„Wie bitte?“ Tili starrte Pradiya an.
Ihre jüngere Schwester senkte den Blick, was Tili Antwort genug war. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, genau wie Sago, die ihr soeben von Pradiyas Schwänzen berichtet hatte. Doch obwohl sie sich Mühe gaben, wirkten die Zwillinge nicht gerade wie mahnende Eltern. Dafür waren sie zu jung und die Verzweiflung stand ihnen zu deutlich in den Augen.
„Was denkst du dir dabei?“, fragte Tili. „Denkst du, wir bezahlen die Schulgebühren aus Spaß? Weil wir uns das so gut leisten können?“
„Nein, ich …“, stotterte Pradiya.
Tili ließ sie nicht ausreden. „Du nutzt die Zeit, wenn wir beide uns dafür kaputt arbeiten, dass du zur Schule gehen kannst, um uns so zu hintergehen?“
„Ich wollte Mutter …“
„Was wolltest du?“, knurrt Tili. „Bei Mutter bleiben? Denkst du, von uns beiden will das keine?“
Pradiyas Schultern zuckten. Sie hatte den Blick auf den Boden gerichtet, um ihre Tränen zu verstecken. Tili ließ sich davon nicht erweichen: „Geh ins Bett.“
„Was?“, fragte Pradiya. Es war noch nicht dunkel, obwohl die Sonne sich langsam den Berggipfeln näherte.
„Geh ins Bett. Wir sparen uns heute das Geld für dein Abendessen.“
Pradiya sah sie geschockt an. Tili tat ihr Blick in der Seele weh, doch Pradiya musste die Konsequenzen für ihr Verhalten sehen.
„Sofort!“, fügte Tili hinzu. Pradiya huschte mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf zwischen ihr und Sago hindurch und zog sich in das hinterste der vier Schlafzimmer zurück.
Tili löste mit einem Seufzen die verschränkten Arme. „Ich mache uns etwas zu essen. Wie war dein Tag, Sago?“
Während Tili ein wenig Gemüse und Reis in einer Pfanne anbriet, erzählte Sago ihr von dem Besuch des Arztes Kianto und von ihrem neuen Job.
„Botschaften? Warum dann diese Sicherheitsvorkehrungen?“, fragte Tili verwundert.
„Offenbar haben die Botschaften einen wichtigen Inhalt. Wissenschaftliche Erkenntnisse und so.“ Sago zuckte ratlos mit den Schultern. „Der Mann, dem ich die Botschaft heute gebracht habe, wirkte eher wie jemand, der mit einer heimlichen Geliebten schreibt, wenn du mich fragst.“
Tili nahm einige der runden Steinmünzen in die Hand, die auf der Küchentheke lagen, und ein viereckiges Loch in der Mitte aufwiesen. „20 Rai sind nicht viel, aber du sagst, dass es mehr wird?“
„Das war ein billiger Auftrag, sozusagen ein Test“, meinte Sago. „Ich glaube, dass die wichtigeren Aufträge auch besser bezahlt werden. Und die Bezahlung kommt sofort nach dem Auftrag. Bis du also für den Umbau bezahlt wirst, kann ich uns über Wasser halten.“
„Und sobald ich bezahlt werde, haben wir Geld“, fuhr Tili fort. Das war ein fast irrealer Gedanke. Sie würden reich sein! Sie würden sich zum ersten Mal mehr kaufen können als nur das Essen für die nächste Woche und vielleicht mal ein neues Hemd.
„Glaubst du, wir können damit den Tee herstellen?“, fragte Sago leise.
Tili warf einen Blick auf die Zutatenliste, die aufgerollt neben dem kleinen Haufen mit ihrem Haushaltsgeld lag.
