„Wiederhole das“, verlangte Tili. Sie fühlte sich, als würde man ihr abwechselnd heißes und kaltes Wasser über den Rücken kippen.
Pradiya holte Luft.
„Und diesmal langsam“, fügte Tili hinzu.
Ihre Schwester atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Dann wedelte sie wieder mit der Schriftrolle herum wie ein Dirigent mit einem Taktstock. „Hier drin steht Mutters Name.“
Tili schüttelte sprachlos den Kopf und nahm die Schriftrolle von Pradiya entgegen. „Du hast sie gestohlen?“
Pradiya zuckte zusammen. „Ich … ich konnte nicht denken. Ich wollte nicht, dass Ixtaca mir verbietet, sie zu lesen.“
Amoxtili entrollte das Pergament, das durch einen Zylinder aus grauem Obsidianglas vor Zeit und Verfall geschützt wurde. Die Griffe dagegen bestanden aus gewöhnlichem, rötlichem Holz von den Tannen weiter unten am Berghang.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die ersten Zeilen las.
„Das Tagebuch von Naomishi Alagh-Eleu?!“
„Du kennst sie?“, fragte Pradiya.
Tili rollte das Pergament zusammen, zog ihre Schwester endlich ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Dann erst antwortete sie. „Ich kenne sie nicht, das war vor meiner Zeit. Aber sie war dabei, als die Stadt gegründet wurde.“
„Die Stadt? Akijama?!“, fragte Pradiya.
Tili legte einen Finger an die Lippen und zog ihre Schwester ins Wohnzimmer. Ihre Mutter schlief bereits, hinter den Fenstern war es dunkel. Tili löschte nun auch die Öllampen bis auf eine, die sie auf den Wohnzimmertisch stellte, um in ihrem Licht die Rolle erneut zu öffnen. Pradiya sah ihr dabei zu und schien immer nervöser zu werden.
„Was ist denn los?“, fragte sie leise.
„Komm her.“ Tili winkte ihre Schwester flüsternd zu sich. „Was weißt du über die Stadtgründung?“
„Ich … nicht viel.“ Pradiya kniete sich an das Tischchen. „Akijama soll ein Hort des Wissens sein, ein Leuchtfeuer des Elfenreichs auf der Erde …“
„Darum geht es. Akijama ist vielleicht die Stadt des Wissens, doch kaum jemand weiß genaueres über ihre Entstehung!“, flüsterte Tili. „Dabei ist die Stadtgründung noch keine hundert Jahre her.“
„Keine hundert Jahre?“, wiederholte Pradiya ungläubig. Tili konnte genau sehen, wie ihre Schwester nachrechnete. Nicht ohne Grund – Tili und Sago waren 78 Jahre alt, Pradiya 76. „Es muss unzählige Elfen geben, die die Stadtgründung noch miterlebt haben!“, flüsterte Pradiya.
„Ganz recht. Jeder sollte darüber Bescheid wissen“, fuhr Tili im Flüsterton fort. „Und doch sind wir auf solche Texte wie diesen hier angewiesen.“
Pradiya schien zu ahnen, dass Tili auf etwas Schreckliches hinauswollte. „Warum?“, fragte sie leise.
„Wenn du die älteren Elfen fragst, wirst du erfahren, dass sie erst einige Jahre nach der Stadtgründung nach Akijama gezogen sind. Meist aus ganz einfachen Gründen. Die Eisenelfen haben schon immer in den Tori’Nai gelebt, doch niemals in einer Stadt wie dieser, sondern verstraut auf abgelegenen Höfen. Erst, als der Palast gebaut wurde, siedelten sich immer mehr Elfen auf der Ebene darunter an. Die meisten besitzen heute noch ihre ehemaligen Wohnhäuser auf den Berghängen.“
„Die Landsitze.“
Tili wusste, dass Pradiya genau wie Sago und sie selbst Jahre davor einen Schulausflug auf die alten Ländereien unternommen hatte, wo die herrlichen Paläste mit ihren riesigen, von Menschen beackerten Feldanlagen standen. „So haben einmal alle Elfen gewohnt“, fuhr sie fort. „Doch die Kaiserin wollte eine Hauptstadt und entschied, dass die Elfen sie hier errichten sollten. Akijama wurde gegründet. Doch von denen, die damals hier lebten, ist kaum jemand geblieben.“
Tili machte eine Pause und sah ihre Schwester an.
„Sind … sind sie weggezogen?“, fragte Pradiya.
„Manche sind weggezogen. Zwei oder drei sind verschwunden. Viele wohnen heute oben im Palast, in direkter Nähe der Kaiserin. Doch die meisten sind gestorben.“
„Gestorben?!“, entfuhr es Pradiya entsetzt.
„Die ersten Bewohner Akijamas waren die Zwerge, die die Häuser errichtet haben. Die sie heute noch errichten“, erklärte Tili. Zwerge wurden höchstens fünfzig Jahre alt, eher dreißig, wenn sie hart arbeiteten. Pradiya atmete sichtlich erleichtert aus. „Sie sind bessere Handwerker als Elfen. Oder denkst du, man würde sie ansonsten in die Stadt lassen?“
„Aber sie waren doch nicht die richtigen Bewohner“, stammelte Pradiya.
