Tili konnte immer noch nicht genau sagen, was sie von Xpiakane hielt.
Wie nun jeden Morgen führte die menschliche Magierin sie nicht auf der Hauptstraße, sondern auf gewundenen Bergpfaden hinauf zum Palast. Manchmal mussten sie über eine Plattform in einer Seilzugvorrichtung nach oben oder sogar einen mechanischen Sessellift nutzen. Der Weg war beschwerlicher als die offizielle Brücke, die den uralten Aufstieg inzwischen abgelöst hatte – doch sie nahmen diesen Weg, weil die Arbeiten geheim bleiben mussten.
Entlang des schmalen Pfads standen noch heute die Tempel, verwitterte, kniehohe Pyramiden, die je einem der Edelsteindrachen gewidmet waren.
Xpiakane war eine Erscheinung, doch sie flößte Tili Respekt ein, der fast an wahnsinnige Angst grenzte. Für gewöhnlich beaufsichtigte die Beraterin jeden Handgriff der Arbeiten, während die Handwerker riesige Zahnräder anfertigten, in großen Schmieden, die sich unter dem Palast im Herz des Gipfels befanden. Eine Gruppe Zwerge bohrte mit einem Drill, einer modernen, riesigen Schraube, in die Tiefe, wo die Verankerung des neuen Palastes liegen würde. Nur selten hatte Xpiakane sie verlassen, um mit der Kaiserin zu sprechen, und jedes Mal hatten die Arbeiter aufgeatmet.
Als wäre Xpiakanes Anwesenheit eine schwere Eisenkette, die sich um ihre Brust zusammenzog.
Tilis Herz blieb stehen, als sie merkte, dass die Seherin – wie Xpiakane betitelt wurde – angehalten hatte und die Wandernden an sich vorbeiziehen ließ. Ihr Herz schlug schneller, als Xpiakane ihre Schritte den ihren anpasste.
„Zyanya war dein Name, richtig?“, sprach die Zauberin sie an.
Tili nickte, schluckte und brachte ein „Ja“ heraus.
„Wie wird dein Name geschrieben? Mit den Zeichen ‚Zya‘ und ‚Nya‘ – Kranich der Schneeblumen?“
„Ja.“ Das war eine seltsame Frage. „Welche Schreibweise gibt es denn sonst?“
Xpiakane lächelte. „Du bist noch sehr jung, Amoxtili. Trotz deiner Ohren.“
„Ja. Es ist ein Phänomen, das die Ärzte nicht erklären konnten.“ Tili berührte die Spitzen ihrer Ohren, die zur Seite von ihrem Kopf abstanden, statt – wie sonst in ihrem Alter üblich – noch gerade nach oben zu wachsen.
„Es gibt ein altes Wort, ‚Zyan‘, das ‚Quarz‘ bedeutet“, fuhr Xpiakane fort. „Damit wäre dein Name ‚Quarzherz‘. Siehst du den Tempel dort vorne?“ Sie wies auf eine kleine Pyramide vor ihnen, wenig mehr als ein hüfthoher Steinhaufen. Tili nickte. „Das ist der Tempel der Quarzsteine. Man hat nicht viele Quarze in diesen Bergen gefunden, dafür jedoch viele verschiedene Varianten. Milchquarz, Rauchquarz, Ametrin, Prasolith … genug, dass die Altvorderen einen Tempel für sie errichtet haben.“
Tili wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „‚Quarzherz‘ wäre ein sehr ungewöhnlicher Name, finde ich.“
„Das wäre er, selbst für uns Elfen der Eisenberge“, meinte Xpiakane sinnend. „Aber nach allem, was man über deine Familie hört, passt es zu euch. Ihr seid nicht wie andere Elfen, ihr seid eine ungewöhnliche, bunte Familie – und niemand scheint euch eines großen Tempels für würdig zu erachten.“
„Meine Familie befindet sich für gewöhnlich in der untersten Speiche des Schicksalsrades“, bestätigte Tili mit einem säuerlichen Lächeln. Xpiakanes plötzlich Gesprächigkeit verunsicherte sie trotzdem. „Woher weißt du das alles von meiner Familie?“
„Die Leute reden – leider“, sagte Xpiakane. „Mir wurde nahegelegt, dich von der Baustelle zu entfernen, weil du eine Zyanya bist.“
Tili verzog den Mund. „War ja klar.“
„Ich werde dich trotzdem behalten“, fuhr Xpiakane fort und berührte Tilis Arm, sodass sie aufsah und den intensiven, purpurnen Augen der Magierin begegnete. Xpiakane mochte ein Mensch sein, doch die Magie verlieh ihr die Unsterblichkeit, die auch Elfen besaßen, und Tili wurde schwindelig, als sie in den Augen der Magierin eine Ahnung der Unendlichkeit erhielt. Ob Xpiakane wohl noch die Zeiten erlebt hatte, da Yetis die Berge bevölkert hatte? Ob sie sogar die Kristalldrachen durch den Himmel fliegen gesehen hatte?