„Danach ist von unserem Reichtum vermutlich nicht mehr viel übrig“, riet sie. „Wenn es überhaupt reicht. Ich wollte eigentlich ein paar Tiere anschaffen, damit wir Wolle oder Milch verkaufen können. Aber …“
„Aber das würde uns nur das Überleben erleichtern, und uns nicht reich genug machen, um die Zutaten irgendwann mal bezahlen zu können“, beendete Sago den Satz. „Abgesehen davon läuft uns die Zeit davon.“
Sie senkte die Stimme und auch Tilis Blick huschte zur vorderen der vier Türen, hinter der Yomisha bereits schlief. Sie war heute früh ins Bett gegangen und ihr trauriger Blick machte deutlich, dass sie genau wusste, durch welche Hölle ihre Kinder gingen. Die Offenbarungen von Morimori Kianto, dass ihre eigene Angst sie von der Heilung abhielt, hatten sie jedoch nicht dazu bewegen können, über ihre Vergangenheit zu sprechen.
„Unsere Wahl steht also zwischen unserer Zukunft und unserer Mutter.“ Tili seufzte mutlos.
Sago nickte. „Wir haben aber immer noch die Möglichkeit, dass Pradiya eine Magierin wird.“
„Wogegen Pradiya sich sträubt wie eine Katze gegen das Wasser“, sagte Tili. Sie fühlte sich mit einem Mal jung, schwach und hilflos. Am liebsten würde sie die ganze Verantwortung jemand anderem in die Hand drücken. Doch wem? Sago hatte ihre eigenen Probleme, Pradiya war, obwohl sie nur zwei Jahre jünger als die Zwillinge war, zu unerfahren und naiv. Und ihre Mutter hatte sich hoffnungslos in den dunkelsten Winkeln ihrer Seele verirrt.
Amoxtili war allein. Und sie würde, früher oder später, eine furchtbare Entscheidung treffen müssen.
„Lass uns essen“, sagte sie. „Solange das Geld noch nicht da ist, ist es müßig, darüber nachzudenken.“
Sago nickte und wirkte erleichtert, dass das Thema vorerst beendet wurde.
Tili stellte zwei Teller auf den Tisch und setzte sich. „Ich muss morgen wieder früh los. Kannst du Pradiya zur Schule bringen? Nicht, dass sie noch irgendwelche Dummheiten macht.“
„Ja, kann ich“, sagte Sago. „Ich habe ja neuerdings sehr flexible Arbeitszeiten.“
Sie lächelte und für einen Moment hatte Tili die Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte.
⁂
Das Schulgebäude war ein abweisender, bedrohlicher Steinbau am Stadtrand, unter den drohend aufragenden Bergen im Osten, die den Schulhof bis zum Mittag in dunklen Schatten versinken ließen.
Mehrere rechteckige, niedrige Häuser aus verwittertem Stein verteilten sich über ebene Terrassen, wo der ehemals geneigte Hang mithilfe von geschwungenen Mauern aus aufeinandergeschichteten, kopfgroßen Steinen in geometrische Gartenebenen unterteilt worden war. In der Mitte erhob sich ein Haus aus rötlichem Holz und mit schwarzem Pagodendach, die Bibliothek, während jedes der Steingebäude ein einziges Klassenzimmer beherbergte.
Schüler in der nur bedingt einheitlichen Schulkleidung standen in kleinen Gruppen beisammen. Gewöhnlich trugen die Jungen lange Hosen und Hemden, die Mädchen einen langen Rock zu einem Hemd, alle trugen schwarze Schuhe und Jacken, die farblich mit ihrer anderen Kleidung übereinstimmten. Pradiya trug grüne Schulkleidung, eine grüne Jacke zu einem leinenfarbenen Rock, doch es gab auch Schüler in blauer oder roter Kleidung. Die Lehrer stachen durch Roben aus bunt besticktem Leinen aus der Menge heraus. Einer von ihnen, ein schlanker, jugendlich wirkender Elf, kam auf sie zu, als Pradiya, gefolgt von Sago, das Schulgelände über eine Steintreppe betrat.