„Nein, sie waren nur Arbeiter“, sagte Tili. „Sie durften die Häuser bauen und so lange darin wohnen, bis die Elfen kamen. Da war die Stadt bereits fertig.“
„Dann war Akijama zu seinen Anfängen … was, eine Geisterstadt?“, fragte Pradiya. „Warum?“
„Genau das ist der Punkt“, sagte Tili. „Warum wurde die Stadt hier gebaut? Warum die Geheimhaltung, warum lernt ihr beispielsweise in der Schule nichts über Akijama? Warum tut die Kaiserin, als hätte es diese Stadt schon immer gegeben?“
„Warum?“, fragte Pradiya.
„Ich weiß es nicht“, sagte Tili leise. „Aber es gibt ein Geheimnis, und ich glaube, dass diese Schriftrolle uns der Lösung näherbringen könnte. Aber es ist gefährlich.“
Pradiya nickte. Sie war blass geworden.
Tili rollte das Pergament wieder zusammen. „Wir müssen es lesen. Offenbar ist Mutter in die ganze Geschichte verstrickt. Aber niemand darf wissen, dass wir die Rolle haben!“
Pradiya nickte erneut. Tili stand auf und fuhr sich müde über die Augen. Ihr Rücken tat weh. Ihre Hände waren mit Schnitten, Quetschungen und Kratzern übersät. Normalerweise mochte sie diesen Schmerz, der ihr sagte, dass sie ihr Tagewerk vollbracht hatte, doch da die Arbeit am Palast sie täglich für so viele Stunden beanspruchte, fühlte sie sich nur noch erschöpft. „Ich denke nicht, dass ich heute noch schlafen kann. Willst du etwas essen?“
Pradiya nickte eifrig.
„Dann mache ich uns was und danach kümmern wir uns um diese Rolle.“
⁂
Man hatte ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt und ihr einen Sack über den Kopf gezogen. Dann hatte man sie gezwungen, vorwärts zu gehen.
Zuerst war es über Schnee gegangen, dann über einen rutschigen Schotterweg bergab. Sago hatte vor Angst kaum atmen können, während die Zwerge sie rücksichtslos vorwärts schubsten. Wieder und wieder war sie gefallen, ihre Knie fühlten sich aufgeschlagen an. Einmal wäre sie offenbar fast einen Abhang hinabgefallen, wenn sie die panischen Rufe und den Zwerg, der sie mit aller Macht festgehalten hatte, richtig gedeutet hatte.
Durch den Knebel konnte sie den Mund nicht schließen und Sabber lief ihr über das Kinn. Unter dem Sack war es heiß und stank, und kaum Luft drang durch das grobe Gewebe. Sie war verschwitzt und zitterte vor Angst.
Irgendwann hatten sie die kühle Nachtluft verlassen und waren in den Berg gegangen. Sago hatte den Kopf zwischen die Schultern ziehen müssen und sich trotzdem immer wieder die Stirn an von der Decke hängenden Tropfsteinen gestoßen. Sie hatte den Hall in dem Tunnel gehört und gerochen, dass jemand eine Fackel entzündet hatte. Und sie waren gelaufen und gelaufen, sicherlich die ganze Nacht hindurch. Längst hatte Ix-Sago den Überblick über die vielen Windungen der Tunnel verloren.
Jetzt wurden sie endlich langsamer. Sago hörte plötzlich Stimmengewirr vor sich, der Klang ließ auf eine große Halle schließen. Rufe ertönten und das Gerede verebbte, als sie sich näherten. Sago wurde noch langsamer. Sie spürte genau, dass man sie anstarrte.
„Wer ist das?“, fragte eine tiefe, grollende Stimme. Es konnte kein Zwerg sein, sonst hätte derjenige auch Zwergisch gesprochen. Obwohl die Person nicht einmal brüllte, spürte Sago den Boden unter sich vibrieren.
„Ein Spitzel der Seherin. Unser Lager in der Stadt wurde zerschlagen“, antwortete der Zwerg, der sie auch schon in der Hütte bewacht hatte.
„Und dann bringt ihr sie her?“, knurrte der Unbekannte.
„Hätten wir sie töten sollen?“
„Das nicht unbedingt, doch sie hierher bringen …“
„Die Seherin weiß doch schon, dass wir hier sind“, warf Sagos Bewacher ein. „Wir haben dafür eine gute Chance, etwas mehr über ihre Pläne zu erfahren, wenn wir sie hier verhören.“
Dabei stieß er Sago in den Rücken, sodass sie nach vorne stolperte.
Etwas, das keine Hand sein konnte, packte den Stoff des Sacks, den man ihr übergezogen hatte, und riss ihn herunter.
Sago riss die Augen auf, als sie das Antlitz ihres Gegenübers sah.
⁂
Das Tagebuch von Alagh-Eleu erwies sich als schwierige Lektüre.
