Pradiya stolperte blind in den dunklen Gang. Sie hörte Schreie und das Klirren von Stahl hinter sich.
Entsetzt wirbelte sie herum und konnte Ixtaca im Eingang sehen, umrahmt von hellem Licht. Ihr Lehrer hielt eine Waffe in der Hand, ein langes, schmales Messer oder sogar Kurzschwert. Pradiya sah Speere fliegen, die Ixtaca abwehrte, dann wurde das helle Licht verdunkelt, als sich unzählige Reiter vor den Eingang drängten.
Jemand packte Pradiyas Schulter und sie schrie auf.
„Still, Kind, ich bin es.“
Die Stimme flößte ihr Vertrauen ein. „Morimori?!“
Eine weiche und kleine Hand schob sich zwischen ihre Finger. „Komm, Pradiya. Leise.“
„Was tust du hier?“, fragte sie und ließ sich widerstrebend mitziehen. Sie hörte Schreie vom Eingang. „Ixtaca!“
„Still!“, zischte Morimori. Der Tiermensch hielt ihren Arm mit beiden Händen fest und musste alle Kraft einsetzen, um sie daran zu hindern, zurückzurennen. „Es gibt nichts, was wir tun können. Komm mit mir, Pradiya.“
Ixtacas Schrei ging in einem Gurgeln unter und verstummte. Pradiya hörte Schritte. „Sucht das Mädchen!“, befahl eine raue Stimme.
Morimori Kianto zog sie mit sich, tiefer in den Berg hinein. Es war dunkel, trotzdem schien der Tiermensch etwas sehen zu können, denn er stolperte oder zögerte kein einziges Mal und warnte sie vor jedem Hindernis. Pradiya merkte, wie er sie um unzählige Kurven zog, durch endlose Gänge, bis die Stimmen hinter ihnen verstummten, und selbst dann liefen sie weiter, nur begleitet von Pradiyas keuchendem Atem. Ab und zu hörte sie Morimori schnuppern, als müsste er den Weg mit der Nase erkunden.
„Wir sollten sie angehängt haben“, flüsterte der Heiler.
„Wo sind wir?“, fragte sie. „Wohin bringst du mich?“
„Wir sind im Berg.“ Morimori wurde langsamer. Noch immer ließ er ihre Hand nicht los, wofür Pradiya dankbar war. Es war stockdunkel, sie mussten sich ihren Weg ertasten.
„Ich bringe dich zu Freunden“, erklärte Morimori. „Freunde von deinem Vater.“
„Mein Vater?“
„Vor seinem Tod wollte er ihnen helfen“, sagte Morimori. „Noch heute gibt es einige wenige, die seine Arbeit fortführen und versuchen, die unrechtmäßige Herrscherin zu stürzen.“
„Die Kaiserin?“, stammelte Pradiya. „Dann sind es die Rebellen, die das Quarzviertel zerstört haben? Und du gehörst zu ihnen?“
„Ja, wir sind diese Rebellen. Sechs von ihnen haben gerade ihr Leben gelassen, um dir die Flucht zu ermöglichen. Doch wir haben das Viertel nicht zerstört. Das waren die Wachen der Kaiserin, die alle Spuren vernichtet haben. So, wie sie versucht haben, die Schriftrolle von Alagh-Eleu zu verbrennen. Die Seherin hat sogar eine Lawine ausgelöst, um diese Rolle für alle Zeiten zu begraben.“
Unwillkürlich fasste Pradiya nach der Röhre unter ihrem Hemd. „Die Rolle …“
„Das einzige Schriftstück, das von dem großen Verrat der Kaiserin berichtet“, erklärte Morimori und zog sie sanft weiter. „Wir sind fast da.“
Wenig später bemerkte auch Pradiya, dass ein schwacher Lichtschimmer den gewundenen Gang erhellte. Der Pfad öffnete sich zu einer großen, hell erleuchteten Halle voller Zwerge.