„Du bist eine ausgezeichnete Mechanikerin“, sagte Xpiakane. „Hier kannst du dich beweisen und zeigen, dass du mehr bist als deine Herkunft. Doch dazu gehört auch, dich an die Vorschriften zu halten.“
Kälte legte sich wie Eis über die Augen, selbst ihre Farbe schien kälter zu werden. Tili schreckte auf. „Was? Ich habe nicht …“
„Auch Familienmitglieder dürfen nicht über die Arbeiten informiert werden“, sagte Xpiakane sanft. Tili lief trotzdem ein Schauer über den Rücken. Die Stimme der Magierin hatte einen drohenden Unterton, und ihre Macht war schon fast mit Händen zu greifen. Tili zweifelte nicht einen Moment daran, dass Xpiakane sie auf der Stelle zerquetschen oder in Flammen aufgehen lassen konnte, wenn sie wollte.
Die Seherin lächelte, als sie Tilis entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte. Sie senkte den Blick verschwörerisch auf ihre Hände und hielt Tili die Handfläche der linken Hand unauffällig entgegen.
Nur Tili sah, wie sich die braune Haut der Magierin plötzlich teilte, ein tiefer Schnitt zog sich über ihre Handfläche. Und dahinter …
Ein großes Auge starrte sie an. Die Iris war purpur und blau, wie eine Kombination aus Xpiakanes eigenen Augen und der blauen Brosche, die ihr wunderschönes Kleid an der Schulter zusammenhielt. Das Handauge blinzelte und bewegte sich, ehe es sich auf Tili richtete und die Pupille sich leicht zusammenzog.
Tili schlug eine Hand vor den Mund. Dämonenmagie! Xpiakane war eine Beschwörerin!
„Es kommt nicht von ungefähr, dass man mich die Seherin nennt“, flüsterte Xpiakane ihr zu und schloss die Hand wieder. „Kein Wort darf über diese Arbeiten nach Außen gelangen, Amoxtili Quarzherz.“
Tili nickte. Ihr bliebt keine andere Wahl.
⁂
Die Schriftrolle unter ihrem Hemd war kalt.
Sago eilte schnellen Schrittes durch die Zwergengassen. Sie trug eine braune, abgewetzte Hose von Tili und ein einfaches Leinenhemd, das sie neu gekauft hatte. Die dünnen Sohlen ihrer billigen Stiefel ließen Wasser aus den Pfützen an ihre Füße dringen. Der fadenscheinige, nachtblaue Umhang schützte sie kaum vor der Kälte.
Es fühlte sich ungewohnt an, nicht in einem Kimono eingeschnürt zu sein, keine Rundungen mit alten Kleidungsstücken ausstopfen zu müssen. Sago kam sich wieder vor wie ein junges Elfenkind, das durch den Schnee tollte, glücklich und ohne Sorgen.
Doch die kalte Schriftrolle erinnerte sie daran, dass das hier kein Spiel war. Sie musste die Botschaft abgeben. Ihr Ziel lag nah beim Zwergentor, weswegen Sago sich entschieden hatte, die Hauptstraßen zu meiden. Ihr Chef – dessen Namen sie immer noch nicht erfahren hatte – hatte sie gewarnt: Die Botschaft wäre von höchster Wichtigkeit, doch würden ihre Feinde die Zustellung bereits erwarten und Sago höchstwahrscheinlich auflauern.
Ihre Feinde … sie hatte gefragt, wer das sein sollte. Als Antwort hatte sie erhalten, dass es keine Zwerge sein würden. Elfen oder Menschen, vor denen sollte sie sich in Acht nehmen.
Dann hatten sie Sago losgeschickt. Die Warnung hatte ernst geklungen. So, als würde man sie töten, wenn man sie mit der Botschaft erwischte. Doch wäre sie die einzige, die möglicherweise durchkommen konnte, weil sie eine Elfe war und die Feinde sie vielleicht nicht verdächtigen würden.
