„Nach dir, junge Dame.“
Sokokado Ixtaca machte eine Verbeugung, die auf Pradiya überaus spöttisch wirkte, während er die Tür zu dem staubigen Westflügel der Bibliothek aufstieß.
Pradiya riss die Augen auf, als sie das Chaos entdeckte. Seitdem ein durch eine Lawine ausgelöstes Erdbeben die Schule vor vielen Jahren verwüstet hatte, waren zwar alle anderen Gebäude neu errichtet und ausgebessert worden, nicht jedoch die Bibliothek. Schriftrollen und sogar einige in Leder gebundene Bücher flogen wild durcheinander, einzelne Papiere bedeckten den Boden, und alles war knöcheltief in Staub versunken. Durch das blind gewordene Fenster drang ein wenig Licht herein, ansonsten herrschten Spinnweben und Dunkelheit vor.
„Und das soll ich aufräumen?“, fragte Pradiya entsetzt.
„Wir, junge Dame.“ Ixtaca lächelte beruhigend. Seine Haare, die ihm bis knapp über den Nacken gingen, zeigten bereits graue Staubspuren. „Ich helfe dir selbstverständlich.“
Das machte die Aussichten nicht viel ermutigender. Pradiya ließ den Blick über das Chaos schweifen.
„Wir fangen an einer Seite an und sortieren erst einmal, ob die Schriftstücke noch heil und lesbar sind“, schlug Ixtaca vor. „Danach sieht es bestimmt schon ganz anders aus.“
Pradiya betrat den staubigen Raum mit einem Gefühl, als würde sie sich in eine Gruft begeben. Die Schriftrollen stapelten sich teilweise bis zur Decke. Von den alten Holzregalen, in denen die Aufzeichnungen wohl einmal ordentlich in ihren Fächern verstaut gewesen waren, lagen überall Splitter und geborstene Balken verstreut. Pradiya entdeckte auch Kerzen, den mottenzerfressenen Stoff von Sitzkissen und das verbogene Metall kaputter Lampen.
Wie sollte man Ordnung in dieses Chaos bringen können? Das schien absolut unmöglich.
„Fang dort drüben an“, sagte Ixtaca und deutete in die Ecke links von der Tür. „Ich räume den Eingangsbereich frei und hole ein paar Säcke, um den Müll wegzuschaffen.“ Er reichte ihr Handschuhe aus weichem Leder. „Sei vorsichtig mit den Splittern.“
„Wo soll ich die Sachen hintun, die man noch lesen kann?“, fragte Pradiya.
Ixtaca hob den Besen, den er in der Hand hielt, leicht an. „Ich mache hier an der Wand einen Flecken dafür sauber!“
Während sich ihr Lehrer mit fröhlichem Pfeifen ans Fegen und Freiräumen machte, stellte sich Pradiya vor den großen Schutthaufen, der ihr Anfang sein würde. Es war einer der niedrigeren Berge, und trotzdem überragte er sie noch. Stumm bückte sie sich nach der ersten Schriftrolle. Das Holz war zerbrochen, das Papier von den Splittern zerfetzt und vom Lichteinfall ausgebleicht. Sie konnte die Piktogramme des Titels kaum mehr entziffern, das erste Zeichen mochte ‚Landschaft‘ oder ‚Geografie‘ sein.
Sie sah sich suchend um und warf die Schriftrolle dann auf eine der wenigen Stellen, wo man die Steinfliesen des Bodens noch erkennen konnte. Der Staub legte sich bereits auf ihre Haut und fühlte sich juckend und kratzig an. Mit einem mutlosen Seufzer griff sie nach der nächsten Rolle. Diese war intakt, und schon beim Öffnen sah Pradiya das komplexe Zeichen für ‚Medizin‘, den Kranich, die aufgehende Sonne und das Bergkraut über dem Bild der liebevollen Hände.
Sie zog das Papier heraus und stellte fest, dass sich der Inhalt der Rolle noch lesen lassen würde. Gleichzeitig flammte Hoffnung in ihr auf. Die Medizinrollen der restlichen Bibliotheksflügel hatte sie schon fast alle gelesen, doch hier würde sie vielleicht neues Wissen finden, um ihrer Mutter zu helfen.