Als Morimori und Pradiya eintraten, richteten sich neugierige Blicke auf sie. Pradiya sah sich mit offenem Mund um. Es hieß, dass Zwerge in Höhlen wohnten, doch Pradiya hatte nicht mit solchen Höhlen gerechnet: In den Wänden öffneten sich zahlreiche aufwendig verzierte Pforten zu Wohnhäusern, es gab schön gearbeitete Holztüren, Fensteröffnungen, die einen Blick auf das mit Stoffen ausgekleidete Innere gewährten, Kunstsäulen, Veranden und Balkone aus Stein, und obwohl die Aussicht sich auf die große Halle beschränkte, vermittelte das prasselnde Feuer in deren Mitte, die Teppiche aus Dairinwolle auf dem Boden und die mit Speisen beladenen Holztische ein Gefühl von Gemütlichkeit. Es war warm, die Höhle wurde von unzähligen Fackeln erhellt. Die kleinen Steinhäuser stapelten sich übereinander und waren über Steintreppen, die sich kreuz und quer über die Wände zogen, miteinander verbunden.
Die versammelten Zwerge kamen zusammen und bildeten eine dichte Traube, vor der Pradiya und Morimori anhielten.
„Das ist Pradiya-Itkan Zyanya“, stellte der Heiler sie mit lauter Stimme vor. „Tochter von Yomisha Zyanya, der Schwester der Kaiserin.“
„Schwester?!“, entfuhr es Pradiya, während ein Raunen durch die Menge ging.
„Das war der Grund, warum sie deine Mutter nicht einfach töten konnten“, erklärte Morimori ihr und drückte ihre Hand. „Doch sie konnten ihren geliebten Mann töten und sie damit einem langsameren, qualvollen Sterben aussetzen.“
Pradiya merkte, dass ihre Beine weich wurden. Sie klammerte sich an Morimori. „Was weiß ich denn noch alles nicht?“
„Du weißt inzwischen wohl, dass dein Vater ein Zwerg war; einer derjenigen, der die Geburt von Akijama miterlebt hat.“
Pradiya nickte. Die Zwergentraube vor ihnen teilte sich und man ließ sie durch zu einer Sitzbank vor einem der Tische. Kleine, lächelnde Gestalten stellten reichlich gefüllte Schalen und Teller vor ihr ab, doch Pradiya fühlte sich nicht, als ob sie irgendetwas herunterwürgen könnte. Sie starrte Morimori an. „Meine Mutter ist die Schwester der Kaiserin?“
„War, befürchte ich.“ Morimori senkte den Blick, bemerkte etwas auf dem Tisch und reichte ihr einen Krug mit einer goldgelben Flüssigkeit voller dunklerer Flöckchen darin.
„Trink“, befahl er ihr.
Pradiya zögerte, setzte den Krug dann an die Lippen und nahm einen großen Schluck.
Sie hustete und würgte, als das Getränk in ihrem Hals brannte.
„Und diese zarte Fee soll Zwergenblut in den Adern haben?“, lachte ein Zwerg, der ihnen gegenübersaß.
Pradiya wischte sich Tränen aus den brennenden Augen. „Was ist das?“
„Bergblut“, antwortete der Zwerg. „Der beste Schnaps der Welt! Warte kurz …“ Er beugte sich vor und kippte Wasser aus einer gläsernen Phiole in den Krug. „So trinken es unsere Kinder.“
Pradiya probierte erneut und stellte fest, dass das Getränk nun wesentlich angenehmer schmeckte. „Danke.“
„Ajani Saphirauge“, stellte sich die Zwergin vor und reichte Pradiya eine Hand. Tatsächlich waren ihre Augen saphirblau, Bart und Haare waren von einem schwächeren Blau.
Pradiya schüttelte die angebotene Hand. „Freut mich.“
Ajani nickte ihr zu und stand dann auf, um sie und Morimori allein zu lassen.
Pradiya sah den Heiler an. Das Getränk verursachte ihr ein warmes Kribbeln im Bauch. „Ist … ist Ixtaca tot?“
Morimori nickte. „Und früher am Tag sind einige Wachen zu deinem Haus gegangen.“
Pradiya fuhr zusammen. „Mutter!“
Morimori schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid. Sie ist tot.“
„Aber …“ Pradiya suchte in den grünlichen Augen des Tiermenschen nach einer Antwort. Er sah sie traurig und besänftigend an.
