„Wie lange noch, was meinst du?“, fragte Pradiya leise, als sie die Kammer betrat.
Sago kauerte in einer Ecke des Steinzimmers, die Arme um die Knie geschlungen.
„Weiß nicht“, antwortete sie.
Pradiya ließ sich neben ihr an der Wand herabgleiten. „Wie geht es dir?“
Morimori hatte sich um Sagos Wunden gekümmert, die sie während ihrer Gefangenschaft erhalten hatte. Dann hatte man ihnen diesen Raum zugeteilt, eines der kleinen Häuser in der Höhlenwand, und ihnen gesagt, dass sie sich ausruhen sollten, bevor der Krieg begann.
Krieg. So hatte Gorr es genannt. Und die Zwerge, die sich hier verbargen, mit ihren grimmigen Gesichtern und klobigen Bergwerkzeugen, sahen aus wie Soldaten, die sich auf den Tod vorbereiteten.
Pradiya legte einen Arm um Sago und sie ließ den Kopf gegen die Schulter ihrer Schwester sinken.
„Kann nicht alles so sein wie vorher?“, seufzte diese unglücklich.
„Ich hoffe, dass wir das hier durchstehen können“, flüsterte Pradiya leise. „Dann wird alles wie vorher!“
„Wird es das?“ Sago schluchzte. „Sie sagen, Mutter ist tot. Tili ist bei der Kaiserin und wird vielleicht getötet! Und selbst wenn wir überleben, werden wir trotzdem irgendwann sterben!“
Pradiya drückte sie etwas fester an sich und sagte nichts. Sago weinte leise.
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„Ein wunderschöner Ausblick, nicht wahr?“
Tili seufzte lautlos. Bis eben war es tatsächlich ein wunderschöner Ausblick gewesen. Sie durfte den Palastberg nicht mehr verlassen, also hatte sie hier oben im Quarztempel geschlafen und zum allerersten Mal den Sonnenaufgang von einem so hochgelegenen Platz beobachten können. Der Himmel war klar, bis auf den Nebel weiter unten, der Akijama vor ihrem Blick verbarg. Die Luft war kalt und glitzerte von winzigen Eiskristallen.
Es war ein wunderschöner Ausblick gewesen – bis Xpiakane hinter sie getreten war.
Amoxtili drehte sich zu der Magierin um. Sie registrierte, dass der Augenstein an ihrem Kleid erneut ausgetauscht worden war.
„Lange Nacht?“, fragte sie.
Xpiakanes Mundwinkel zuckte belustigt. „Du hast scharfe Augen. Wie deine Mutter damals.“
„Musste sie deshalb sterben?“, fragte Tili. „Wegen ihrer Augen?“
„Weil sie mehr gesehen hatte, als gut für sie war.“ Die Seherin seufzte wehmütig. „Ich hätte sie damals schon getötet, und euch drei gleich mit dazu. Doch das wäre gefährlich gewesen. Die Schwester der Kaiserin verschwindet, kurz, nachdem sie von ihrer Familie verstoßen wurde? Das hätte Chousokabe gestürzt, bevor ihre Regentschaft richtig begonnen hätte!“
„War Mutter älter oder jünger als die Kaiserin?“, fragte Tili.
„Jünger. Aber mach dir keine Hoffnungen, eure Anrechte auf den Kaiserthron sind verwirkt, seitdem eure Mutter diesen Zwerg in ihr Herz geschlossen hatte.“
„Lankretes Rauchquarz“, sagte Tili. „Er war nicht von hier.“
„Er war ein reisender Forscher. Woher, das weiß ich nicht mehr. Aus dem Süden irgendwo.“
Tili schlang die Arme um die Brust. Inzwischen war ihr kalt. „Wirst du mich überhaupt gehen lassen, wenn der Palast fertig ist?“
„Das werde ich. Du hast mein Wort. Du und deine Schwestern. Ihr werdet die Stadt verlassen müssen, doch ihr dürft unbehelligt gehen. Vorausgesetzt, der Palast funktioniert.“
„Das wird er.“ Tili atmete tief durch. Womöglich gab es noch Hoffnung für sie und ihre Schwestern.
Xpiakane wandte sich zum Gehen. „Komm, Kind. Es wird Zeit, die Arbeit fortzusetzen.“
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„Es wird Zeit.“
Pradiya fuhr zusammen. Sie sprang auf, als Ajani Saphirauge durch die Tür sah.
„Es ist schon Morgen?“, fragte Sago und erhob sich langsamer.