Nicht nur wegen der unordentlichen, winzigen Schrift. Naomishi war, wie sich herausstellte, eine Menschenfrau, Dienerin einer Adeligen. Immer wieder ließ sie sich seitenlang über die gesellschaftliche Umgebung der Kaiserin aus, über die Grafen und Barone, die um die Gunst von Chousokabe-Xin Zakanono warben. Und noch länger ließ sich Naomishi über ihr Misstrauen gegenüber der Elfenmagie aus, mit deren Hilfe der Palast errichtet wurde.
„Eine richtige Magie-Phobikerin“, grummelte Pradiya, die neben Tili hockte und die Rolle überflog.
„Ja, fast wie du!“ Tili grinste und kassierte einen Ellbogen in die Rippen.
Wenig später tippte Pradiya auf die Seite. „Hier!“
Tili beugte sich über den Text und las vor: „‚Seine Freundin war jedoch eine Elfe mit Namen Yomisha. Ihre Eltern verstießen sie für diese Liebe, und so wählte sie einen neuen Nachnamen. Zyanya.‘ – Von dem Zeichen hat Xpiakane mir erzählt. Es ist eine alternative Schreibweise unseres Namens.“ Sie drehte die Rolle ein wenig zurück und las den vorherigen Abschnitt.
„‚Eines Tages gab es einen kuriosen Neuzugang am Hof: Einen Zwerg, Lankretes Rauchquarz. Er war ein Forscher aus irgendeinem weit entfernten Ort. Er reiste durch das Land und wollte den Bau des Palastes mitansehen, doch es schien bald, dass er einen anderen Grund gefunden hatte, um zu bleiben. Lankretes wurde widerstrebend geduldet. Er stammte aus einem Land, wo die Zwerge den Elfen ebenbürtig sind und vergiftete die Köpfe der Arbeiter mit gefährlichen Ideen von Gleichheit und Einheit. Schließlich musste man ihn beseitigen, doch Lankretes blieb ganze vier Jahre in Akijama. Genug Zeit, um einige radikale Zwerge auf seine Seite zu ziehen, deren Widerstandsnester bis heute nicht alle ausgemerzt wurden. Genug Zeit, um eine Familie zu gründen, die nach seinem Tod in der Stadt zurückblieb.‘“ Tili stockte im Lesen. „Hier kommt der Absatz von eben: ‚Seine Freundin war jedoch eine Elfe … mit Namen Yomisha.‘“
„Mutter“, flüsterte Pradiya.
Die Rolle glitt aus Tilis Händen und fiel auf den Boden. Erschüttert sahen die beiden Schwestern einander an. In die Stille hinein drang das leise Quietschen einer Shoji-Tür, die geöffnet wurde.
Yomisha Zyanya stand in ihrem weißen Nachthemd vor den Schwestern, die sie verschreckt ansahen.
„Ihr habt es also endlich herausgefunden“, sagte Yomisha mit kraftloser Stimme.
„Mutter!“, rief Pradiya und eilte an die Seite der kränklichen Elfe. „Du solltest im Bett sein!“
„Kinder, es ist Morgen!“, wehrte Yomisha ab. „Ihr habt die ganze Nacht hindurch gelesen, wie mir scheint.“
Tili spähte zum Fenster. Tatsächlich, der Schnee leuchtete im Licht der frühen Sonnenstrahlen.
„Wo bleibt Sago nur?“, wunderte sie sich, während Pradiya Yomisha zu deren Schaukelstuhl brachte.
„Sie muss doch jetzt unregelmäßig arbeiten. Offenbar kommt sie später.“ Pradiya sah Yomisha an. „Stimmt das? Ist unser Vater … wirklich …“
„Ein Zwerg, ja“, sagte Yomisha. „Lankretes Rauchquarz. Er war den kaisertreuen Elfen ein Dorn im Auge, und so haben sie ihn umgebracht. Mich konnten sie nicht so einfach töten, denn es gab ja noch drei Kinder, um die sie sich hätten kümmern müssen. Stattdessen haben sie uns an den Stadtrand verbannt.“
Yomisha seufzte schwermütig. Pradiya tauschte einen weiteren erschütterten Blick mit Tili.
Tili berührte ihre langen Ohren, deren Spitzen sich nach unten neigten. „Was … was sind wir, Mutter?“
Yomisha wich ihrem Blick aus.
„Wir sind wohl keine Elfen, oder? Keine ganzen Elfen“, stammelte Tili. Sie wollte nicht lockerlassen. „Es hat einen Grund, warum Sagos und meine Ohren so seltsam sind, oder nicht?“
Yomisha nickte mit einem weiteren Seufzen. „Ihr seid Halbelfen. Sterblich.“
Tili musste sich auf den Boden setzen.
Sterblich. Die seltsame Form ihrer Ohren war kein kurioser Gendefekt, keine harmlose Besonderheit, die sie mit ihrer Zwillingsschwester teilte … es war das Zeichen, dass sie starben, dass ihnen nur wenige Jahre auf dieser Welt vergönnt waren.
Wie viel Zeit sie bereits vergeudet hatte, in dem Glauben, die Ewigkeit vor sich zu haben!