Sie wäre zu gerne umgekehrt. Doch bis Tili ihren Lohn erhielt, brauchte ihre Familie das Geld.
Sago verspürte ein Kribbeln im Nacken und drehte sich um. Entsetzt bemerkte sie zwei hochgewachsene Gestalten in goldenen Mänteln, die hinter ihr gerade in die Gasse einbogen.
Sie presste sich an die Wand eines Hauses, neben einer Tonne voller Abfälle und direkt vor einer großen Pfütze, die dem Geruch nach von einem entleerten Nachttopf stammte. Etwas weiter entfernt stand ein Toilettenhäuschen aus Holz, doch nachts wollten sich die Bewohner sicherlich nicht in die tödliche Kälte der Berge hinauswagen.
Sie hielt den Atem an. Die Goldgekleideten sahen sich wachsam um, entdeckten sie aber nicht, und liefen weiter, statt in die Gasse einzubiegen.
Sago holte die Schriftrolle hervor und starrte darauf. Dass die Wachen der Kaiserin persönlich sie jagen würden, hatte man ihr nicht gesagt. Sie schluckte und hastete weiter. Ihr Herz raste und jeder Schritt fühlte sich falsch an. Wo war sie hier nur hineingeraten?
Bei einem Eingang zu den Zwergengassen hielt sie inne. Die Abzweigung führte auf die Elfenstraßen. Sollte sie das Versteckspiel aufgeben und sich stellen? Wenn sie nur wüsste, was in der Botschaft stünde!
Sie verbarg sich neben einer Feuerschale, die schon lange verrostet war. Die Schalen in den Zwergengassen wurden nicht so sorgfältig gepflegt und das Öl darin wurde viel seltener ausgewechselt als auf den Elfenstraßen.
Nervös hockte sie sich hin und legte die Rolle auf ihre Knie. Es gab ein Siegel mit einem leeren Wappen, das die Rolle verschloss. Sollte sie es öffnen? Zögerlich legte sie die Finger an das Siegel. Was, wenn sie nun irgendwelchen Verrätern oder Verschwörern half? Vielleicht wäre es besser, die Rolle an die Gardisten zu übergeben.
Dann hörte sie Hufschlag. Erschrocken sah sie um die Hausecke auf die Straße und hielt den Atem an, als eine ganze Patrouille Wachen auf Pakis vorbeiritten.
Die gehörnten und geschuppten Reittiere flogen auf geschickten, schmalen Hufen über das Straßenpflaster. Die Reiter trugen Rüstungen, goldene Mäntel und fein gearbeitete Speere. Ihre wachsamen Blicke glitten über die Straße und durch die Gassen. Sago warf sich wieder in die Deckung und lauschte auf den Hufschlag. Etwas sauste vorbei und schlug mit einem dumpfen Geräusch in den schlammigen Boden ein.
Sago starrte auf den Speer, der ihr Gesicht getroffen hätte, wenn sie nicht wieder in die Deckung gesprungen wäre.
„Hast du was gesehen?“, rief jemand auf der Straße.
Hufschlag näherte sich. Sago sprang auf und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war.
Zwei Reiter kamen in die Gasse. Einer bückte sich von dem schlanken Paki und pflückte den Speer aus dem Boden. Sein Begleiter, den Speer wurfbereit, sah sich wachsam um.
Er entdeckte ein schmales Toilettenhaus und trieb sein grün-orange gemustertes Reittier darauf zu. Der andere, dessen Paki blau, golden und violett gescheckt war, starrte wachsam die Gassen entlang. Er hob den Speer, als die andere Wache die Tür zum Toilettenhaus aufriss.
Der Abort war leer. Die Wachen entspannten sich unmerklich.
„Vermutlich irgendein Tier“, brummte der, der den Speer geworfen hatte.
„Gehen wir.“ Sein Begleiter nickte. Sie schnalzten mit den Zungen und ihre Tiere sprangen hirschgleich zur Patrouille zurück.
Wenig später hob sich der Deckel eines Holzeimers. Der Gestank nach Küchenabfällen verbreitete sich in der Gasse und haftete an Sago, als sie aus der Tonne stieg. Sie war blass, ihre Hände und Ohren zitterten.
Man würde sie töten, sobald man sie sah. Ihr blieb keine andere Wahl, als vor den Jägern zu fliehen.