„Bald. Die Sonne ist noch nicht durch den Nebel gedrungen“, erklärte Ajani. „Habt ihr eine bevorzugte Waffe?“
„Wir brauchen Waffen?“, stammelte Pradiya.
Die Zwergin lachte. „Was dachtet ihr, wie wir die Kaiserin stürzen? Mit netten Worten? Kommt, ich zeige euch das Angebot.“
Mit schweißnassen Händen folgte Pradiya ihrer Schwester und der Zwergin nach draußen, wo auf den Esstischen nun statt Tellern Waffen lagen.
Das meiste waren Spitzhacken oder ähnliche Werkzeuge, doch es gab auch Kurzschwerter und Kampfäxte. Der Stahl war fleckig und die Waffen klobig, noch dazu waren die meisten für kurze, kräftige Hände geschaffen.
Sago zog einen kleinen, einhändigen Morgenstern aus der Masse und schwang ihn testweise. Pradiya sah ihre Augen unheimlich leuchten, als sie mit dem Stern einen schnellen Tanz durch die Halle vollführte.
„Du hast Kämpferblut!“, lobte Ajani grinsend.
Sago nahm die stachelbewehrte Kugel in die Hand und prüfte die Spitzen der Dornen. Dann griff sie sich den dazugehörigen Gürtel. Als sie sich die Waffe über die Kleidung schnallte, kam sie Pradiya wie eine Fremde vor. Sago war selten nicht im Kimono unterwegs, doch nun trug sie Männerkleidung und eine Waffe an der Seite.
„Und du?“, fragte Ajani.
„Ich …“ Mutlos sah Pradiya auf die Waffen. „Ich will nicht kämpfen. Ich will niemanden verletzen.“
„In diesem Krieg ist kein Platz für Pazifisten!“, knurrte Ajani genervt.
Pradiya sah auf die Waffen. Allein deren Anblick sorgte dafür, dass ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.
„Lasst sie“, sagte Sago und trat an Pradiyas Seite. „Meine Schwester ist keine Kriegerin, sie ist Heilerin. Sie wird sich um die Verwundeten kümmern.“
„So?“ Ajani wirkte überrascht. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt? Dann geh zu Morimori. Und du“, sie deutete auf Sago, „folge mir.“
Ajani ging voraus, doch Pradiya hielt Sago am Ärmel fest: „Wieso hast du das gesagt?“
„Du willst doch nicht kämpfen.“
„Nein, will ich nicht, aber ich weiß auch kaum etwas über die Heilkunst.“
Sago schaute sie spöttisch an. „Sagt das Mädchen, das ich mit einer ganzen Tasche voller Schriftrollen über Heilkunst erwischt habe.“
„Das … das ist etwas anderes!“, stammelte Pradiya.
Sago drückte sie an sich. „Du weißt so viel über Heilkunst! Du schaffst das schon, Kleine.“
Dann wandte Sago sich zum Gehen und folgte Ajani.
„Viel Glück“, murmelte Pradiya ihr hinterher. Sie hoffte inständig, dass sie später an diesem Tag nicht Sago würde pflegen müssen.
⁂
Tili setzte das Ölkännchen an und goss den Inhalt in die Öffnung des wummernden Antriebsmechanismus‘. Dann setzte sie das Messingkännchen ab, wischte sich mit dem Handrücken im Handschuh über die Stirn, und stellte die Kanne auf den Boden. Sie winkte nach oben und wer auch immer gerade im Aufsichtsraum Wache schob, betätigte den Hebel.
Knirschend drehten sich die Zahnräder und der Boden unter Tili ruckelte kurz, ehe sich die ganze Plattform erstaunlich sanft in Bewegung setzte und nach oben glitt.
Tili blieb stehen. Platten über ihr schoben sich zur Seite, begleitet vom Stampfen und Rattern der Maschinen. Dann schoben sich Wände an die Seiten der Plattform, eine gewölbte Decke mit Kronleuchtern senkte sich von oben auf den Raum und Tili stand in einer reich verzierten Halle aus Rotholz, Gold und mit großen, verzierten Fenstern, Teppichen auf dem Boden, Hutständern und Garderobe und mit einer großen Treppe aus golden schimmerndem Holz, die nach oben in weitere Räumlichkeiten führte. Eben noch waren es nur unzählige, vereinzelte Stufen gewesen.
Die Tore des Palastes öffneten sich und Xpiakane glitt herein. Gefolgt von der Kaiserin.