Sie legte die Rolle auf das von Ixtaca leergefegte Stück Boden, mit dem seitlichen Knauf direkt an der Wand, um möglichst platzsparend stapeln zu können.
„Bin gleich wieder da“, sagte ihr Lehrer und verließ die staubige Halle.
Pradiya zog unzählige Schriftrollen aus den Stapeln: über Medizin und Technik, über die Geschichte der vielen Eroberungen, die dazu geführt hatten, dass sich Gai-Shitori nun über den Großteil der Eisenberge ausbreitete, und über die Geografie der Berge und die größten Adern von Erzen. Doch sie brachte auch einen Holzbalken, die Scherben einer alten, reich verzierten Vase und schließlich die Fetzen eines Kissens aus ihrem Stapel zutage. Sie fand sogar die kupfernen Schienen einer mechanischen Bahn, die die Rollen früher dicht unter der Decke zu ihren jeweiligen Plätzen im Regal gefahren und mit einem dampfbetriebenen Greifarm einsortiert hatte. All das gab ihr eine Ahnung davon, wie prächtig dieser Saal einst ausgesehen haben musste, ehe er verfallen war. Es stimmte sie traurig, dass niemand sich daran gewagt hatte, hier aufzuräumen. Aber offenbar gab es immer andere Dinge, die getan werden mussten.
Ob sie es schaffen könnten, die Halle freizuräumen? Die Idee, Haufen um Haufen abzutragen, nur das Heile auszusortieren, reizte Pradiya, so anstrengend und mühsam die Arbeit auch sein würde. Sie räumte ein paar Schriftrollen umher und stieß auf altes Teegeschirr, einen Bilderrahmen – das Bild konnte sie nicht erkennen, denn der Rahmen lag mit der Vorderseite auf den Steinen und war noch von Bergen von Gerümpel bedeckt – und sogar einen alten Ziertisch, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war, wenn man von Macken und Kratzern in der Tischplatte einmal absah.
Welche Wunder mochten sich hier wohl verbergen? Wie viel Wissen, wie viele Reichtümer?
⁂
Mit angehaltenem Atem drückte Sago den Rücken gegen die Wand des Hauses und spähte vorsichtig um die Ecke. Die Gasse vor ihr schien frei zu sein. Sie hatte lange gelauscht und keine Geräusche gehört. Doch sie konnte sich immer noch nicht sicher sein, dass die Jäger nicht doch dort waren.
Irgendwie hatte sie es bis ins Kohleviertel geschafft, jenen Außenbereich der Stadt, in der außer Ruinen vor allem die Schmieden der Zwerge standen, deren unablässiger Rauch wie eine drohende Wolke über der Stadt hing.
Sie sah um die Ecke und riss den Kopf sofort wieder zurück, ohne viel mehr als eine Ahnung von dem verfallenen Holzbau zu erhalten, der ihr Ziel war.
Mit bebendem Herz wartete sie, doch keine Speere zischten in die Gasse.
Sago atmete tief durch und spähte erneut um die Hausecke, diesmal etwas mutiger.
Die Gasse war frei. Der unansehnliche, schlammige Weg führte zwischen den Rückseiten zweier größerer Häuser hindurch und schlängelte sich dahinter über ein unebenes Schneefeld, auf dem eine windschiefe Hütte stand.
Sago straffte sich, nahm allen Mut zusammen und marschierte geradewegs auf das freistehende Gebäude zu. Bei jedem Schritt rechnete sie damit, dass ein Speer sie traf, dass ein lauter Ruf ertönte, doch nichts geschah. Vor Angst hätte sie heulen können, doch sie riss sich zusammen. Sie musste das hier hinter sich bringen.
Sie kam aus der Deckung der Häuser heraus und ging über das freie Feld. Ihre Schritte waren unregelmäßig, ihre Beine wollten loslaufen, doch sie bremste sich immer wieder ab, selbst mitten im Schritt. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Sonst war nichts zu hören.
Sago erreichte die Holztür und klopfte.
Stille. Im Haus rührte sich nichts.
„Hallo?“, rief sie mit dünner Stimme.
Als sie keine Antwort erhielt, klopfte sie wieder.
Diesmal schwang die Tür auf, scheinbar von Geisterhand. Sago stand einer leeren, schwarzen Öffnung gegenüber.
