Ein Schrei riss Tili aus ihren Gedanken. Sie richtete sich ruckartig auf und spürte einen leichten Schmerz im Rücken, der jedoch sofort von dem Anblick eines Elfen verdrängt wurde, der an einem der größeren Zahnräder hing und unaufhaltsam auf die Stelle zugetragen wurde, wo die Zähne eines zweiten Rades in die ersteren griffen.
Der Elf schrie wie von Sinnen: „Ich hänge fest, ich hänge fest!“
Tili sprang vom Hocker auf und sprintete los.
Die Mechaniker rannten wild durcheinander. Zwei schleppten ein dickes Stahlseil heran, warfen das eine Ende über das Zahnrad und hingen sich mit dem ganzen Gewicht an die Schlaufen. Mehrere andere Elfen kamen hinzu und das große Rad stocke tatsächlich in seiner Bewegung. Der Boden zitterte und die Wände vibrierten, als sich der gewaltige Mechanismus des Palastes aufbäumte. Das Rad im Zentrum des Geschehens bebte und wackelte hin und her. Die Mechanik würde die Elfen überwältigen, das Stahlseil reißen oder das bockende Rad aus der Fassung springen. Die Arbeiter schrien durcheinander. Eine besonders mutige Elfe kletterte auf das Rad, um zu dem Eingeklemmten zu kommen. Sie rutschte von dem bebenden Metall und sprang erneut hinauf.
Das Seil knirschte und riss. Das Rad machte einen Sprung nach vorne, die kletternde Elfe verlor erneut den Halt und der Gefangene kreischte, als die gewaltigen Zahnräder sich von beiden Seiten näherten …
Dann stotterte der Mechanismus und kam stockend zum Halt. Der Eingeklemmte, dessen Füße nur eine Handbreite von den aufeinandertreffenden Zähnen entfernt waren, atmete erleichtert auf.
Die große Halle bot einen seltsamen Anblick. Mehrere Ebenen aus poliertem, rotem Holz, mit goldenem Geländer und verzierten Säulen schoben sich wie Papierstapel übereinander. Dazwischen war nackter Fels zu sehen, oder Steinfliesen, die mit Schläuchen und Bauschutt übersät waren, ein krasser Gegensatz zu dem fein gearbeiteten Reichtum anderer Stellen. Und es gab Gebäudeteile aus Gusseisen, mit den Rohren von Kanonen und großen Metalldornen. Die vielen Fußböden und Wände waren mitten in ihrer Bewegung erstarrt und bildeten eine Vielzahl komplexer geometrischer Formen, doch es ließ sich kaum sagen, welches Teil wohin gehörte. Es waren die Bauteile für die vielen verschiedenen Räume, die sich im Palast über ihren Köpfen bilden lassen würden.
Nun wandten sich alle Blicke nach oben zu einem kleinen Balkon, wo ein rosarotes Gesicht umrahmt von rötlichen Haaren mit einem helleren Streifen im Pony erschien.
„Amoxtili!“, rief einer der Elfen, die am Seil gezerrt hatten, erleichtert.
„Baxsado?“, rief sie herunter.
Der Elf auf dem Zahnrad winkte. „Mir geht es gut!“ Seine Stimme klang schwach.
„Schneidet ihn los“, befahl die Elfe, die geklettert war – Saomajax, die die Bauaufsicht innehatte.
Tili atmete auf und drehte sich wieder um. Dann stieß sie einen leisen Schrei aus: In dem kleinen Aufsichtsraum, in dem sich auch die Hebel befanden, mit denen man die Mechanik ein- und ausschalten konnte, stand nun auch Xpiakane in ihrem langen, enganliegenden Kleid.
„Frau Xpiakane!“, rief Tili erschrocken. Sie hatte nicht gehört, wie sich die kleine Tür, die aus dem Getrieberaum heraus und in den eigentlichen Palast führte, geöffnet worden war.
„Warum wurde der Testdurchlauf gestoppt?“, fragte Xpiakane.
„Es hätte fast einen Unfall gegeben“, berichtete Tili. „Baxsado war auf dem großen Rad und hing fest.“
„Ich dachte, du hättet überprüft, dass sich niemand mehr auf dem Getriebe aufhält.“ Xpiakane hob eine Augenbraue hoch.
Tili senkte den Blick.
„Du hast den Testlauf freigegeben. Und, wie mir scheint, vergessen, jemandem abzustellen, der im Aufsichtsraum bleib. Ich dachte, es soll immer wenigstens eine Person hier sein!“, fuhr Xpiakane fort.
„Ich … es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen“, murmelte Tili.
Xpiakane glitt an ihr vorbei – man konnte nicht erkennen, dass sie die Füße unter dem Kleid bewegte, dessen Saum über den glatten Boden strich – und sah vom Balkon herab.
