»Nicht mit dir aber auch nicht ohne dich.« ~ Nokori
Die erste Nacht an diesem fremden Ort war durchbrochen von rätselhaften Geräuschen. In der Ferne brüllten unsichtbare Wesen, vielleicht im Schlaf, vielleicht im Todeskampf. Selbst das Rascheln der Bäume klang fremdartig.
Weder Kassia noch Lucy konnten viel Schlaf finden. Thanatos dagegen – der die provisorische Hütte beansprucht hatte – schnarchte unbekümmert.
„Hast du irgendeine Erinnerung an Früher?“, fragte Kassia im Flüsterton, die Lucys Augen im Sternenlicht glitzern sah.
Das Mädchen tat, als hätte es sie nicht gehört. Kassia seufzte und wälzte sich auf die andere Seite. Sie hatte Heimweh, obwohl sie sich an Nichts erinnerte, das sie vermissen könnte.
Währenddessen, an einem anderen Ort, stolperte eine neue Gestalt aus einem Dickicht. Die schlanke Frau strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, deren helles, rosa Leuchten sie im Moment nur irritierte. Ihre Haare waren eigentlich haselnussbraun, aber genau diese Strähne, die ihr ständig über die Stirn hüpfte, musste bunt eingefärbt sein.
Sie schlang die Arme fröstelnd um ihren Oberkörper. Sie trug nur einen BH und eine Unterhose aus weißem Stoff. Wo ihre andere Kleidung war – und ob sie überhaupt andere Kleidung hatte – wusste sie nicht.
Die Nacht war kalt und zusätzlich konnte sie kaum die Hand vor Augen sehen. Seit einem Tag wanderte Nokori nun schon verloren über die Insel, und hatte bisher nicht viel mehr gesehen als ein paar merkwürdige Wesen.
Einige dieser Wesen waren direkt auf sie zugelaufen, und da hatte Nokori die Flucht ergriffen. Seitdem hatte sie sie Verfolger zwar abgeschüttelt, aber immer noch keine Ahnung davon, wo sie war.
So in Gedanken versunken merkte sie sich, dass sieh einem Wesen näherte. Erst, als sie das Schnaufen hörte, richtete sie ihren Blick wieder nach vorne und bremste ab.
Vor ihr ragte ein Berg in die Höhe, ein Berg, der sich jedoch bewegte, und auf dessen Kamm mehrere Stacheln zu sein schienen.
Nokori schnappte erschrocken nach Luft und stolperte rückwärts. Der Berg drehte sich. In dem schwachen Licht der Sterne erkannte sie schließlich einen kleinen Kopf recht weit unten an dem massigen Körper, von wo sie aus zwei Augen böse angesehen wurde.
Nokori riss ihre Augen weit auf und taumelte nach hinten, so flach atmend, dass ihr fast schwindelig wurde.
Doch das Wesen vor ihr hob einen kräftigen, stachelbewehrten Schwanz und drohte ihr damit. Bevor Nokori sich umdrehen und fliehen konnte, peitschte der Schweif schon durch die Luft. Im nächsten Moment spürte sie einen stechenden Schmerz seitlich im Bauch. Dann folgte das furchterregende Gefühl eines kalten Fremdkörpers in ihrem Körper. Als der Angreifer seinen Schwanz zurück zog, stürzte Nokori mit einem Keuchen auf die Knie und presste ihre Hände gegen die blutende Wunde, die durch den Ruck aufgerissen war.
Das Tier schnaubte, was sie durch das Rauschen in ihren Ohren kaum hören konnte. Dann stieg ein Schrei in ihrer Kehle auf, voller Angst und Schmerz und Unglaube. Ihre Stimme erschreckte ihren Gegner, der unwillig den Kopf schüttelte und dann mit langsamen Sprüngen fort lief, nicht unbedingt so, als fürchte er sich vor ihr, aber so, als würde er ihre Nähe lieber verlassen.
Erst langsam, während sie im Dreck kniete und ihr Blut über ihre Beine laufen spürte, ahnte Nokori, was die Flucht des Wesens wirklich veranlasst haben könnte. Ihr Schrei hatte vielleicht irgendwelche Raubtiere angelockt, die sie nun umkreisten, unsichtbar in der Nacht, aber allgegenwärtig. Sie zitterte noch stärker und fühlte sich so hilflos wie nie zuvor.
Sie hörte bereits, wie Äste brachen. Schritte näherten sich, die nach einem großen Raubtier klangen. Verzweifelt kauerte sie sich zusammen, aber sie biss sich auf die Lippen. Sie würde keine Angst zeigten! Auch, wenn die Sterne vor ihren Augen bereits zu tanzen begann. Mit einer Hand tastete sie nach einer Waffe auf dem kühlen Boden.
Noch bevor ihre Finger auf etwas stoßen konnte, merkte sie, dass sie sich zu weit vor gelehnt hatte und ihr Gleichgewicht verlor. Sie war zu geschwächt, um sich zu fangen. Derweil krachten die Schritte schon vor ihr. Sie schloss die Augen und wartete auf den Aufprall, unsicher, ob sie den Boden erreichen würde, bevor ihr neuer Gegner gegen sie prallte.