„Ich … ich habe eine Botschaft“, stotterte sie verängstigt.
„Arkaa!“, rief jemand im Inneren. Es klang wie ein Fluch. Eine Hand kam aus der Dunkelheit und packte Sagos Handgelenk, ehe sie zurückweichen konnte. Sie wehrte sich gegen den Griff, der sie in die Hütte zerren wollte. Zu dem kurzen, stämmigen Arm gesellten sich drei weitere und Sago wurde in die Hütte gerissen. Die Tür knallte zu und sie landete in absoluter Dunkelheit auf einem kalten Steinboden und schlug sich das Knie an.
„He!“, protestierte sie und erhielt einen Tritt in die Magengrube. Ächzend schnappte sie nach Luft. Ihre Wange lag auf dem Boden. Sie krümmte sich zusammen, während ihr Herz in Todesangst raste.
Wütende Stimmen unterhielten sich. Sago konnte kein Wort verstehen, die Zwerge sprachen zu schnell und zu wild durcheinander. Sie umklammerte den Bauch mit beiden Händen und blinzelte, doch ihre Augen konnten die Dunkelheit kaum durchdringen.
„Bitte!“, flüsterte sie. „Ich … ich bin nur eine Botin!“
„In dem Fall – sag deine Botschaft, Spitzohr!“, knurrte eine Stimme nah an ihrem Rücken. Ein Zwerg, der bisher geschwiegen hatte, musste dicht hinter ihr knien, vermutlich bereit, sich auf sie zu stürzen, sollte sie die geringste Bewegung machen.
Die anderen Zwerge verstummten, um ihr zuzuhören.
„Ich …“ Sago griff nach der Schriftrolle. Raue Hände umfassten ihren Arm und sie spürte kaltes Metall am Hals. Erschrocken schluchzte sie auf. „Bitte! Ich habe eine Schriftrolle!“
„Keine Bewegung!“, knurrte der Zwerg hinter dir, der sich inzwischen über sie beugte. Es musste sein Messer an ihrem Hals sein. „Beweg dich, und ich schneide dir beide Ohren ab!“
Sago zitterte. Wehrlos ließ sie zu, dass man sie auf den Rücken drehte. Man hielt ihre Arme und Beine fest, und tasteten sie ab. Ein hartes Paar Hände drang grob unter ihr Hemd und zog die Schriftrolle hervor.
Der Zwerg rief etwas, worauf eine Kerze entzündet wurde. Im schwachen Lichtschein sah Sago ein bärtiges, mit Schmutz bedecktes Gesicht, das die Rolle studierte und dessen rötliche Augen sich langsam weiteten.
Dann diskutierten die Zwerge in ihrer kehligen Sprache über den Inhalt der Botschaft, während Sagos Bewacher den Dolch nicht von ihrem Hals nahm. Die Diskussion wurde laut und von klagenden Rufen durchbrochen. Sago hatte keine Ahnung, was vor sich ging.
„Bitte …“, flüsterte sie. „Lasst mich gehen.“ Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Dich gehen lassen?“, knurrte der Zwerg, der sie bewachte. „Du bist eine Beleidigung unserer Intelligenz! Die Seherin hätte sich klüger anstellen können, als uns ausgerechnet eine Elfe zu schicken.“
„Die Seherin? Ich weiß nicht, wovon du redest!“, flehte Sago. „Bitte, ich sollte nur die Botschaft überbringen. Ich weiß nicht, was in der Rolle steht oder warum die Wachen sie haben wollen! Ich weiß nicht mal, von wem sie kommt! Ein paar Zwerge, die in einer verlassenen Steinpyramide leben, haben sie mir mitgegeben!“
„Wir wissen bereits, dass ihr die Pyramide ausgeräuchert habt“, knurrte der Zwerg. „Der Tod unserer Brüder und Schwestern wird uns trotzdem nicht aufhalten.“
„Ausgeräuchert?“, wiederholte Sago entsetzt. „Tod?“
„Du brauchst dich nicht länger zu verstellen“, knurrte der Zwerg. „Niemand anderes als ein Agent der Seherin konnte den Wachen entkommen und hierher gelangen. Und ihre falsche Botschaft werden wir auch nicht glauben!“
„Bitte, ich …!“, setzte Sago an, als ihr etwas Raues, Übelschmeckendes über das Gesicht und in den Mund gezogen wurde, ein breiter Streifen Stoff, den die Zwerge in ihrem Nacken verknoteten.
