Morimori Kianto, der Heiler, war klein, drahtig und fröhlich. Er hatte lackschwarze Lippen, die sofort jeden Blick auf sich zogen, dicht gefolgt von den runden, weißschwarzen Ohren, die aus seinen wilden, weißschwarzen Haaren herausragten. Seine Haut war blass, jedoch mit dunklen Punkten und Linien gezeichnet, das Muster eines Schneeleoparden. Seine Augen hatten ein faszinierendes, sanftes Grün, das Pradiyas aufgewühlte Gedanken wegen der bevorstehenden Konfrontation mit Amoxtili verdrängen konnte.
Der Tiermensch lächelte und neigte den Kopf. „Darf ich eintreten?“
„Natürlich.“ Pradiya machte ihm Platz und wies auf ihre Mutter, die unverändert in ihrem Schaukelstuhl saß.
Der kleine Heiler verneigte sich vor ihr, streifte die Schuhe ab und ging mit weichen Schritten auf Yomisha zu. Er trug eine Heilerkluft aus weichem, lindgrünem Stoff, eine weite Hose und ein enger sitzendes Hemd, das auf der linken Seite zugeknöpft wurde.
„Guten Tag, Frau Zyanya“, sagte Kianto mit sanfter Stimme und nahm vorsichtig eine Hand von Yomisha auf.
Die schwache Elfe lächelte matt.
„Komm.“ Sago berührte Pradiyas Arm. „Lassen wir ihn in Ruhe.“
Die Schwestern traten nach draußen, wo der Wind kalt über die Felsen pfiff.
Nach anderthalb Stunden wurde die Tür wieder geöffnet und Kianto steckte den Kopf nach draußen. „Ihr könnt wieder herein.“
Pradiya kaute nervös an ihrer Unterlippe, während sich die Schwestern an den kleinen Tisch setzten. Kianto hatte Tee aufgesetzt und servierte diesen nun.
„Sind … sind es gute Nachrichten, Herr Kianto?“, fragte Pradiya schüchtern.
„Bitte, nennt mich Morimori.“ Der Tiermensch lächelte. „Oder gleich Mori.“
Er setzte sich ihnen gegenüber und wurde ernster. „Gute Nachrichten habe ich nicht unbedingt, aber sie sind auch nicht schlecht.“
Pradiya tauschte einen hoffnungsvollen Blick mit Sago, die allerdings eher zweifelnd wirkte.
„Ich bin kein Experte, was Elfenmedizin angeht“, fuhr Morimori fort. „Die Magie der Unsterblichen ist eine Kunst für sich, die für Außenstehende nur schwer zu begreifen ist. Doch die Symptome eurer Mutter, die Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit, kenne ich zur Genüge.“
„Was hat sie?“, fragte Pradiya, als Morimori eine Pause machte.
„Elfen sind zarte Geschöpfe, anfällig für eine Vielzahl von Krankheiten, doch nicht bei allen davon handelt es sich um herkömmliche bakterielle oder virale Infekte“, erklärte Morimori. „Die Krankheiten der Elfen sind solche des Geistes oder durch Gifte herbeigeführt. Du sagtest mir, sie ist schon seit Jahren in diesem Zustand.“
Er sah Pradiya an, die nickte. „Mein ganzes Leben lang.“
„Es hat kurz nach Pradiyas Geburt angefangen“, berichtet Sago. „Tili und ich waren damals auch noch jung.“
„Und euer Vater hat die Familie verlassen?“, fragt Morimori sanft nach.
„Mutter spricht nie darüber.“ Sago hatte instinktiv die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. „Wir haben keine Erinnerung an ihn, er ist noch vor Pradiyas Geburt gegangen.“
Morimori nickte nachdenklich. „Nun, es ist unwahrscheinlich, dass sie über einen derartig langen Zeitraum einem Gift ausgesetzt war.“
„Also soll es ein gebrochenes Herz sein?“, fragte Sago mit bitterem Unterton.
Diese Erklärung hatten die Schwestern schon oft gehört. Viel zu oft.
