!“
„Gerechtigkeit!“
Immer lauter ertönten die Rufe von beiden Seiten der Hauptstraße. Pradiya verstand die Welt nicht mehr, als sich mehr und mehr Elfen dem Marsch durch die Stadt anschlossen. Sie kamen von beiden Seiten und gesellten sich an die Flanken der marschierenden Zwerge. Zuerst verwirrt und verängstigt senkten diese bald ihre Waffe.
„Was geschieht hier?“, fragte Pradiya Morimori.
„Ich denke, die Elfen verstehen, dass wir die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt haben“, meinte der Heiler. „Sie sehen die Yetis mit eigenen Augen und sie müssen erraten haben, dass es ein Geheimnis um diese Stadt gibt.“
„Werden sie uns helfen?!“, stammelte Pradiya.
„Vielleicht. Doch ich denke, wenn der Kampf beginnt, werden sie sich nicht gegen die Kaiserin und ihre Wachen stellen. Sie wollen die Wahrheit – keinen Krieg.“
„Werden wir überhaupt kämpfen müssen?“, fragte Pradiya mit Blick auf die Menge.
„Sicherlich“, meinte Morimori. „Jemand wollte das Geheimnis so sehr schützen, dass er auch vor Mord nicht zurückgeschreckt ist. Denkst du, diese Person wird jetzt aufgeben? Oh nein, sie ist jetzt gefährlicher als je zuvor.“
„Xpiakane“, sagte Pradiya. „Die Seherin.“
Morimori nickte. „Sie und die Kaiserin werden eher sterben, als uns gewinnen zu lassen.“
Die Yetis erreichten den Fuß des Palastberges und die lange Schlange stieg in die Höhe.
Pradiya schluckte.
Morimori nahm sacht ihre Hand. „Hab keine Angst. Wir werden siegen, egal, wie viele heute sterben. Der Tod ist nichts, was man fürchten müsste.“
„Ich fürchte ihn aber!“, flüsterte Pradiya zurück. „Ich will niemanden verlieren!“
Morimori drückte ihre Hand fester. „Es geht heute um etwas viel größeres als Zwergen- oder Elfenleben. Das wird jedes Opfer wert sein, vertrau mir.“
Pradiya hob den Blick und schnappte nach Luft: „Da oben – das ist Tili!“
⁂
Ihr Kopf dröhnte. Beim Fallen war sie auf den Steinstufen vor dem Palast gelandet. Eine Kante drückte ihr in die Rippen, in ihren Ohren klingelte es.
Tili hörte Schritte. Jemand trat vor sie. Blinzelnd erkannte sie den Stoff eines hellvioletten Kleides. Füße waren wegen des bodenlangen Saums nicht zu sehen.
„Was für ein Jammer“, erklang Xpiakanes Stimme, ein Flüstern und Seufzen. Tili fühlte einen Schatten über sich gleiten, dann eine Hand im Nacken, die sie unerbittlich und langsam auf die Füße zog.
Xpiakane war viel stärker, als sie aussah.
Tili hielt die Augen mühsam offen und starrte die Magierin an. Aus irgendeinem Grund konnte sie keinen Muskel rühren, obwohl sie genau wusste, dass ihr der Tod bevorstand.
Roter Nebel umspülte ihren Körper, fesselte sie, machte sie bewegungsunfähig.
Schnelle Schritte und ein Schrei: „Tili!“
„Bleib, wo du bist!“
Wind zischte über Tilis Haut, als die Magierin sie herumwirbelte. Plötzlich schwebten ihre Füße über dem Abgrund des Berghangs, Xpiakane hielt sie am ausgestreckten Arm von sich. Oben auf der Treppe sah Tili bewaffnete Wachen, die ihre Lanzen drohend erhoben.
Unten stand Sago wie erstarrt, mit beiden Händen einen Morgenstern vor sich haltend. Sie sah Tili ängstlich an und Tili konnte nicht viel mehr tun, als zurück zu blicken. Hinter Sago standen mehrere Yetis, ebenso eingefroren, doch ihre Blicke waren hasserfüllt.
