Die Zwergin Ajani Saphirauge und Morimori begleiteten Pradiya in den Kerker, der genau wie die Wohnhäuser in den Felsen geschlagen worden war. Hier unten gab es mehrere durch Eisengitter versperrte Zellen, doch nur in einer davon hockte jemand.
„Sago!“, rief Pradiya und stürzte an das Gitter zur Zelle ihrer Schwester.
„Pradiya?“ Sago hob den Blick und Pradiya sah eine aufgesprungene Lippe und ein geschwollenes Auge. In den dunklen Augen ihrer Schwester stand Misstrauen. „Bist du es wirklich?“
„Ja, Sago, ich bin es!“ Pradiya umklammerte die Gitterstäbe. „Es wird alles gut. Ich hab ihnen gesagt, dass du meine Schwester bist und keine Spionin.“
„Verzeihung, werte Dame“, sagte Ajani, während sie die Kerkertür aufschloss. „Wir hatten Angst und deine Botschaft hätte leicht zu einer tödlichen Falle werden können, wenn wir sie befolgt hätten. Doch offenbar ahnte niemand in der Stadt von der Gefahr.“
Pradiya lief in den Kerker und half ihrer größeren Schwester auf. Mit zögerlichen Schritten kam Sago nach draußen.
„Geht es dir gut?“, flüsterte Pradiya.
Sago lächelte. „Jetzt schon, Schwesterchen.“
Pradiya führte Sago nach draußen an den Tisch, wo Gorr und zwei weitere Yetis sowie einige Zwerge eine Beratung vorbereiteten und dabei herzhaft zulangen. Pradiya und Sago erhielten Ehrenplätze am Kopf der Tafel, in unmittelbarer Nähe des Yetis Gorr.
Man reichte ihnen Bergblut und Essen. Pradiya sah zu, wie Sago alles hinunterschlang.
Morimori setzte sich zu ihnen, wofür Pradiya sehr dankbar war. Der Tiermensch schaffte es immer noch, sie zu beruhigen.
„Also … es gibt noch Yetis“, sagte sie leise.
Morimori lächelte, vermutlich, weil Pradiya so nah an Gorr saß, dass sie die Hand ausstrecken könnte, um ihn zu berühren. Dann wurde der Heiler ernst: „Aber die Kaiserin will sie vernichten.“
„Wieso?“, fragte Pradiya.
„Weil den Yetis das Land hier gehört. Sie hat es gewaltsam von ihnen genommen“, knurrte Gorr dumpf.
Pradiya starrte ihn an.
„Wir wären bereit, es zu teilen, doch die Kaiserin vertrieb uns vor neunzig Jahren aus unserer Heimat und nun droht sie, uns endgültig zu vernichten. Der Palast, den sie bauen lässt, soll seine Wurzeln tief im Berg haben. Hier, um genau zu sein. Sie steht kurz davor, unseren letzten Rückzugsort zu vernichten. Uns bleibt kein anderer Ausweg als der Kampf.“
⁂
Als sie am Morgen erwachte, standen vier Wachen mit einem fünften, gesattelten Paki vor der Tür.
Tili öffnete ihnen die Tür, machte sich einen Tee und aß etwas, bevor sie von den vieren flankiert nach draußen ging.
Man warf ihr die Zügel des geschuppten Reittiers zu und Tili kletterte ungeschickt in den Sattel. Ihr Paki war gelb mit schwarzen Streifen und schwarzen Hörnern. Sie war noch nie eines der zierlichen Wesen geritten, doch da die Wachen sie umringten – zwei vor und zwei hinter ihr – musste sie nichts weiter tun, als sitzen zu bleiben, während es im Schritttempo über die Hauptstraße und zu dem kleinen, mechanischen Fahrstuhl ging. Hier musste Tili absteigen und hinauf auf den Palastberg fahren.
Oben wurde sie von Xpiakane erwartet.
Tili war müde. Ihre Mutter war tot. Weder Sago noch Pradiya waren nach Hause gekommen, ihnen konnte alles Mögliche zugestoßen sein. Und das alles nur wegen etwas, das ihre Mutter vor vielen Jahren getan hatte, weil sie sich in einen Zwerg verliebt hatte!
Xpiakane lächelte. „Amoxtili!“
Tili sparte sich eine Begrüßung. „Was wollt Ihr von mir?“
„Von dir? Gar nichts. Ich will, dass dieser Palast fertig gestellt wird, und dass er das mächtigste Gebäude der Welt wird, beweglich, sogar fähig, seinen Platz zu verlassen, und mit genug Feuerkraft, um das Reich von Gai-Shitori auf die gesamten Eisenberge auszuweiten. Doch dazu brauche ich leider gute Mechaniker. Wie ironisch, dass die beste Mechanikerin in der Stadt ausgerechnet Yomishas Tochter ist.“
Tili starrte Xpiakane entsetzt an. „Das … das wäre Krieg! Die Kaiserin würde das niemals …“
„Wen interessiert die Kaiserin?“ Xpiakane lachte auf. „Chousokabe hat keine Ahnung von Politik! Sie weiß nicht, wie viel Reichtum es kostet, ein Land in Frieden leben zu lassen. Reichtum, den wir hier bald nicht mehr haben, wenn wir nicht mehr der Eisenberge besitzen!“
„Du bist verrückt!“, rief Tili aus.