Morimori schüttelte den Kopf. „Das kann es nicht sein, nicht das allein. Dafür lebt sie schon zu lange damit.“
„Ja, weil sie doch ihre Kinder liebt!“ Sago rollte mit den Augen.
Morimori schüttelte wieder den Kopf. „Ich denke, es ist ein Gift, aber eines der hinterhältigen Art. Ein gebrochenes Herz spielt sicherlich eine Rolle, die Liebe für euch Mädchen auch. Aber da muss noch etwas sein, und ich vermute Angst.“
„Angst?“, wiederholte Pradiya und sah zu ihrer Mutter.
„Ihr Schweigen spricht eine deutliche Sprache“, sagte Morimori. „Sie wagt es nicht, über euren Vater zu reden. So kann auch das gebrochene Herz nicht heilen, aber die Liebe zu euch hält sie davon ab, einfach zu gehen.“
Erschüttert sahen Sago und Pradiya den Arzt an. Wovor fürchtete sich ihre Mutter?
„Es ist ein vertrackter Fall. Und ich denke nicht, dass eure Mutter sich aus eigener Kraft daraus befreien kann. Dazu sitzt diese Krankheit zu tief und blockiert jeden Lösungsweg.“
Pradiya ließ die Schultern sinken. Da ging sie dahin, ihre ganze Hoffnung. Aus Morimoris Mund klang das Urteil endgültig.
„Es gibt einen Weg“, sagte der Heiler gleich darauf. „Ein Tee aus Heilkräutern, doch der ist unverschämt teuer.“
„Ein Tee?!“, fragte Pradiya ungläubig.
Morimori nickte. „Die Dämpfe bewirken Wunder und heilen die Seele. Aber man bezahlt ein Vermögen für die Zutaten.“
„Was ist das für ein Tee?“, fragte Pradiya sofort.
Morimori lächelte und reichte ihr eine kleine Schriftrolle, nur so lang, wie eine Hand breit ist, und mit einem Griff aus Holz. „Das ist die Liste der Zutaten. Aber bitte, hoffe nicht zu sehr.“
Sein Blick war gütig und traurig. Pradiya entrollte die Schrift und starrte auf die Zutaten. Silberblätter von der Singenden Trauerweide, Traummohnsamen und drei Einhorntränen, auf einer Basis von Baldrian und Melisse. Nun, wenigstens Letzteres sollte zu beschaffen sein, obwohl die meisten Kräuter hier oben teure Importware waren. Aber Silberblätter, Traummohn und Einhorntränen? Das klang unmöglich.
Sago und Morimori mussten ihr die Enttäuschung ansehen. Pradiyas Schwester legte ihr eine Hand auf die Schulter und der Arzt legte die Ohren traurig an.
„Es tut mir sehr leid. Solche Krankheiten sind nicht leicht zu heilen.“
„Wird … wird sie sterben?“, flüsterte Pradiya.
Morimori sah sie lange an. „Ich befürchte es. Sie ist bereits sehr geschwächt und ich fürchte, ihr Wille, euch zu beschützen, schwindet.“
Alle drei hoben den Blick und sahen zu der blassen Elfe im Schaukelstuhl, die ihr Gespräch hoffentlich nicht belauschen konnte.
Morimori seufzte. „Mehr kann ich leider nicht für euch tun. Aber solltet ihr Hilfe brauchen – ob nun mit Krankheiten des Körpers, des Geistes oder des Herzens – scheut euch nicht, zu mir zu kommen. Ich kann euch auch helfen, mit dieser Situation umzugehen.“
„Ich danke dir trotzdem“, sagte Pradiya leise. „Du bist der Erste, der tatsächlich zu wissen scheint, was mit ihr nicht stimmt.“ Sie griff in die Tasche ihres Rocks und suchte nach der Geldbörse, worauf Mori die Hand hob und ihr Einhalt gebot.