Zu allem Überfluss wurde ihr Schwarz vor Augen. Pechschwarz. Sie kippte, doch statt Boden oder Zähnen spürte sie als allerletztes, wie sich Arme um ihre Schultern schlossen.
Der Schmerz kam zuerst. Dann, als sich nur noch jeder zweite Atemzug anfühlte, als würde sie gleich sterben, konnte sie langsam die Augen öffnen.
Zwei Gesichter beugten sich über sie. Eines gehörte einer jungen Frau mit langen, roten Locken. Das zweite einem dürren Mädchen mit kinnlangen, schwarzen Haaren.
Nokori versuchte ein „Hallo“ hervor zu bringen, konnte aber nur stöhnen, als eine neuerliche Schmerzwelle sie überrannte.
„Sie ist wach!“, rief die Frau und legte eine Hand an Nokoris Gesicht: „Hey! Kannst du mich hören?“
Nokori hatte Kopfschmerzen. Knurrend schlug sie die Hand an ihrem Gesicht zur Seite.
„Jap. Der geht es bestens“, sagte das Mädchen und stand auf.
Hinter ihr kam jemand anderes in Nokoris Gesichtsfeld, der sich hinter dem Mädchen genähert hatte. Ein breitschultriger Mann mit dunkler Haut und einer breiten Narbe quer über das Gesicht.
„Schön“, knurrte er und klang, als würde er das überhaupt nicht so sehen. Er warf einen Blick auf Nokori, dann fragte er die rothaarige Frau: „Kann sie laufen?“
„Ihre Wunde muss heilen“, erklärte die Rothaarige.
„Wie lange?“, fragte der Mann.
„Ein oder zwei Tage, glaube ich. Ich kenne mich mit Wunden nicht aus, und auch nicht mit diesem Ort!“
„Gut. Das hier ist nicht gerade der beste Ort, um eine Verletzte zu haben“, der Mann wandte sich zum Gehen.
Das Mädchen sah ihm mit verschränkten Armen hinterher: „Du hast sie angeschleppt!“
Der Mann fletschte die Zähne in einer Drohgebärde, die kein bisschen zivilisiert wirkte und Nokori überlegen ließ, in welcher Zeit sie sich eigentlich befand.
„Wenn wir angegriffen werden, werde ich jedenfalls mein Leben nicht für sie auf's Spiel setzen!“
Damit verließ der Mann Nokoris Gesichtsfeld und sie schloss erschöpft die Augen, als sie merkte, wie müde sie war.
„Dieser Thanatos ist doch echt mal ein freundlicher Geselle!“, hörte sie die Stimme der Frau noch, bevor eine sanfte Ohnmacht nach ihr griff.
Kaltes Wasser riss Nokori erneut aus dem Schlaf, dazu der Ruf: „Aufwachen!“
Blinzelnd und hustend spuckte Nokori Wasser aus. Die Bewegungen sandten Stiche durch ihren Körper, aber sie merkte erstaunt, dass sie tief einatmen konnte, ohne sich zerrissen zu fühlen. Müsste sie nicht eigentlich tot sein?
Das Mädchen stand über sie gebeugt, die Hände tropften noch vom klaren Wasser.
„Was?“, fragte Nokori langsam. Ihre Zunge fühlte sich irgendwie schwer an.
„Kassia hat dir ein paar Beeren gepflückt“, erklärte das Mädchen und deutete neben Nokori in den Sand. Langsam wandte sie den Kopf dorthin, wo tatsächlich ein bunter Haufen lag.
„Außerdem hast du lange genug geschlafen, und ich wollte schon immer mal jemanden so wecken!“
Nokori stöhnte: „Danke sehr.“
Das Mädchen grinste ihr breit zu: „Bitte. Ich heiße übrigens Lucy, die rothaarige Hexe ist Kassia, und der Knuddelbär, wenn er sich denn mal wieder zeigen würde, heißt Thanatos.“
„Ich bin … Nokori“, murmelte Nokori schwach und kämpfte darum, sich auf die Ellbogen zu stützen. Es tat weh, aber es gelang ihr. So konnte sie jetzt über einen kleinen Sandstreifen blicken, am Rand eines lichten Urwaldes, und einem glitzernden, breiten Fluss. Nicht weit entfernt saß die blasse Frau, ihre roten Haare zu einem hüftlangen Zopf zusammengebunden. Sie lächelte Nokori freundlich zu, war aber damit beschäftigt, einen Haufen Beeren zu sortieren. Nokori rieb sich die Stirn: „Wo – wo sind wir?“
Lucy sah sich um: „Am Strand, würd ich mal sagen. Hier. Keine Ahnung, was und wo `Hier´ ist, aber wir sind dort.“
Nokori überlegte einen Moment, ob sie tapfer bleiben sollte, dann gab sie der Müdigkeit und Erschöpfung nach und ließ sich rückwärts in den Sand fallen.
Sie war also an irgendeinem rätselhaften Ort voller rätselhafter Tiere – und ihre eigene Identität war ihr genauso sehr ein Rätsel. Sie hasste es jetzt schon.