Tili verneigte sich sofort, als sie sie blasse Gestalt mit den langen, goldenen Haaren erblickte. Ihr Herz raste. Dass sie so unvermutet vor der Kaiserin stehen könnte, hatte sie nicht erwartet.
„Wunderbar! Einfach wunderbar!“, erklang die glockenhelle Stimme, die nicht Xpiakane gehörte.
„Oh, und das ist Amoxtili“, sagte Xpiakane. „Tili, du kannst dich aufrichten.“
Vorsichtig hob Tili den Blick. Ihr wurde warm. Die Kaiserin sah ihrer Mutter Yomisha sehr ähnlich, nur war ihre Haut rosiger, ihre Haare voller und ihre Augen leuchteten. Eingeschüchtert starrte Tili ihre Tante an. Allein dieser Gedanke war so abwegig und verrückt …
Die Kaiserin Chousokabe-Xin Zakanono beachtete sie kaum, streifte sie nur mit einem Blick, ehe sie sich in der Halle umsah.
„Hat alles funktioniert?“, fragte Xpiakane Tili.
Tili nickte und verfolgte die Kaiserin mit dem Blick. Wusste Chousokabe-Xin von Xpiakanes düsteren Plänen? Die Worte der Seherin ließen etwas anderes vermuten. Was würde geschehen, wenn Tili der Kaiserin hier und jetzt die Wahrheit sagte, sie einfach herausschrie?
„Amoxtili“, sagte Xpiakane und Tili bemerkte, dass die Magierin ihre Hand leicht erhoben hatte. Eine Art roter Nebel umgab die Handfläche, wo sich das magische Auge befand. „Du kannst jetzt gehen“, sagte Xpiakane, doch die Drohung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Tili verneigte sich nochmals und ging unter die Treppe, wo sich ein Geheimgang befand, der sie nach unten in die Halle der Maschinen brachte.
Ihre Gedanken rasten. Die Kaiserin wusste also nicht Bescheid und Xpiakane fürchtete, dass Chousokabe-Xin es herausfinden könnte.
Tili wollte gerade die Tür hinter sich zu ziehen, als die Tore erneut aufgeschlagen wurde und ein Wächter auf einem Paki über den neuen, roten Teppich ritt.
„Euer Ehren!“, rief der Elf außer Atem. „Das … ein Mob, auf der Straße! Das werdet Ihr nicht glauben!“
„Was?“ Die Kaiserin eilte auf die Tore zu.
„Nein, Hoheit!“, rief Xpiakane und hielt die Kaiserin fest. „Es ist viel zu gefährlich!“
„Ich muss zu ihnen sprechen, Naomishi!“
„Nein!“ Xpiakane winkte der Wache, dass der Reiter ihr helfen sollte. „Es sind die Rebellen, sie wollen Euch tot sehen, Hoheit. Ihr dürft nicht hinausgehen!“
Widerstrebend ließ sich die Kaiserin die Treppen hinaufführen. Das Paki und Tili blieben in der großen Eingangshalle zurück.
„Naomishi?“, wiederholte sie leise. War das der Name gewesen, mit dem die Kaiserin Xpiakane angesprochen hatte?
Sie riss die Tür auf, die zum Maschinenraum führten, und stürzte an den Tisch, auf dem die Pläne ausgebreitet lagen. Zum ersten Mal konzentrierte Tili sich auf die Schrift, in der Xpiakane ihre Anmerkungen verfasst hatte.
Es war nahezu die gleiche Schrift wie die auf der Schriftrolle von Naomishi Alagh-Eleu, nur verändert von der Zeit und vermutlich auch, weil die Pläne lesbar sein sollten.
„Verflucht!“, zischte Tili. „Sie wusste es von Anfang an!“
Sie rannte zurück in die Eingangshalle und griff nach den Zügeln des Paki. Das schlanke Tier scheute im ersten Moment, doch Tili konnte es beruhigen und sich auf den bunt verzierten Sattel schwingen. Sie rammte dem rot-grünen Tier die Fersen in die Flanken und das Paki sprang durch die Flügeltore und auf den Palastweg.
„Beim Turmalindrachen, was ist das?!“ Tili zügelte das Tier sofort wieder und starrte auf die Menge, die wie der Leib einer gigantischen Schlange über die Hauptstraße rollte. An der Spitze der Gruppe marschierten etwa zwanzig große, schneeweiße Wesen, die sogar noch über die Häuser ragten.
Yetis. Echte Yetis aus Fleisch und Blut.