»Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.« ~ Kassia
Nachdem sie gegen die helle Sonne blinzelnd aufgewacht war, den rätselhaften blauen Stein in ihrem Arm bemerkt hatte und sich aufrichtete, fand sich Kassia auch schon dem ersten gefährlichen Wesen dieser fremdartigen Welt gegenüber.
In ihrem Fall war das ein junges Mädchen mit einer schwarzen Kurzhaarfrisur, dass sie misstrauisch und einen Stein in der Hand erhoben beäugte.
„Hallo“, sagte Kassia und hob beide Hände neben ihren Kopf.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen unfreundlich.
Kassia überlegte eine Weile, aber ihr fiel nichts ein. Sie wusste ihren Namen, aber nichts von irgendwelchen Hobbys, davon, wie sie hierher gekommen war, oder wo sie vorher gewesen war. Ob das fremde Mädchen das akzeptieren würde, konnte sie nicht sagen: „Äh. Ich weiß es nicht“, stammelte sie: „Ich heiße Kassia.“
Zu ihrer Erleichterung ließ das Mädchen den Stein fallen. Sie konnte nicht älter als 15 sein, vielleicht sogar jünger. Kassia sah sich auf dem Strand um.
Da krochen riesige Kellerasseln herum, und sie erkannte ein Dreihorn – einen Dinosaurier.
Verwirrt schoss ihr Blick zwischen dem Mädchen und dem Dinosaurier hin und her: „Ist das da echt?!“
Das Mädchen folgte ihrem Blick und nickte lässig: „Ja, höchst echt. Die Monster im Wasser übrigens auch.“
Kassia überlegte einen Moment, ob das Mädchen Witze machte, trat aber vorsichtshalber ein paar Schritte vom Strand weg und räusperte sich: „Die … Monster?“
„Riesen-Philomenas oder so“, er widerte das Mädchen und zuckte mit den Schultern, bevor es ihr eine Hand hinhielt: „Ich heiße Lucy.“
„Kassia“, sagte Kassia.
„Ich weiß“, erwiderte Lucy kopfschüttelnd, und Kassia fiel auch wieder ein, dass sie das schon gesagt hatte.
„Keine Sorge, der Ort hier macht einen fertig. Das legt sich bald“, versprach Lucy: „Ich zeige dich jetzt Thanatos, und dann kannst du ihn fragen, ob du bleiben darfst.“
Kassia folgte dem Mädchen schweigsam, noch überwältigt von den ganzen Eindrücken. Lucy führte sie über einen Hügel, wo sich nach einer kurzen Weile ein provisorisches Lager entdeckten, vor dem ein dunkelhäutiger Mann mit Muskeln wie ein Bär saß. Er trug nur eine helle Hose, und als Kassia an sich herab sah, und an Lucy, trugen sie beide nur Höschen und BH. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als sie vor den Mann trat, der sie aus gelblichen Augen musterte: „Ist hier irgendwo ein Nest?“
„Sie ist gerade am Strand aufgetaucht“, erklärte Lucy, die auf dem Inneren ihrer Wangen kaute wie auf einem Kaugummi.
Der Mann seufzte und stand auf. Er überragte Kassia um anderthalb Köpfe: „Kannst du arbeiten?“
„Ich … äh“, machte sie eingeschüchtert: „Keine Ahnung.“
Der Mann schnaubte: „Ich werde euch beide nicht durchfüttern. Ihr werdet schon eine Rolle erfüllen müssen.“
„Und welche Rollen gibt es?“, fragte Kassia, die bemerkte, wie Lucy zu einer patzigen Antwort ansetzte. Und irgendwie wollte sie einen Konflikt um jeden Preis vermeiden. Wenn auch nur, um nicht zusehen zu müssen, wie der dunkelhäutige Riese die schmale Lucy zerquetschte.
Bei dem erschreckend blutigen Bild, das sich in ihrem Kopf formte, zuckte Kassia zusammen. Woher hatte sie denn diese Fantasie?
Thanatos hatte inzwischen nachgedacht und brummte: „Wir brauchen Kundschafter, wir brauchen Essen und Holz und Steine. Außerdem brauchen wir jemanden, der Waffen herstellen kann.“
Kassia warf einen unsicheren Blick zu Lucy. „I-ich finde bestimmt ein wenig Holz ...“, schlug sie vor.
„Waffen kannst du selber machen“, sagte Lucy: „Ich gehe mit ihr.“
Das „Ich gehe mit ihr“ hieß offenbar, dass Lucy in Sichtweite, aber außer Hörweite blieb, obwohl Kassia mehrmals versuchte mit ihr zu reden. Alles, was sie von dem Mädchen hörte, war eine Warnung, vorsichtig zu sein.
Die Wälder waren voll von dünnen Hölzchen und jungen Bäumen, die Kassia ohne große Mühe abbrechen und aufsammeln konnte. Lucy war in der Zwischenzeit am Strand und sammelte mit beiden Händen Steine zwischen den Muscheln und großen Kellerasseln. Offenbar kümmerte das Mädchen sich kaum um die Krabbeltiere, was Kassia ein wenig befremdete. Wer saß schon seelenruhig neben einer Kakerlake, die halb so groß war wie man selbst?