„Ich bleibe bei dem, was ich dir gesagt hatte: Ich nehme erst dann meinen Lohn an, wenn der Patient geheilt wurde. Da ich euch nicht helfen konnte, schuldet ihr mir auch nichts.“ Widerspruch ließ er nicht gelten. Nach einigem Zögern akzeptierte er jedoch ein Stück Fleisch und eine Schale Reis, die Sago ihm statt Gold anbot. Der Heiler verabschiedete sich leise von Pradiya, Sago und schließlich Yomisha, ehe er ging. Stille blieb in dem kleinen Häuschen auf dem Klippenrand zurück.
⁂
„Warum packst du?“, fragte Pradiya verwundert. „Du musst doch heute nicht arbeiten.“
„Ich werde in nächster Zeit überhaupt nicht arbeiten, wenn ich mir nicht was Neues suche“, antwortete Sago und sah auf. „Das ganze Quarzviertel ist stillgelegt. Ich muss sehen, ob ich in einem anderen Laden eingestellt werde. Denn bis Tili ihren Lohn ausgezahlt bekommt, muss irgendjemand die Schulgebühren bezahlen.“
Pradiya schluckte und wurde blass.
Sago warf ihrer jüngeren Schwester einen strengen Blick zu. „Wir werden heute Abend mit Tili darüber reden. Bis dann.“
„Bis dann“, wiederholte Pradiya kleinlaut.
Sago nahm die verzierte, weiße Tasche und rauschte aus dem Haus.
Die Kälte kroch sofort in den Stoff ihres Kimonos und sie war dankbar für das dicke Wollunterhemd, das sie verborgen unter dem feinen Kleid tragen konnte.
Ziellos, jedoch mit einem Tempo, das Zielstrebigkeit vortäuschte, lief sie die lange Hauptstraße hinauf und suchte die Schaufenster der Geschäfte nach einem kreisrunden Rahmen ab. Dieses Zeichen, im Fenster aufgehängt, bedeutete einen freien Arbeitsplatz – entstanden war es aus dem viereckigen Rahmen, der schon Jahrhunderte zuvor ein freies Zimmer symbolisiert hatte.
Doch weder der eine noch der andere Rahmen war zu sehen. Sago stellte sich bei ein paar Händlern vor, in Gasthäusern und Restaurants. Überall wurde sie abgewiesen, mal bedauernd, häufiger jedoch förmlich fortgejagt. Außerhalb der Quarzviertel gab es keinen Bedarf an Frauen wie Sago. Die Blicke, die man ihr zuwarf, waren feindselig.
Die Zyanyas waren Außenseiter, das konnte Sago nicht vergessen. Es war nicht nur die rätselhafte Vergangenheit ihrer Mutter, die offenbar ein düsteres Geheimnis barg, es war auch die abgeschiedene Lage ihres Hauses und ihre Familie an sich: Eine Elfenfrau gebar Zwillinge und bekam sogar gleich darauf noch ein Kind? Für die alteingesessenen Bewohner von Akijama war das ungehörig, befremdlich. Die Tatsache, dass der Vater spurlos verschwunden war, ließ die Leute hinter vorgehaltener Hand munkeln.
Sago seufzte. Akijama war zwar groß, doch gerade noch klein genug, dass die meisten hier ihre Geschichte kannten. Sie war sich sicher, dass ihre Familie der Grund war, warum sie so häufig abgelehnt wurde. Denn ihre Talente konnte sie auch in einem gehobenerem Geschäft als einer Bar einbringen.
Nur, was sollte sie dagegen tun? Sollte sie ins Rubinviertel gehen und in einem der Bordelle anheuern? Viele andere Optionen blieben ihr nicht.
Sie verließ die Hauptstraße und streifte durch das Diamantviertel, das Handlungszentrum, doch auch hier gab ihr niemand eine Chance. Sie war schon auf dem Weg ins Rubinviertel, als ihr ein weißer, runder Rahmen in dem kleinen Fenster eines Steinbaus auffiel.
Das Gebäude war aus niedrigem, grauen Stein errichten, mit flachen, langgezogenen Fensterhöhlen ohne Scheiben und einem vorgezogenen Hahnenkamm mittig auf dem stufenförmigen Pyramidendach.