„Es wird wieder passieren, Tili Quarzherz.“
Tili sah auf und starrte die Magierin an. „Was?“
„Du und deine Schwester habt die Wahrheit über euren Vater erfahren“, sagte Xpiakane und drehte sich gelassen zu Tili um. „Verständlich, dass dich das aus der Bahn wirft. Du hast Zwergenblut in den Adern. Du bist sterblich und niemand kann dir sagen, wie viel Zeit dir bleibt, obwohl deine Ohren zu sagen scheinen, dass die Hälfe deines Lebens schon vorüber ist. Du fragst dich, ob du überhaupt die nächsten zehn, zwanzig Jahre erleben wirst. Deine einzige schwache Hoffnung ist, dass deine jüngste Schwester die Unsterblichkeit der Magie erhalten wird, doch du machst dir auch Sorgen, was das für Pradiya bedeuten würde – als einzige eurer Familie zu überdauern und trotzdem ein Mischblut zu sein. Würde sie, auch als Magierin, nicht wegen ihres Erbes verachtet werden?“
Tili konnte die Menschenfrau nur mit offenem Mund anstarren. „Woher …?“
„Ich weiß alles, Amoxtili“, sagte Xpiakane und hob leicht die Hand, auf deren Fläche verborgen das dämonische Auge ruhte. „Und lass mich dir sagen, dass dein Leben nicht einfacher wird, je mehr du herausfindest. Dir bleibt nicht viel Zeit. Zerstöre die Schriftrolle und erspare dir das zusätzliche Leid.“
Die Seherin wandte sich ab und trat wieder an den Balkon. Inzwischen war Baxsado befreit worden.
„Baxsado, Ihr geht nach Hause und kommt morgen wieder“, befahl Xpiakane. „Alle anderen: Weitermachen!“
Sie drehte sich wieder zu Tili um. „Hab keine Angst. Niemand hier braucht zu erfahren, was dein Vater war. Ich werde dich deswegen nicht anders behandeln, Amoxtili. Ich bin auf deiner Seite und du solltest wirklich auf mich hören.“
⁂
Sie konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren.
Pradiyas Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Sie machte sich Sorgen um Sago, die immer noch nicht aufgetaucht war, als sie am Morgen zur Schule gegangen war. In der Stadt waren unzählige Wachen unterwegs gewesen, eine ständige Erinnerung an die Unruhen, von denen Sago erzählt hatte. Pradiya hoffte, dass es einfach nur die neue Arbeit war, die Sago in Beschlag nahm.
Und zu dieser Sorge gesellte sich die Angst vor dem Tod.
Sie war sterblich. Mit einem Mal hörte sie das Ticken der großen Uhr im Klassenzimmer immer lauter, und sie spürte ihren eigenen Herzschlag immer deutlicher, als könnte der Muskel jederzeit versagen. Sie hatte einen Druck im Bauch, der sie dazu bringen wollte, zu rennen, zu schreien, nicht nur, um dem Tod zu entfliehen, sondern auch, um ihre Zeit irgendwie zu nutzen, statt sie hier abzusitzen.
Es war ein schreckliches Gefühl. Pradiya fragte sich, was ihr die Theorie der Pflanzenkunde bringen sollte. Im Unterricht über die verschiedenen Völker wollte sie nicht zuhören, sie wollte nicht hören, dass Zwerge kurzlebige, einfach gestrickte Wesen waren, nicht viel mehr wert als ein Tiermensch, nur wenig besser als Vampire und Werwölfe.
Nervös betastete sie ihr Kinn. Bei Zwergen bekamen Männer und Frauen Bärte – musste sie das auch befürchten? Und überhaupt – nach den Maßstäben der Zwerge wäre sie schon lange erwachsen. Welche Regeln galten für Halbzwerge? Ab wann wäre sie volljährig?
Ein mächtiges Getöse erhob sich und riss Pradiya aus den Träumen. Sie hob den Blick und sah eine Gruppe von fünf kleinen Gestalten über den Schulhof rennen. Die Zwerge trugen weiße Masken über den Gesichtern, die in den Theatern dazu genutzt wurden, die mystischen Yetis darzustellen, und hielten Fackeln in den Händen, während sie etwas von Freiheit und Gerechtigkeit brüllten.
„Unter die Tische, sofort!“, rief Ixtaca. Pradiya und ihre Mitschüler befolgten seinen Befehl langsam und verwirrt.
Es dauerte nicht lange, bis Pradiya einen Hornstoß und das Trappeln von Pakihufen hörte. Die Palastgarde war gekommen!