„Pradiya!“, rief er schon von weitem und lächelte, doch seinen Augen haftete ein trauriger Anblick an. „Wie schön, dich wieder zu sehen.“
„Wer ist das?“, fragte Sago, bevor der Lehrer in Hörweite kam.
„Sokokado Ixtaca, ich bin für Pradiyas Schülergruppe verantwortlich“, stellte sich der Elf von selbst vor. Er verneigte sich, wobei er die hellbeige Mütze auf seinem Kopf festhalten musste, auf der in orange die aufgehende Sonne prangte, das Symbol für die Lehranstalt. Ixtaca trug ein engsitzendes Leinenwams über seiner Robe, die bis zu den Knöcheln reichte. Die Füße steckten in mit Lederstreifen umwickelten Leinenschuhen.
„Ix-Sago Zyanya, ich bin Pradiyas ältere Schwester.“ Sago verneigte sich ebenfalls und stieß Pradiya mit einem kräftigen Schubs in den Rücken nach vorne. Pradiya stolperte zwei Schritte vor, während Sago sagte: „Wir haben erst gestern entdeckt, dass sie die Schule nicht besucht hat.“
Pradiya spürte, wie ihre Ohren brannten. Ixtaca lächelte erneut so traurig. Seine Augen waren blassgrün, fast grau, und passten nicht zu seiner leicht gebräunten Haut und den haselnussbraunen Haaren, die so viel Weichheit und Wärme ausstrahlten.
„Es ist ein Jammer. Pradiya ist meine beste Schülerin. Sie könnte auch die beste der Schule sein, wenn sie ihre Energie nicht nur darin stecken würde, die Heillehrbücher aus der Bibliothek auswendig zu lernen.“
Von dem unerwarteten Lob brannten Pradiyas Ohren noch stärker.
„Wenn wir geahnt hätten …“, setzte Sago an.
„Ich bin mir sicher, ihr wärt früher eingeschritten. Pradiya erzählte mir, dass ihre beiden Schwestern viel arbeiten, seitdem ihr die Prüfungen selbst nicht bestanden habt.“
„Tili ist eine Meistermechanikerin“, murmelte Sago beschämt.
Ixtaca lächelte breiter. „Tut mir leid, ich wollte euch nicht beleidigen. Ich bezog mich nur auf die Prüfung zum Magier. Mir ist eure Situation bewusst, weswegen Pradiya auch nicht der Schule verwiesen wird. Ich habe dem Schulleiter gegenüber gesagt, dass sie krank wäre.“
„Wirklich?“, entfuhr es Pradiya. Ixtaca war doch lediglich ihr Lehrer – ein guter Lehrer, der Verständnis für seine Schüler aufbrachte und mit Leidenschaft unterrichtete, aber immer noch nur ein Lehrer.
„Das ist äußerst gütig, vielen Dank!“, sagte Sago.
Ixtaca neigte leicht den Kopf, ehe sein Blick streng wurde. „Noch einmal werde ich das allerdings nicht tun. Und es bewahrt dich auch nicht vor einer Strafe, Pradiya.“
Sie wich seinem Blick wieder aus. Am liebsten wäre sie überall, nur nicht hier. Wie sollte sie ihrem Lehrer und ihren Schwestern klarmachen, dass sie nicht lernen wollte, und schon gar keine Magierin sein?
„Du wirst mir helfen, den Westflügel der Bibliothek aufzuräumen“, teilte Ixtaca ihr mit. „Bei deiner Leidenschaft fürs Lesen sollte dir das eigentlich liegen. Und wenn du noch einmal unentschuldigt fehlst, werde ich dich nicht mehr decken.“
Pradiya akzeptierte die Bedingungen mit einem eiligen Nicken.
Sago klopfte ihr auf die Schulter. „Ich gehe dann. Benimm dich.“
„Werde ich“, flüsterte Pradiya und blieb alleine mit ihrem Lehrer zurück.
„Gehen wir“, sagte Ixtaca. „Du wirst auch den Stoff nachholen müssen, den du verpasst hast. Es gibt keine Zeit zu verlieren.“