„Spar dir deine Lügen“, knurrte ihr Bewacher, während er den Knebel festzog. „Du wirst uns noch früh genug alles sagen!“
⁂
Ixtaca hatte mehrere große Jutesäcke und zwei Schubkarren geholt. Die Säcke lehnten, zum Großteil bereits gefüllt, an der Wand im Nebenraum. Die beiden Schubkarren warteten im Vorraum darauf, die Ausbeute dieses Tages wegräumen zu können, denn die Säcke waren viel zu groß und dementsprechend schwer, um sie ohne Hilfen zu bewegen.
Draußen wurde es dunkel, sodass sie im Licht einiger Öllampen arbeiteten.
Ixtaca erhob sich, streckte den Rücken durch und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
„Wir haben schon viel geschafft.“
Pradiya erhob sich mit einem leisen Ächzen und sah sich um. Der Fortschritt war unmerklich, während man arbeitete, doch nun sah auch sie, dass sie eine ganze Ecke freigeräumt hatten.
„Machst du den letzten Sack noch voll?“, bat Ixtaca. „Ich bringe die anderen schon mal weg.“
Pradiya sah ihm zu, wie er den ersten Sack auf die Schubkarre wuchtete. „Braucht Ihr Hilfe?“
„Nein, mach du nur weiter. Wir wollen doch auch fertig werden“, ächzte ihr Lehrer.
Pradiya zuckte mit den Schultern, als Ixtaca mit der beladenen Schubkarre ging. Sie wandte sich wieder der Rolle zu, die sie gerade untersucht hatte. Nur ein sehr kleiner Haufen lesbarer Rollen stapelte sich an der Wand.
Doch die Rolle, die Pradiya nun zur Hand nahm, war noch intakt. Sie öffnete sie und war erstaunt, als sie keine ordentlichen Schriftzeichen vorfand, sondern einen unsauber gekritzelten Text, der offenbar in großer Eile geschrieben worden war.
Konzentriert las sie die Überschrift.
‚Naomishi Alagh-Eleu: Tagebuch einer Stadtgründung‘.
Pradiya überflog die ersten Zeilen. Die Schrift war winzig und unordentlich, oft rutschten die Schriftbilder eine Zeile zu hoch oder zu tief, als würden die Zeichen einen fröhlichen Tanz aufführen. Viele der Zeichen waren auch noch alt und sahen mehr wie Bilder als wie Schriftzeichen aus.
„Alagh-Eleu?“, murmelte Pradiya halblaut. Sie stutzte, als sie eine vertraute Zeichenkombination sah: ‚Yomisha‘. Sie beugte sich über den Absatz und murmelte leise beim Lesen: „Seine Freundin war jedoch eine Elfe mit Namen Yomisha. Ihre Eltern verstießen sie für diese Liebe, und so wählte sie einen neuen Nachnamen.“
Die alten Zeichen bedeuteten ‚Quarz‘ und ‚Herz‘. „Ziian Yai“, sprach Pradiya die Worte aus. Sie wusste sofort, dass ihr der Klang vertraut war und sie spürte eine Gänsehaut über ihre Arme kriechen. Vor nicht allzu langer Zeit – jedenfalls nach den Maßstäben der Elfen nicht – hatten die sterblichen Bewohner Gai-Shitoris die Zeichen anders ausgesprochen: „Zyanya.“
„Was sagtest du?“
Ixtaca war zurück. Pradiya hätte vor Schreck fast geschrien und verbarg die Schriftrolle instinktiv hinter ihrem Rücken, als sie zu ihrem Lehrer herumwirbelte.
„Nichts!“, stieß sie aus.
„Dann komm, wir müssen noch vier Säcke fortbringen.“ Ixtaca lächelte.
Pradiya lächelte zurück, schob die Rolle vorsichtig in den hinteren Bund ihres Rocks und zog das Hemd darüber.
Es musste einen Grund geben, warum der Name ihrer Mutter in der Schriftrolle auftauchte, und sie würde diesen herausfinden.