Ein Schüler, der aus dem Fenster spähte, schrie: „Feuer! Sie haben die Bibliothek angezündet!“
„Das waren aber die Wachen“, knurrte Ixtaca und zerrte den Jungen vom Fenster zurück. „Bleibt unten!“ Stimmen schrien durcheinander. Panik machte sich breit.
Der Lehrer krabbelte zu Pradiya. Ihr Herz raste, als sie langsam realisierte, was da draußen vor sich ging. Sie hörte Schreie und Kampflärm und die schrillen Rufe der Paki.
Ixtaca packte ihren Arm. „Pradiya – folg mir!“
„Was?“, stammelte sie und ließ sich von ihrem Lehrer mitziehen.
Ixtaca stieß die Tür auf und rannte mit ihr hinaus. Pradiya stolperte hinterher, als sie Rufe hörte: „Da vorne! Da ist das Mädchen!“
Sie drehte den Kopf und sah, dass eine der Wachen auf sie deutete.
„Was wollen sie von mir?“, quiekte sie.
Ixtaca zerrte sie weiter. „Lauf!“
Er führte sie auf die Berge hinter der Schule zu. Pradiya sah wieder nach hinten. Die fünf Zwerge, von denen aber nur noch zwei standen, hatten sich den heranstürmenden Wachen in den Weg gestellt. Die Paki stauten sich an der schmalen Gasse zwischen zwei Gebäuden, aber schon strömten die ersten Verfolger auch um die Gebäude herum, durch den Umweg ausgebremst, aber auf den schlanken Pakis natürlich schneller als zwei Elfen zu Fuß.
Pradiya sah nach vorne. Sie flohen in eine Sackgasse!
Ixtaca zog sie unbeirrt weiter und endlich entdeckte Pradiya einen dunklen Höhleneingang.
Ixtaca ließ im Eingang ihre Hand los. „Hast du die Rolle noch?“
„Wa…?“
„Die Schriftrolle von Alagh-Eleu! Ich weiß, dass du sie gefunden hast.“
Pradiya berührte ihren Bauch, wo sie die Rolle unter ihrem Hemd verborgen trug.
Ixtaca nickte und schubste sie in den Tunnel. „Lauf, Pradiya.“
⁂
Xpiakane hatte sie früh nach Hause geschickt, vermutlich, damit Tili nicht noch mehr Unfälle verursachte. Sie hatte die Pause gerne akzeptiert. Ihr ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an, und der Schlafmangel machte sich immer deutlicher bemerkbar. Seitdem sie mit dem Bau am Palast angefangen hatte, hatte sie meist nur wenige Stunden schlafen können, und nachdem sie die ganze letzte Nacht wach gewesen war und gelesen hatte, war sie mit ihren Kräften am Ende.
Erschöpft stolperte sie über den unsicheren Pfad zur Hütte am Berghang.
Als sie den Blick hob, erstarrte sie und war mit einem Mal hellwach. Die Tür zum Haus stand sperrangelweit offen. Schnee hatte sich im Eingangsbereich angehäuft.
„Pradiya? Sago?“ Tili lief los und stürmte ins Haus. Im Inneren war es dunkel, doch sie sah sofort, dass die Schränke aufgerissen und durchwühlt worden waren, Kissen und Geschirr lagen überall verstreut. Die Papierwände zu den Schlafzimmern waren zerschnitten, sodass sie die Tatamibetten ihrer Schwestern sehen konnte – und das erhöhte Lager ihrer Mutter, die auf einem Stapel Bretter, die mit Decken überzogen waren, geschlafen hatte.
Blut bedeckte den Boden im vordersten Schlafzimmer. Amoxtili kletterte vorsichtig durch das Durcheinander bis zu ihrer Mutter.
Yomisha lag kraftlos und mit aufgeschnittener Kehle auf ihrem Bett. Das Blut schimmerte dunkel auf ihrer Haut, die noch weißer aussah als sonst. Die blassgelben Augen starrten blind zur Decke.
„Mutter!“, rief Tili. Sie wollte zu ihr stürzen, doch sie konnte sich nicht rühren. Ihr Blick glitt über die verstreuten Gegenstände, über die aufgerissenen Schranktüren, über Kleidung, Besen und Vorräte, die achtlos durch den Raum geworfen und zerschnitten oder zerrissen worden waren.
Sie hörte Xpiakanes Stimme in ihrem Kopf. „Hab keine Angst, Tili Quarzherz. Ich bin auf deiner Seite. Dir bleibt nicht viel Zeit. Zerstöre die Schriftrolle und erspare dir das zusätzliche Leid.“
Tili fiel auf die Knie. Die Schriftrolle! Pradiya trug sie bei sich.
War ihre Schwester ebenfalls in Gefahr? Oder … bereits tot?