„Weil die Schriftrolle wieder aufgetaucht ist. Weil das Geheimnis, dass die Kaiserin und die Seherin um jeden Preis verbergen wollten, in Gefahr ist. Weil sie befürchten, dass Yomisha sich an ihre Jugend erinnert und ihr altes Feuer wiederfindet, und – noch gefährlicher – dass ihr drei Mädchen das Erbe eurer Eltern fortführen werdet.“
„Unser … Erbe?“, stotterte Pradiya.
Sie hörte ein lautes Brüllen wie von einem großen Tier und drehte sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie drei gewaltige, schneeweiße Wesen aus dem Eingang einer Höhle traten.
Die Zwerge machten ihnen eilig Platz, während das erste der Wesen mit tiefer, grollender Stimme knurrte: „Neuigkeiten?“
Zwei weitere Gruppen der großen Wesen tauchten aus anderen Eingängen auf. Zwei kamen aus einem niedrigen Verließ, das wohl eher für Zwerge gebaut worden war.
„Die Gefangene schweigt“, grollte einer der beiden.
„Die Arbeiter sind wenige Meter über der Höhlendecke“, sagte einer aus der anderen Gruppe, die aus bestimmt zehn der haarigen, riesenhaften Wesen bestand. Sie hatten annähernd elfische Proportionen, etwas längere Arme vielleicht, und Köpfe, die direkt auf den Schultern zu sitzen schienen. Aus den Seiten ihrer breiten Münder ragten lange Hauer. Und sie waren groß wie fünf Zwerge übereinander.
„Morgen brechen sie durch“, beendete der Riese seinen Bericht. Erst dann bemerkte einer von ihnen Pradiya, die sie mit offenem Mund anstarrte.
„Heiler!“, knurrte der Gigant Morimori an. „Wieso ist da noch eine Elfe?“
Morimori sprang auf. „Ihr habt bereits eine Elfe hier? Wieso weiß ich nichts davon?“
„Weil du nicht unter Anführer bist, auch wenn du dich so aufspielst!“, knurrte das große Wesen. „Gorr ist unter Anführer.“
Es wies mit der Pranke auf den Riesen, der zuerst gesprochen hatte.
Morimori hob die Hände. „Gut, gut. Aber ich organisiere unsere Leute in der Stadt und ich möchte es gerne wissen, wenn ihr eine Elfe entführt. Wir haben schon viel zu viele Probleme, ohne noch zusätzliche Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.“
„Es war ein Spitzel der Seherin“, knurrte Gorr besänftigend und gab dem anderen Riesen mit einer Geste zu verstehen, sich zu beruhigen. „Nun sag uns, wer dein Gast ist. Wir mögen keine Überraschungen.“
Alle Blicke richteten sich auf Pradiya, die die weißen Wesen immer noch anstarrte.
„Ihr seid Yetis!“, krächzte sie. „Ich … ich dachte, das wären nur Legenden.“
Gorr schnaubte abfällig. „Davon träumen die Kaiserin und ihre Hexenhure in ihren feuchten Träumen!“
„Das ist das Geheimnis, das Lankretes Rauchquarz und Yomisha Zakanono entdeckt hatten“, warf Morimori ein. Er deutete auf die riesigen Yetis. „Es gab noch Schneemenschen in diesem Gebirge, unter Akijama. Noch gibt es welche. Doch um ihre Hauptstadt zu bauen, würde die Kaiserin alles tun, sogar eine ganze Rasse auslöschen.“
„Und zwei weitere Rassen versklaven“, wandte Gorr ein. Er musterte Pradiya neugierig. „Du bist Lankretes‘ Tochter, nicht wahr?“
Pradiya nickte. Sie brachte kein Wort heraus. Legendäre Yetis in den Bergen unter Akijama – das war nun wirklich zu viel für sie.
„Ich träume, oder?“, fragte sie Morimori leise.
Und sie würde aufwachen und feststellen, dass es keine Yetis gab, dass ihre Mutter noch lebte und dass in der Bibliothek auch keine Schriftrolle von Alagh-Eleu war, die ihr sagte, dass sie sterblich war.
„Tut mir leid, Kind“, sagte Morimori leise. „Aber das hier ist die Wahrheit.“