Sago straffte sich und trat dann durch die Türöffnung. Es war ein altes Gebäude, nicht viel mehr als eine alte, leere Pyramide. Im Inneren war es überraschend warm, denn in einer mit Öl gefüllten Schale in der Mitte flackerte ein munteres Feuer. Abseits des Feuers herrschte undurchdringliche Finsternis.
„Ja?“, knurrte eine tiefe Stimme. Die kehlige Aussprache ließ auf einen Zwerg schließen.
„Ich komme wegen des Stellenangebots“, sagte Sago mit aller Sicherheit, die sie aufbringen konnte.
„Du? Was kannst du denn?“
„Ich habe hauptsächlich als Bardame gearbeitet“, sagte sie. „Aber ich lerne schnell. Ich bin ausdauernd und fleißig und …“
„Wir brauchen keine Vorstehdame“, knurrte der unsichtbare Zwerg. „Wir brauchen jemanden, der sich unauffällig in der Stadt bewegen kann.“
Sago strich über den teuren Stoff ihres Kimonos. Diese Aufmachung zog natürlich Aufmerksamkeit auf sich – dazu war sie gedacht!
„Der erste Schritt zur Unauffälligkeit ist es, zu wissen, wie man auffällt“, antwortete sie mit allem Hochmut, den sie zusammenkratzen konnte. „Du wärst überrascht, wie wandlungsfähig ich bin!“
Gleichzeitig fragte sie sich, in was sie hier nur hineingeraten war.
Eine andere Stimme erhob sich. Sago zuckte unwillkürlich zusammen. Wie viele Personen waren hier anwesend?
Die Fremden redeten in der rauen Sprache der Zwerge miteinander. Mehrmals hörte sie ‚Arkaa‘, das Wort für ‚Elfe‘. Unruhig wartete sie und lauschte. Sie war sich sicher, eine Anwesenheit an ihrer Seite zu spüren, als könnte sie die Wärme, die ein Körper ausstrahle, gegen ihren Arm branden fühlen. Als würde jemand lautlos direkt neben ihr stehen, um sie zu packen, wenn die unverständliche Besprechung schlecht für sie ausfiel oder falls sie aus der Pyramide fliehen wollte.
„Wie nennst du dich?“, fragte der Wortführer schließlich.
„Ich heiße Ix-Sago Zyanya“, antwortete sie.
„Nun, Ix-Sago.“ Das Feuer wurde gedimmt und Sago erkannte, nicht länger geblendet, erstmals die Schatten von vielleicht zehn Zwergen, die sich in dem kleinen Raum aufhielten. „Wir geben dir eine Chance.“
„Was muss ich tun?“, fragte sie und fürchtete sich davor, dass sie irgendwo einbrechen oder jemanden umbringen sollte.
„Wir sind eine Postgesellschaft“, sagte der Zwerg jedoch. „Wir liefern verschiedene Botschaften aus und garantieren absolute Verschwiegenheit und Diskretion. Unsere Kunden verschicken Liebesbriefe oder wertvolle Pläne neuer Maschinen. Nichts davon darf in die falschen Hände geraten. Du darfst die Rollen niemals öffnen, niemand sollte dich sehen, wenn du sie zustellst, und niemand soll die Botschaften zurückverfolgen können.“
Sago nickte, erleichtert. „Wann kann ich anfangen?“
„Jetzt. Wir haben eine Botschaft, die zugestellt werden soll. Ab morgen trägst du etwas unauffälliges. Du wirst wenigstens einmal pro Tag hier erscheinen und wir sagen dir, ob wir Aufträge für dich haben.“
Ein Zwerg trat vor und reichte Sago eine dicke Schriftrolle. Sie nahm sie achtsam entgegen.
„Was ist mit der Bezahlung?“
„Du wirst nach jedem Auftrag bezahlt“, antwortete ihr neuer Auftraggeber, während ein weiterer Zwerg den runden Rahmen aus dem Fenster entfernte. „Dieser ist 20 Rai wert, die größeren Aufträge bekommst du, wenn wir wissen, dass wir uns auf dich verlassen können.“
Sago nickte und steckte die Schriftrolle ein. „Wo muss ich hin?“