„Einen Schritt näher, Ix-Sago Zyanya, und deine Schwester stirbt“, drohte Xpiakane. Sie winkte den Wachen. „Tötet die Yetis!“
Die Wachen stürmten vorwärts. Sago hob den Morgenstern und ließ die Kugel über ihrem Kopf kreisen: „Nein!“
Tili zappelte mit den Füßen und griff nach dem Handgelenk der Magierin. Sie kämpfte mit aller Macht gegen den Zauber an, der sie an Ort und Stelle hielt, während Sago die Gardisten mit wilden Schwüngen auf Abstand hielt und verzweifelt ihren Namen rief …
Xpiakane starrte Tili mit einer Mischung aus Verwunderung und Empörung an, als könnte sie nicht fassen, dass Tili sich gegen die magische Fessel wehrte. Die Hexe bewegte den Arm, um Tili von sich zu schleudern.
„Halt!“
Die Stimme hallte über die Treppe, mit solcher Macht, dass wirklich alle in der Bewegung erstarrten, die Kämpfenden genauso wie Xpiakane. Die Morgensternkugel traf krachend auf den Stein.
Die Blicke wandten sich nach oben, wo in der Öffnung der goldenen Flügeltüren die Kaiserin Chousokabe-Xin Zakanono stand.
„Xpiakane.“ Die Kaiserin wandte sich an ihre Beraterin. „Du hast mich belogen!“
Für einen Moment war die Zauberin abgelenkt. Tili bäumte sich mit einem Schrei auf und griff nach dem augenförmigen Edelstein an der Schulter der Menschenfrau. Sie riss die Brosche ab und warf sie in die Tiefe.
Xpiakane schrie auf und schleuderte Tili von sich. Noch im Fallen spürte sie, wie der Zauber sich löste und sie sich ohne Probleme bewegen konnte. Wild mit den Armen rudernd suchte sie nach Halt.
⁂
„Tili!“, schrie Sago und stürzte nach vorne, doch Gorr war schneller. Der Yeti schwang sich über den Abhang, rutschte in die Tiefe und packte Tili mit einer großen Pranke. Sago atmete auf, als sie die beiden dort hängen sah.
Dann wirbelte sie herum und schwang den Morgenstern nach Xpiakane. Die Seherin wich zurück, stolperte über den Saum ihres Kleides und fiel. Sago hob die Waffe, um die ganze Geschichte zu beenden …
Und jemand hielt ihre Arme fest. „Nicht, Sago.“
„Pradiya?!“
Ihre Schwester nahm ihr die Waffe ab. „Töte sie nicht, Sago.“
„Sie ist machtlos ohne ihre Edelsteine“, mischte sich Tili ein. Gorr kam in diesem Moment mit ihr wieder heraufgeklettert und setzte die älteste Schwester vor Sago und Pradiya ab.
Sie fielen einander um den Hals, ohne sich noch um die besiegte Magierin zu kümmern. Mehrere Wachen zerrten Xpiakane auf die Beine und legten ihr Fesseln an. Als man sie abführte, hielt die Magierin ihren Kopf gesenkt. Sie sprach keine Drehung mehr aus, flehte nicht, fluchte nicht. Sie blieb stumm.
„Ich hatte solche Angst!“, schluchzte Pradiya.
„Die hatte ich auch“, gestand Sago und drückte ihre Schwestern fester an sich. Am liebsten hätte sie sie nie wieder losgelassen. In den letzten Tagen hatten sie alle unmenschliche Ängste ausgestanden.
„Wer kann mir erklären, was hier vor sich geht?“ Die drei Schwestern fuhren auseinander, als die Kaiserin mit einem Mal vor ihnen stand.
„Chousokabe-Xin!“, stammelte Tili und verneigte sich. Sago und Pradiya machten es ihr nach.
„Du bist Amoxtili, nicht wahr?“, fragte die Kaiserin. „Bitte, nennt mich Xin. Es scheint, ihr wisst einiges mehr über meine Beraterin als ich selbst.“
„Es scheint so, Kaiserin“, knurrte Gorr, der die Szene mit unergründlichem Blick beobachtet hatte. „Wir sind eigentlich gekommen, um dich zu töten.“
„Das wird nicht nötig sein!“, warf Tili schnell ein. „Die Kaiserin wusste nichts von euch! Xpiakane hat es vor ihr verheimlicht!“
„So viel hatte ich mir auch schon gedacht“, schnaubte Gorr mit Blick zu den Wachen, die eilig einen schützenden Kreis um ihre Kaiserin geschlossen hatten. Demonstrativ setzte der Yeti sich auf den Boden. „Ich denke, wir müssen einiges besprechen.“