»They follow each other on the wind, ya' know. 'Cause they got nowhere to go.« ~ Man in the Mirror, Michael Jackson
Mikail hockte am Rand der Klippe und spähte besorgt ins Tal hinunter. Er machte sich Sorgen um Ashley. Seit sie am Vortag aufgebrochen war, hatte er nichts mehr von ihr gehört, und jetzt war bald Mittag. Er fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, das Mädchen alleine loszuschicken. Immerhin wussten sie kaum, was da unten alles lebte.
Mikail hatte den letzten Tag genutzt, um mehrere gerade Stöcke mit Pflanzenfasern zu einem Zaun umzubilden und damit den kleinen Platz zu sichern. Es war kein sonderlich stabiles Bauwerk, das wusste er selbst. Aber es half, um das Gefühl der Unsicherheit zu vertreiben, das in dieser Höhe zwangsweise auftrat, und ebenso hatte es ihn den letzten Tag von den Sorgen abgelenkt.
Jetzt richtete er sich auf, als er eine Bewegung auf der Wiese bemerkte. Aus dem kleinen Wald mit den geduckt wirkenden Bäumen tauchten mehrere kleine Gestalten auf. Mikail sah genauer hin und konnte bald ei Umrisse von fünf Menschen ausmachen, die sich über die Wiese arbeiteten und dann anfingen, den Berg hinauf zu klettern. Mikail kam ihnen ein Stück entgegen und war so erleichtert, Ashley zu sehen, dass er das überraschte Mädchen in eine kurze Umarmung zog.
„Das ist Mikail“, stelle sie ihn den anderen ein wenig perplex vor.
Die anderen vier bestanden aus einem dunkelhäutigen, groß gewachsenen Mann mit unzähligen Narben auf dem muskulösen Körper, zwei Frauen, die eine mit einer schlecht verheilten Wunde am Bauch, die andere mit unglaublich langen Haaren, und einem jungen Mädchen mit kurzen, schwarzen Haaren.
Mikail lächelte sie an und reichte ihnen nacheinander die Hand. Die langhaarige Frau, die sich als Kassia vorstelle, ergriff seine Hand ohne zu zögern und lächelte höflich. Die blasse Frau mit der Wunde hatte einen kräftigen Griff und sagte stolz: „Nokori.“
Der Mädchen war Lucy und bestand darauf, mit der Faust gegen seine Faust zu boxen, statt die Hände „langweilig“ zu schütteln. Der Mann schließlich knurrte bloß, er hieße Thanatos und ignorierte Mikails Hand völlig.
„Ähm, kommt doch hoch“, meinte Mikail und machte nervös den Weg frei.
„Es ist nicht viel“, erklärte er, während die Neuen sich auf der Klippe umsahen, „aber der Platz hat viel Potenzial. Man könnte dort eine Wand hinziehen, hier eine Plattform anbringen, da den Zaun verstärken, hier eine Treppe bilden. Wenn wir noch dort in den Fels hauen könnten, wäre das hier sozusagen -“ Er brach ab. Mal wieder war sein Geist mit ihm durchgegangen.
„Das würde alles viel Holz kosten“, endete er lahm.
Stille schloss sich an. Mikail sah das Gebäude förmlich vor sich, aber den anderen schien das noch nicht so klar zu sein. Außerdem kannte er die Fremden nicht, rief er sich in Erinnerung.
Thanatos brummte schließlich: „Die Lage ist gut.“
Mikail nickte: „Man könnte es perfekt machen!“
Er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht schon wieder loszulegen.
„Kannst du das alles bauen?“, fragte Thanatos: „Wände und Häuser und alles?“
Mikail nickte: „Ich bin mir ziemlich sicher. Ich müsste das mit der Verteilung des Gewichtes nochmal überprüfen, aber -“
„Ich glaube, er kriegt das wirklich hin“, meinte Ashley und Mikail war ihr dankbar für die Unterstützung.
„Können wir denn hier bleiben?“, fragte Kassia hoffnungsvoll.
