Auch beim Abendessen erschien Mikail nicht. Kassia saß nah am Feuer. Die Nacht erschien ihr mit einem Mal viel dunkler und kälter. Die Arme um die Knie geschlungen starrte sie in die tanzenden Flammen.
Die Tür zu ihrem Lager war geschlossen. Obwohl es nur eine einfache Holztür war, die man nicht abschließen konnte, erschien sie Kassia wie eine große Kluft. Thanatos' wachsamer Blick lag über den Versammelten, und niemand könnte die Tür öffnen. Die Stimmung war gedrückt wie in einem Gefängnis.
Sie fragte sich, was Mikail verbrochen hatte. Oder arbeitete er nur an etwas und wollte nicht gestört werden? Er konnte so sehr in einer Arbeit versinken, dass er alles um sich herum vergaß. Warum benahm sich aber Thanatos dann so seltsam?
„Es wird eine warme Nacht“, stellte der Dunkelhäutige fest, als alle mit dem Essen fertig waren und nervös zwischen ihm und der Hütte hin und her blickten. Ihre Unschlüssigkeit, ob sie nun zu ihren Schlafplätzen gehen konnten, wurde damit gelöst. Sie sollten die Nacht draußen verbringen.
Spätestens jetzt erwachte Kassias Misstrauen. Da ging doch etwas vor.
„Thanatos? Was macht Mikail?“, fragte sie. Alle Augen richteten sich auf sie. „Geht es ihm gut?“
„Es geht ihm bestens“, knurrte Thanatos. „Er braucht nur etwas Zeit zum Nachdenken.“
Kassia hätte ihn am liebsten festgenagelt, bis er die Wahrheit preis gab, aber sie wagte es nicht. Als hätte seine Antwort sie beruhigt, nickte sie und machte noch einen unsicheren Scherz über Mikails Verträumtheit. Dabei waren es ihre Gedanken, die nicht um das Gesprächsthema kreisten. Wenig später breiteten sie einen Haufen Decken auf dem Boden aus und machten sich für die Nacht bereit.
Kassia legte sich auf den Rücken und starrte in den Sternenhimmel über ihr, bis sie von allen nur noch sanftes und nicht ganz so sanftes Schnarchen vernahm. Der Mond hing nah über den schweren Blättern der Mangroven.
Lautlos stand sie auf. Sie erkannte den dunklen Schemen der kleinen Hütte, umwoben von verschwommenen Schatten von Ästen und Gräsern. Das Mondlicht malte seltsamere Formen auf den Boden als die Sonne. Vorsichtig schlich Kassia zwischen den Schlafenden hindurch, ständig auf der Hut, weil sie wusste, dass sie die trügerischen Schlammlöcher nicht von festem Boden unterscheiden konnte. Oskar keckerte laut, als er sie sah.
„Sch!“, machte Kassia eilig. Tatsächlich schwieg der Saurier, aber sie verharrte regungslos. Hatte jemand sie gehört? War sie aufgeflogen?
Nichts rührte sich. Niemand sagte etwas. Das Schnarchen ging weiter wie zuvor.
Trotzdem fühlte Kassia sich beobachtet. Bestimmt war Thanatos aufgewacht und folgte ihr jetzt mit seinen dunklen Augen, schweigend in der Finsternis.
Es war sowieso zu spät, um aufzuhören. Also überwand sie die letzten Schritte bis zur Hütte und ging dann an der Wand entlang. Äste griffen nach ihren Haaren, als sie um das Gebäude herum ging. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie ging weiter. Im Gebüsch raschelte es verdächtig. Unsichtbare Wesen flohen vor ihr. Kassia kniff die Augen zusammen und hoffte, dass nichts dort lauerte, das sie gerne fressen würde.
Am hinteren Teil der Hütte ging sie in die Hocke und klopfte gegen das Holz. Hier traute sie sich, etwas lauter zu sein.
„Mikail?“
„Kassia!“ Sie war erstaunt, wie schnell er antwortete.
„Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie leise, das Gesicht nah am Holz. Sie machte sich solche Sorgen, aber plötzlich kam sie sich albern vor. Was, wenn er wirklich nur Zeit zum Nachdenken gebraucht hatte?
Mikail brauchte eine Weile, ehe er antwortete. „Ich bin nicht verletzt, falls du das meinst.“
Kassias Herz schlug wieder schneller. So, wie Mikail das sagte, schien das durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen.
„Was ist passiert?“, fragte sie ängstlich.
„Als Nokori und Ashley zurück kamen“, erklärte Mikail leise, „haben sie ein Gewehr mitgebracht.“
„Ein Gewehr?“, wiederholte Kassia, dann verstand sie.
„Deswegen mussten wir Stahl suchen! Thanatos will, dass du eines nachbaust!“
„Nicht nur eines“, sagte Mikail leise. „Er will uns alle bewaffnen.“
Kassia zögerte einen Moment. Sie war bei der Jagd heute nicht dabei gewesen, hatte aber Henrys Geschichte gehört und natürlich das riesige Krokodil gesehen, das jetzt außerhalb ihres Lagers wartete. Wenn diese Welt noch mehr solcher Tiere zu bieten hatte, wäre es vielleicht ganz praktisch, Schusswaffen statt Speeren zu besitzen.
Aber Thanatos würde sie auch in einen Krieg gegen die fremde Gruppe der Menschen schicken, dieses Drachenblut. Und Kassia wollte auf keinen Fall gegen Menschen kämpfen.
„Was tust du jetzt?“, fragte sie leise.
„Ich habe die Waffe auseinander genommen und so getan, als würde ich sie studieren“, meinte Mikail. „Ich weiß, wie sie funktioniert, aber ich kann Thanatos ein paar Tage lang noch vorspielen, ich wüsste es nicht. Danach … werde ich Metall bearbeiten müssen und die Waffen bauen.“
„Das wirst du nicht!“, flüsterte Kassia und legte die Hand an das Holz. Sie wünschte sich, sie könnte die Bretter durchschlagen und Mikail befreien. „Ich hole dich da raus, okay?“
Mikail antwortete nicht. Kassia merkte, dass er ihr nicht glaubte – er glaubte sehr wohl, dass sie ihn befreien wollte, aber er glaubte nicht, dass sie es auch könnte.
„Mikail, versprich mir, dass du nicht aufgibst!“, flüsterte sie angespannt. „Versprich mir, dass du die Waffe nicht baust. Und ich verspreche dir, dass ich dich da raus hole, wie auch immer ich das tun werde.“
Einen Moment blitze ein Bild vor ihrem Auge auf, sie, wie sie auf dem Rücken von Diana durch das Lager ritt, die Hütte in Holzsplitter verwandeln ließ und gemeinsam mit Mikail floh. Eine lächerliche Vorstellung. Es wäre wahrscheinlicher, dass das Dreihorn Mikail tötete, statt ihn zu retten.
„Gut. Abgemacht“, sagte Mikail leise. Kassia verdrängte die Zweifel. „Ich brauche nicht lange.“
Sie schlich zurück zu der Stelle, wo die anderen schliefen. Es schien tatsächlich so, als würden alle, Thanatos eingenommen, schlafen. Kassia legte sich auf ihren Platz zurück. Ihre Finger waren kalt.
Was, wenn Thanatos sie doch belauscht hatte? Würde sie überhaupt den nächsten Tag erleben? Und wie sollte sie Mikail befreien? Sie würde vermutlich Hilfe brauchen, aber wem konnte sie uneingeschränkt vertrauen?
Von Sorgen geplagt schlief sie nicht ein, bis die Sonne sich am nächsten Tag erhob. Immerhin lebte sie noch.