Xpiakane hörte auf zu lachen. „Möglicherweise hast du recht, kleines Mischblut. Aber hier geht es schon lange nicht mehr um Wahnsinn oder Vernunft. Es geht um Wissen. Kontrolle.“ Sie berührte die blaue, augenförmige Brosche an ihrer Schulter. Tili starrte den Edelstein an und erkannte, dass es nicht derselbe Stein war, den sie früher gesehen hatte.
„Du ziehst deine Macht aus Edelsteinen!“, erkannte sie. „Du brauchst die Steine …“ Dann war die Seherin überhaupt nicht auf Dämonen angewiesen und ihre Machtquelle war deutlich zugänglicher und weniger gefährlich. Xpiakane könnte so viel zaubern, wie sie wollte, ohne Konsequenzen zu fürchten. Tili hatte ihre Reichweite deutlich unterschätzt.
„Um zu sehen, ganz genau“, führte Xpiakane den Satz zu Ende. „Um die Rebellen unter dem Palast zu beobachten. Oder Arbeiter, die die Geheimnisse an ihre Schwestern verraten.“
Tili senkte den Blick. Sie fühlte sich erschöpft. Müde.
Xpiakane klopfte ihr auf die Schulter. „Ich bedauere deinen Verlust, Amoxtili Quarzherz. Doch du verstehst sicher, dass ich nicht zulassen kann, dass etwas den Bau dieses Palastes verhindert. Auch nicht die Yetis, die deine Eltern beschützen wollten.“
„Yetis?“, murmelte Tili.
„Oh, so weit hattet ihr also noch nicht gelesen. Nun weißt du es. Es gibt noch Yetis und sie drohen, dieses Land zurückzufordern. Wir werden sie vernichten. Schon bald. Und du … du wirst mir dabei helfen. Oder zusehen, wie deine Schwestern sterben.“
Xpiakane trat zurück.
Tili sah die Magierin an. Sie hatte die ganze Nacht hindurch geweint und nun fühlte sie sich kraftlos und ausgelaugt. Ihr ganzes Leben hatte daraus bestanden, für ihre Familie zu kämpfen.
Was gingen sie irgendwelche Yetis an?
„Ich helfe dir“, sagte sie kraftlos. „Nur bitte, tu meinen Schwestern nichts.“
„Ich werde dir helfen, sie zu retten.“ Xpiakane breitete die Arme aus. „Komm, Kind. Wir haben eine Waffe zu errichten, wie die Welt sie noch nie gesehen hat.“
⁂
Gorr breitete einige Blaupausen auf dem großen Holztisch aus. Sago beugte sich über die Pläne und erkannte sofort eines: „Das sind doch nur Skizzen!“
„Ganz richtig. Mehr wissen wir leider nicht über den Palast, den sie bauen“, erklärte Morimori. „Wir schicken Botschafter, um die Arbeiten auszuspionieren, doch die Seherin erwischt die meisten von ihnen. Deswegen können wir nur mit Sicherheit sagen, dass sie tief in den Berg hinein bauen.“
„Tili meinte, dass der ganze Palast sich bewegen können soll“, sagte Sago. „Das, was so in die Tiefe geht, ist vermutlich der Platz für die ganzen mechanischen Teile.“
„Wer ist Tili?“, wunderte sich Gorr.
„Meine Zwillingsschwester“, sagte Sago nicht ohne Stolz. „Sie ist Mechanikerin und …“ Sie stockte. „Naja, sie wurde gebeten, mit am Palast zu bauen, weil sie so gut ist.“
Gorr hob eine weiße Augenbraue, die fast in seinem dichten Fell unterging.
„Es war ihre erste Chance, einmal Geld zu verdienen“, rechtfertigte Sago die Entscheidung ihrer Schwester. „Und wir wussten doch nicht …“
„Niemand weiß von den Yetis, außer den hochrangigen Adeligen am Hofe“, mischte sich Morimori ein. „Und die Nachfahren der Zwerge, die damals den ersten Palast und die Stadt errichtet hatten, obwohl viele von den Eingeweihten gejagt und getötet wurden. Die Adeligen dagegen wollen die Stadt nicht verlieren, wo sie herumstolzieren und ihre Intrigen spinnen können.“
Sago schüttelte entgeistert den Kopf. Nicht genug, dass es so ein furchtbares Geheimnis unter ihrer Stadt gab, ihre Familie war auch noch tief darin verwickelt.
Sie warf Pradiya einen Blick zu und las in ihren Augen, dass die Jüngere es ähnlich sah.
„Es wird Zeit, dass wir unser Exil verlassen“, grollte Gorr. „Die Elfen müssen sehen, dass wir noch leben. Sie müssen sehen, was ihre Kaiserin uns antut. Diese Lügen müssen aufhören.“
„Was habt ihr vor?“, fragte Pradiya nervös.
„Wir schlagen zurück.“ Gorr hieb auf den Tisch, sodass alle anwesenden Zwerge, die Zyanya-Schwestern und Morimori zusammenzuckten. „Wir marschieren zum Palast, die Hauptstraße hinauf, und wir töten jeden, der uns aufhalten will. Und dann töten wir das verlogene Pack im Palast und die Seherin Xpiakane!“
Sago sah, wie Pradiya blass wurde.
„Und … und die Arbeiter?“, fragte sie leise.
Gorr warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. „Sie können wählen, zwischen uns und der falschen Kaiserin!“