„Natürlich!“, sagte Mikail sofort: „Wenn ihr sonst nichts habt.“
Kassia zuckte mit den Schultern: „Wir haben ein Versteck am Fluss mit ein wenig Holz. Mehr nicht.“
Mikail breitete die Arme aus: „Dann seid herzlich willkommen!“
Die andere Gruppe gewöhnte sich langsam ein. Sie verbrachten den Nachmittag damit, das Lager und die nähere Umgebung zu erkunden, sowie die Expedition am nächsten Tag zu planen, bei der sie das Holz von ihrem alten Lager holen wollten. Mikail verfolgte die Diskussion fasziniert. Kassia meldete sich sofort freiwillig, um das Holz zu schleppen. Nokori wollte sie begleiten, aber Thanatos war strikt dagegen, da die Frau noch zu verletzt sei. Er wollte selbst gehen und Lucy mitnehmen, Lucy dagegen hatte keine Lust. Am Ende musste Thanatos mürrisch nachgeben, aber er warnte Nokori, dass er sie nicht erneut retten würde.
„Wir müssen Foxy und Henry suchen“, sagte Kassia, nachdem die Debatte abgeschlossen war.
„Wer ist das?“, fragte Mikail.
„Naja, sie gehören zu unserer Gruppe.“
„Warum sollten wir irgendwas für den doofen Dicken riskieren?“, fragte Lucy ungehalten.
Thanatos nickte: „Wir kennen sie kaum.“
Kassia sah sprachlos von Einem zum Anderen: „Wir können sie doch nicht im Stich lassen!“
„Wie wurdet ihr getrennt?“, fragte Mikail neugierig.
„Ziemlich große Monster-Dinos“, sagte Lucy.
Ashley kam vorsichtig ein Stück näher. Sie hockte eher am Rand des kleinen Kreises, den sie gebildet hatten: „Wie sahen sie aus?“
„Ähm – groß“, meinte Lucy.
„Lange Schnauze, Rückensegel, kräftige Hinterbeine, schwächere Vorderarme mit drei Krallen, sowohl bipede als auch quadropede“, erklärte Thanatos.
Zu Mikails Erstaunen verstand Ashley das Kauderwelsch und meinte: „Vielleicht Spinosaurier. Sie sollen sich eigentlich von Fisch ernähren.“
„Woher weißt du das?“, fragten Mikail, Kassia und Lucy gleichzeitig in unterschiedlichen Tonfällen. Ashley zuckte ein wenig zurück und murmelte leise: „Ich – ich weiß nicht.“
Nokori legte dagegen den Kopf schief: „Kann es sein, dass wir noch ein wenig Erinnerungen haben? Also, so ganz schwach?“
„Erinnerungen woran?“, fragte Thanatos in einem spöttischen Tonfall.
„An – keine Ahnung – unsere Vergangenheit? Ein früheres Leben? Irgendwoher muss – äh, wie war dein Name nochmal? Ich hab dich eben nicht verstanden.“
„Ashley“, sagte Ashley.
„Genau. Danke. Irgendwoher muss Ashley das ja wissen.“
Mikail überlegte. Er hatte selbst das Gefühl, sich an irgendwas zu erinnern, größtenteils daran, dass er Zeichnungen von dem geplanten Bauwerk machen sollte. So, wie die anderen abwesend in die Luft starrten, schien es ihnen ähnlich zu gehen.
„Soll heißen, wir haben nicht immer hier gelebt? Sondern nur vergessen, wo wir herkommen?“, fragte Lucy in die Runde.
„Wir sind doch hoffentlich nicht entführt!“, entfuhr es Kassia.
„Oder wir haben etwas Schlimmes gemacht, und das ist die Strafe!“, meinte Ashley leise.
„Das ist doch alles Quatsch!“, brummte Thanatos und stand auf, „Vorherige Leben, so ein Humbug!“
„Kannst du uns das Gegenteil beweisen?“, fragte Mikail spitz.
„Nein“, knurrte Thanatos: „Aber ich kann euch darauf aufmerksam machen, dass es keine Rolle spielt. Wir sind hier. Egal, wieso wir hier gelandet sind. Spekulationen helfen uns nicht dabei, zu überleben. Und das ist es, was wir tun müssen.“
Die Gruppe schwieg.