Sie war in solche Gedanken versunken, als sie ein Sirren wahrnahm. Es klang nach Mücken, aber ein wenig lauter. Kassia drehte sich um und starrte mehr oder weniger direkt in die Facettenaugen einer riesigen Libelle.
Bevor das Tier nach ihr schnappte und eine Kieferzangen sie nur deshalb verfehlte, weil sie sowieso mit einem Schrei zurückgesprungen war.
Die Arme voller Holz ließ sie fallen, um nach der Libelle zu schlagen. Dahinter tauchten vier, fünf andere auf. Kassia zögerte nicht lange, die Flucht zu ergreifen, während der Schwarm ihr folgte wie ein winziges Geschwader Hubschrauber.
„Hier!“, brüllte Lucy und sprang winkend auf und ab. Kassia überlegte nicht lange und hielt auf das Mädchen zu. Die Libellen waren erschreckend schnell, die ersten verfingen sich beinahe in ihren langen, roten Locken. Kassia stolperte auf den Strand, wo Lucy ihr entgegen kam, wieder einen Stein in der Hand, und die vorderste Libelle mit Schwung aus der Luft schlug.
Das Tier knackte nur, grünliches Blut spritzte auf, bevor es aus der Luft trudelte und in den Sand stürzte. Von Lucys Mut beeindruckt und angestachelt, blieb Kassia stehen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht überwinden, eine der Libellen zu schlagen. Sie wedelte mit den Armen in der Luft, um die Viecher zu verscheuchen, während Lucy eine Libelle nach der anderen aus der Luft schlug.
Am Ende lag nur noch eine zuckend und die feinen Flügel zerbrochen im Sand. Lucy trat darauf und zerdrückte das Tier mit dem bloßen Fuß. Kassia wandte ihren Blick von dem Blut ab. Sie hatte eine Gänsehaut. Etwas kratze an ihrem Gedächtnis, etwas, das am Besten für immer in der Dunkelheit des Vergessens bleiben sollte, das war alles, was sie deutlich spürte.
„Bist du okay?“, fragte Lucy und Kassia nickte, während sich ihr Atem langsam beruhigt. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht: „Was war das?“
Lucy zuckte mit den Schultern: „Was auch immer es war, jetzt ist es tot.“
Daran bestand jedenfalls kein Zweifel: „Danke.“
„Kein Ding. Und jetzt hol dein Holz. Wenn du dich beeilst, warte ich noch auf dich.“
Kassia rannte. In den Wald, klaubte das Holz auf und flüchtete sich noch schneller daraus, aber trotzdem war Lucy schon fast auf dem Weg zurück zu Thanatos, bevor Kassia sie erreicht hatte. Keuchend unter der Last des Holzes lief sie dem Mädchen nach.
Thanatos trug eine sauertöpfische Miene im Gesicht, als sie zu ihm kamen. Er begutachtete die Steine und Stöcke, pickte sich dann welche daraus und begann, jeweils einen Stock und einen Stein mit Pflanzenfasern aneinander zu binden.
Kassia spürte, wie ihr Magen rumorte. Den halben Tag Holz zu sammeln und sich zusätzlich mit Killer-Mücken herumzuschlagen, hatte sie hungrig gemacht.
„Ich verhungere gleich!“, maulte Lucy, bevor Kassia etwas sagen konnte.
„Da liegen Beeren“, brummte Thanatos und wies auf eine flache Erdkuhle. Lucy stürzte sich hungrig darauf und aß die Beeren direkt vom Boden. Kassia betrachtete die unterschiedlichen Farben: „Und die sind sicher nicht giftig?“
Thanatos zuckte mit den Schultern: „Ich lebe noch, also töten sie nicht direkt.“
„Die sch-schmecken interessa-aaaaahn-nt“, gähnte Lucy und starrte auf die schwarzen Beeren in ihrer Hand, von denen sie sich mehrere in den Mund gesteckt hatte: „Huh … ich fühle mich plötzlich so … mü-müüdäh!“
Das Mädchen kippte langsam zur Seite um und Kassia stützte sie, als Lucy den Kopf schüttelte und die Beeren fallen ließ.
Kassia erstarrte. Hatte sich das Mädchen vergiftet? Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte keine Erfahrung mit Erster Hilfe – vermutete sie – und auch keine Ahnung, wie sie das Kind dazu bringen sollte, die Beeren wieder auszuspucken.
Lucy sah eine Weile benommen da, auf Hände und Füße gestützt, dann blinzelte sie etwas weniger und sagte langsam: „Okay. Besser.“
„Besser?“, fragte Kassia verwirrt.
Lucy nickte: „Ja, bin schon wieder wach. Von den schwarzen Beeren sollten wir die Finger lassen. Ich hatte nur zwei und war schon total groovie.“
Das Mädchen nahm sich eine blaue Beere und stopfte sie sich in den Mund. Kassia fand, dass das durchaus leichtsinnig war.
Lucy wartete eine Weile ab: „Lecker.“
Kassia beschloss, für heute nichts mehr in Frage zu stellen, suchte sich ein paar blaue Beeren aus dem Haufen und begann, selbst zu essen.